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Kulturelle Fremdheit

Im Dokument Der östliche Westen (Seite 84-97)

Eine Soziologie der Wahrnehmung

2. Reisen nach Europa: sozialpolitische Lage des frühen 19

2.1. Das Buch über Erstaunlichkeiten für Gesandte (1809/1224- (1809/1224-1811/1225) 36

2.1.2. Die Analyse

2.1.2.1 Kulturelle Fremdheit

Die Konstruktion kultureller Fremdheit wird durch eine kulturelle Grenzlinie markiert und hervorgehoben. Bei dieser Fremdheitserfahrung handelt es sich um die Dimension des Wissens. Kulturelle Grenzen machen die Sphäre des Neuen, Unbekannten, ebenso des Unzulänglichen und des Unverständlichen kenntlich. Die Beziehung zur kulturellen Fremdheit ist relational und unterscheidet sich nach Stufen und Stärken. „Der Grad der Fremdheit nimmt in dem Maße zu, in dem grundlegende, axiomatische Elemente der Wirklichkeitsordnung durch das nichtzugehörige Wissen irritiert werden.“ (Stenger 1997:

170).

Der Grad der Fremdheit, durch den eine Erfahrung der Unvertrautheit bestimmt ist, kann durch das folgende Spektrum veranschaulicht werden. Das Spektrum beginnt auf der einen Seite bei Situationen, die durch Lernen oder Erklären normalisiert sind bzw. in den vorhandenen Wissensbestand eingegliedert werden. Auf der anderen Seite stehen Fremdheitserfahrungen, die mit einer „nachhaltigen Erschütterung grundlegender Überzeugungen“ (ebd., 171) einhergehen und mit ihrer Nachhaltigkeit das Fremde in der Lebenswelt auf Dauer darstellen. Im Anschluss werden Konstruktionen unterschiedlicher Formen kultureller Fremdheit in Abo-l-Ḥasan Ḫāns Reisebericht näher in Betracht gezogen.

A. Kompatible Unvertrautheit

In Abo-l-Ḥasan Ḫān Īlčīs Reisebericht nach London herrschen sowohl die Faszination als auch die Verwunderung über Unvertrautes und Nichtzugehöriges als gängiges Motiv vor.

Abo-l-Ḥasan Ḫān, als der öffentliche Gesandte Irans, hatte die Aufgabe, die „Essenz“

beziehungsweise das Wesentliche über die Ursachen des Fortschritts Europas ausfindig zu machen. Als Agent wird er aufgefordert, gründlich zu beobachten, zu berichten und schnellstens wieder zurückzukommen, denn alles ist eine Frage der Zeit. Je schneller das

persischen Ausgabe, die zum Teil zur Erläuterung ergänzt worden sind, sind eigene Übersetzungen aus dem Original: „Ḥeyratnāmeh-ye Sofarāʾ“, die mit der Bezeichnung „Persische Ausgabe“ gekennzeichnet sind.

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‚Geheimnis‘ gelüftet ist, desto zügiger können die Erkenntnisse angewendet werden, um den Iran mächtiger und evtl. sogar fortschrittlicher als Europa werden zu lassen.42

Zu diesem Zeitpunkt glaubte der Iran nämlich, dass es noch nicht zu spät sei beziehungsweise, dass es noch im Rahmen der Wahrscheinlichkeiten möglich sei, seinen

„Rückstand“ aufzuholen. An eine unaufhebbare Zurückgebliebenheit glaubte keiner. Alles sollte nur haargenau übernommen, angepasst und angeeignet werden:

“In my opinion … if the people of Iran were to have the opportunity to emulate the ways of the English people, they would prosper in all the affairs of their lives“. (Šīrāzī, Abo-l-Ḥasan Ḫān zitiert in Ghanoonparvar 1993: 21).

Abo-l-Ḥasan Ḫāns Programm verlief jedoch nicht nach Plan. Er kam nicht so schnell wieder zurück. Bis er endlich dem britischen König persönlich vorgestellt wurde, vergingen viele Monate. In der Zwischenzeit, trotz seiner Teilnahme an unzähligen Theater-, Oper-, Fest-, Ballbesuchen und Empfängen, fühlte er sich verpflichtet, vieles nachzuholen. In einem Gespräch mit dem britischen Außenminister zeigte sich der iranische Gesandte äußerst zurückhaltend gegenüber den „Ablenkungen“ Englands, bis ihm letztendlich die Möglichkeit gegeben wurde, den Minister persönlich zu treffen:

“It is true that if I were a lustful and pleasure-seeking man I would not wish to leave this city of beautiful buildings and beautiful women – this earthly paradise. But Sir Geore Ouseley and other noble friends will testify that, although Mr. Morier has tried his utmost to persuade me to go out to parties with him, I have not accepted. Others have asked me to go out to the theater; but I have refused to go until I had the opportunity – today in private – to explain my wishes to you personally.” (S. 70).

Zwar ist er in dieser Stadt, diesem Himmel auf Erden, eingetroffen, allerdings ist er kein vergnügungssüchtiger Mann, der sich ständig zu Ball- und Theaterbesuchen überreden lässt.

Mit dieser Äußerung stellt der Gesandte gleichzeitig zweierlei fest: Zum einen positioniert er sich als Repräsentant Irans und verkündet seine nationalen Pflichten als iranischer Gesandter, sich nur auf die Interessen des eigenen Landes zu fokussieren, zum anderen zeigt er, dass Theater- und Ballbesuche zwar sehr attraktiv und verlockend sind, da es in London „beautiful buildings“ und „beautiful women“ (ebd.) gibt, ihm diese jedoch als entbehrlich und unwesentlich erscheinen. Es gibt bedeutungsvollere und vor allem für sein Land wesentlichere Aufgaben, mit denen er beauftragt ist. Was empfindet er denn nun als

42 In einer seiner Aufzeichnungen über die Lage der Landwirtschaft und den Anbau in England und dem Iran bestätigt der Verfasser diese Auffassung: „Würden die iranischen Bauer nur ein Viertel der Mühen der englischen Bauern in ihrer Arbeit anwenden, würde der iranische Obstanbau dem Garten Eden ähneln. Wir würden nicht nur besser als England sein, auch die anderen Länder würden merken, welche Qualitäten der liebe Gott unserem Land gegeben hat.” (S. 305 f., persische Ausgabe).

85 unentbehrlich und relevant und zudem kompatibel mit den Gegebenheiten seiner Herkunftsgesellschaft?

In Abul Hassans Reisebericht existieren außer vielen enzyklopädischen Eintragungen über England, seine Kolonien und seine Herrschaftsart, die er ausdrücklich zur Information seiner Adressaten im Iran verschriftlicht (vgl. S. 63), auch detaillierte Beschreibungen über politische Institutionen wie das Parlament (vgl. S. 167, persische Ausgabe), das House of Commons und das House of Lords, die erstmalig in einem persischen Reisebericht aus dem 19. Jahrhundert thematisiert worden sind.

Neben den modernen Erscheinungen, die ihm kulturell unvertraut, aber dennoch kompatibel erscheinen, wie z. B. der Telegraph (vgl. S. 24), der Geldschein, das Bankinstitut, das er mit all seinen Mitarbeitern und Einrichtungen eindrucksvoller als den Hof eines mächtigen Sultans beschreibt (vgl. S. 84), haben seines Erachtens bestimmte Handlungsmuster, kulturelle Sinnelemente und soziale Praktiken großen Wert, um in die eigene Ordnung übernommen zu werden. Im Anschluss werden die bedeutendsten Momente der Differenzwahrnehmung im Rahmen kulturell kompatibler Unvertrautheit bearbeitet.

i. Die Bescheidenheit der Adligen

Abul Hassans häufigste Verwunderung findet sich über die Bescheidenheit und Demut, die seiner Auffassung nach hochrangige Personen am britischen Hofe charakterisiert. Aus seiner Sicht verfügen der König, der Prinz und generell der englische Adel über diese Eigenschaften in solchem Ausmaß, dass er sich aufgefordert fühlt, einige Male ausführlich über sein Erstaunen zu berichten:

“We entered a small gilded room where the King was standing alone. I did not recognize him, and Sir Gore Ouseley said: ‘My dear friend, this is the King.’” (S. 60).

Im Originaltext berichtet der Autor, weshalb er den König nicht erkannt hat. Er trug einfache und schlichte Kleidung und stand allein in einem kleinen, wenn auch vergoldeten Raum. Im Hinblick auf das aufwändige und pompöse Auftreten des iranischen Schahs zieht er eindeutige Grenzen zwischen Iran und England und betont die Differenzen. Er bewundert die Schlichtheit und Unmittelbarkeit des Königs, damit bekennt er sich implizit zur Kompatibilität und Aneignungswürdigkeit dieser Haltung für sein eigenes Land. Dies merkt man vor allem, wenn man weitere Abschnitte im Text mit einbezieht, die sich mit der gleichen Thematik auseinandersetzen:

“I was viewing the parade with some astonishment and Sir Gore Ouseley asked me about the reason. When I said I was amazed to see the Duke of Cambridge removing his hat, he told me that in this country even a prince must salute his Commander-in-Chief.” (S. 203).

86 Im vorangegangenen Zitat wird die Fremdheitssphäre durch Aussagen wie “with some astonishment” und “I was amazed” markiert. Die kulturell unvertraute Lage wird durch die Erläuterung von Abul Hassans Begleiter für ihn verständlicher. Die Grenzen werden durchlässiger wahrgenommen und es erscheinen Bezüge zur eigenen Ordnung möglich. Der Verfasser ist verwundert darüber, dass der Duke vor dem Oberbefehlshaber seinen Hut abnimmt; doch als der Grund beschrieben wird und die Situation an Unvertrautheit verloren hat, erkennen wir, dass das Erstaunen einer positiven Verwunderung gewichen ist. Die Tatsache, dass sogar der Prinz seinem Oberbefehlshaber salutieren muss, gilt für ihn, als Befürworter solcherlei Haltungen und Gesten, als ein Verhalten, das zur eigenen Ordnung passt; einer Ordnung, in der es als unvertraut empfunden wird, wenn Persönlichkeiten mit höherem sozialen Status Unterlegene berücksichtigen oder sogar als gleichwertig behandeln.

ii. Iran könnte daraus seine Lehren ziehen

Im Folgenden wird eine Situation beschrieben, in der der öffentliche Verkehr durch die Vielzahl der Transportmittel (Kutschen) aufgehalten worden ist. Hierbei ist das Neue bzw.

Unvertraute für den Autor das Verhalten der Menschenmenge in solch einer Situation:

Obwohl jeder ungeduldig geworden ist, drängelt sich niemand vor und es wird der Reihe nach vorangegangen:

“The street was blocked with such a multitude of carriages, large and small, that none could move forward, even though the road was closed to ordinary traffic. Everyone was impatient, but it is the rule that one should not overtake someone of higher rank: everyone knows his own place and respects the rank of others. The world would do well to emulate such politeness.” (S. 137).

Die kulturelle Grenze wird in diesem Fall durch die folgende Aussage deutlich, in der das Neue und Unvertraute zum Ausdruck kommt: “Everyone was impatient, but it is the rule that one should not overtake someone of higher rank […]“. (ebd.). Die Grenzsphäre wird erst dann zur Fremdheitssphäre, als die Aufnahme dieses Verhaltensmusters in die eigene Wirklichkeitsordnung durchgespielt wird: “The world would do well to emulate such politeness.” (ebd.). Zudem offenbart der letzte Satz die hohe Durchlässigkeit und Überschreitbarkeit der aufgezeigten Grenzen. Mit anderen Worten, die Selbstverständlichkeiten, Regeln und Muster der anderen in ihrer Alltagswelt mögen vielleicht zunächst als unvertraut erscheinen, können jedoch durch Aneignungsprozesse in die eigene Ordnung integriert werden und erreichen im besten Fall auch dort eine selbstverständliche Gültigkeit. Demnach konkretisiert sich die kompatible Unvertrautheit in diesem Fall darin, dass die erfahrene Fremdheit in einer Wunschäußerung als potentiell

87 Eigenes wahrgenommen wird und trotz der Zuordnung des Fremden zum Außen sich die jeweiligen Grenzen gegenüber Aneignungsversuchen als flexibel erweisen werden.

In einer anderen fremden Situation umreißt der Autor durch die Thematisierung der Erfahrung mangelnder Vertrautheit die Grenzsphäre. Seiner Meinung nach ist die Lage zwar unvertraut (daher auch die detaillierte Beschreibung und die Begeisterung), sie könnte jedoch in einem Lernprozess beherrscht und bewältigt werden. Das Fremde sollte zum Eigenen kompatibel gemacht werden, damit sollte sich dann auch die eigene Gruppe (das eigene Land) – wie England – sich entwickeln können:

“One of them held a book from which he read the names of those who had invented or developed something useful during the past year; they were presented with a prize of money and a gold medal inscribed with the King’s name.” (S. 257)

Fortsetzung aus der persischen Ausgabe:

„So gesehen, warum sollte dies auch nicht zu neuen Ideenentwicklungen beitragen? In einem Land, in dem man wegen seiner Ideen geehrt und belohnt wird, wird dies auch weitgehend gefördert.“ (S. 323, persische Ausgabe)

Bei obiger Erfahrung kultureller Grenzen wird die Widerständigkeit des Fremden nicht ohne Einschränkung markiert. Es werden Bedingungen der Grenzüberwindung genannt (Belohnung und Ehrung aufgrund neuartiger Ideen), die eine Vereinnahmung des Fremden prinzipiell möglich machen. Der niedrige Widerstandsgrad der konstatierten Grenzen weist demnach auf die Erwartung der Abschließbarkeit der Aneignungsvorgänge hin. Der Zukunftsbezug deutet darauf hin, dass man zukünftig hinreichendes Wissen für die jeweiligen pragmatischen Zwecke erwerben kann. Insofern ist das kompatibel Unvertraute ein potentiell Eigenes, dem man mit einer Art „Aneignungskonjunktiv“ (Stenger 1998: 344) begegnet: Unvertrautheit könnte in Vertrautheit verwandelt werden, wenn man nur wollte.

iii. Protestantismus

Bei der Darstellung der Religionsangehörigkeit der Engländer differenziert der Autor zwischen “the faith of the English” und “the religion of other farangis”. Und weist im Anschluss darauf hin, dass die Glaubensrichtung der Engländer mit der der Iraner mehr Gemeinsamkeiten aufweist als die der anderen „farangis“. Durch die Abgrenzung, die er hinsichtlich des religiösen Aspekts zwischen England und den anderen europäischen Ländern konstruiert, schafft es Abul Hassan, die hervorgehobene Distanz zu Gunsten der eigenen symbolischen Nähe zu nutzen. Während England aufgrund des Protestantismus vom Rest

88 Europas zu differenzieren ist, hebt sich der Iran wegen seines Schiismus von anderen Ländern der Region ab.

“I gathered that the religion of other farangis differs from the faith of the English in much the same way as the Shias differ from the Sunnis – that is to say, both groups follow Jesus Christ [as both the Shia and Sunni sects follow the Prophet Mohammad] and both are strict in their observance of the day set aside for prayer. They both have separate monasteries for men and women. But [unlike] the other farangis [they] eat less [pork]

[siehe persische Ausgabe S. 181] meat [die meisten essen kein Schweinefleisch, außer die Ignoranten (persische Ausgabe S. 181)]; and the customs of their Church require them to have organ music and to hang pictures of Jesus and Mary all around the church.” (S.

119f.).

Interessant ist hierbei der Autors Herangehensweise an das Thema. Nicht nur wegen ihrer Unterschiede zu den Nachbarländern stehen sich Iran und England nahe. Abul Hassan setzt Protestantismus mit Schiismus gleich, indem er weitere Gemeinsamkeiten hervorhebt: Beide ertüchtigen sich in ihren täglichen Gebeten, beide haben separate Gebetsräume für Frauen und Männer und anders als die anderen „farangis“ weigern sich die meisten Engländer, Schweinefleisch zu konsumieren, außer die, die er als „ǧohhāl“ (S. 181, persische Ausgabe) (die Ignoranten) bezeichnet. Die Nähe der iranischen Sinnordnung zur englischen erreicht hiermit ihren Höhepunkt. Englische religiöse Sinnelemente werden hier als höchst kompatibel und die kulturellen Grenzen zu ihnen als höchst durchlässig dargestellt. Die Unvertrautheit zwischen der eigenen und der anderen Wirklichkeitsordnung wird auf das niedrigste Niveau heruntergebrochen und als unbedeutend bezeichnet.

iv. Prostitutionsverwaltung

Dem islamischen Gesetz nach müssen sowohl die Prostituierten als auch diejenigen, die von ihnen profitieren, entsprechend bestraft werden. Es gab jedoch immer wieder Zeiten, in denen dieses Thema und dieses Phänomen in der iranischen Gesellschaft an Aktualität verloren haben. Auch unter der Kadscharen-Dynastie waren bestimmte Orte wie Bordelle [fāḥešeh-ḫāneh], Karawansereien oder Tavernen Sphären, in denen Geschlechtsverkehr als Dienstleistung angeboten wurde und die speziell dafür bestimmt waren, um organisierte Prostitution zu betreiben. Eine allgemeinere Verbreitung organisierter Prostitution ist jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft (sogar in kleineren Städten) festzustellen (vgl. Floor 2008: 241). Allerdings war Anfang des Jahrhunderts ihre Ausbreitung eher verstreut, vereinzelt und unorganisiert.

89 In der Zeit von Abo-l-Ḥasan Ḫāns Europareise und während Fath-Ali Schahs Regierungszeit gab es einen bestimmten Stadtbezirk in Teheran speziell für Prostituierte (vgl. ebd., 235).

Jedoch versuchte die kadscharische Herrschaft immer wieder, gemäß den islamischen Gesetzen gegen Prostitution vorzugehen, wobei die Todesstrafe als Höchststrafe gegen die Prostituierten praktisch niemals durchgeführt wurde (vgl. ebd., 242). Sehr hohe Steuergelder und Geldstrafen waren eher üblich. Nach Willem Floors Beschreibungen wurden Prostituierte hin und wieder harten Strafmaßnahmen ausgesetzt, um auf diese Weise die Relevanz moralischer Angelegenheiten zu unterstreichen: “the authorities once in a while would show their concern for public morality and religion by suppressing prostitution and ancillary activities such as wine drinking” (ebd., 243).

In diesem Zusammenhang verweist Abo-l-Ḥasan Ḫān auf Lage der englischen Prostituierten im Sinne von Unbekanntheit und Neuheit, also auf einen kognitiv außerhalb des eigenen Wissensbestandes liegenden Status, da der Zustand und die Konditionen der Prostitution in England auf erhebliche Unterschiede mit der ihm vertrauten Lage der Prostitution im Iran hinweisen:

“Most prostitutes are beautiful and shy. Many of them are ashamed of their profession and if they truly repent, there is a large house, supported by the Government and public donations. It is called Magdalen House. […] While staying in the House, their expenses are paid and when it is certain they have reformed, they may be found employment as servants.” (S. 252).

Im vorangegangenen Paragraphen beschreibt er die Prostitutionsverwaltung in England. Die Rolle der Regierung und öffentlicher Stiftungen, die den Prostituierten helfen und ihnen eine Behausung oder auch eine andere Berufstätigkeit anbieten, ist für den Verfasser trotz Unvertrautheit ein potentiell Eigenes, das die Möglichkeit der Aneignung bietet. Im Gegensatz zur iranischen Regierung, die mit Bestrafungen die Prostitution bekämpft und damit nichts erreicht, ist die Idee der Förderung und Rehabilitation bekehrter Prostituierter besonders attraktiv und unterstützungswürdig. Daher kann in diesem Szenario die Aneignung des Unvertrauten eine besondere Qualität besitzen, indem es als Vertrautes verdichtet wird und zugunsten der gesellschaftlichen Entwicklung im Iran eingesetzt werden kann.

B. Ambivalente Unvertrautheit

Wenn das Fremde genau in der Mitte des Fremdheitsspektrums situiert ist, können wir von ambivalenter Unvertrautheit sprechen. Ambivalent ist eine Fremdheitsbeziehung insofern, als die Fremdheit weder der Kategorie kompatibler noch der inkommensurablen Unvertrautheit zugeordnet werden kann.

90 i. Die Tageszeitung

In dem Reisebericht Mirza Abul Hassans ist seine Beziehung zur Tageszeitung in die Kategorie ambivalenter Unvertrautheit einzuordnen. Über die gedruckten Nachrichten in der Zeitung wundert sich Mirza sehr. Er meint, dass die Engländer die Nachrichten, die die Franzosen betreffen, als Lügen bezeichnen, sich selbst jedoch ihrer eigenen Lügen nicht bewusst sind. Überhaupt ist seine Haltung zum Phänomen „Tageszeitung“ höchst ambivalent.

Auf der einen Seite fasziniert es ihn, dass jeden Tag neue Informationen und Nachrichten gedruckt, verteilt und verkauft werden. Auf der anderen Seite wiederum ist für ihn der Anteil an Unwahrheiten, die in den Zeitungen publiziert werden, viel zu hoch.

Aufgrund der verschiedenen Funktionen ist somit die Tageszeitung prinzipiell ein aneignungswürdiges Phänomen, das in die Sphäre der Vertrautheit einbezogen und inkorporiert werden kann. Andererseits ist sie am nächsten Tag wiederum nichts Weiteres als Toilettenpapier. In diesem Spannungsfeld wird Fremdheit zum einen als inkommensurabel und inkompatibel vorgestellt, zum anderen besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Grenze zum Fremden durchaus überschritten wird.

“Newspapers are sent to us on board. It seems that about 100.000 newspapers are printed and sold every day in England. How extraordinary, that today’s newspapers will have no value tomorrow – except as toilet paper! Every day a new paper is required. Through the newspapers, the people are able to learn events soon after they occur; and when husbands travel to Hind and Rum and Farang, their wives in England buy such newspapers and send them to their husbands, either directly or through their ambassadors.” (S. 25 f.).

Am Anfang des hier zitierten Abschnitts hinterlässt der Verfasser eine deskriptive Bemerkung. Er verweist auf die Anzahl der Zeitungen, die jeden Tag in England verkauft werden und dass auch an Bord des Schiffes (wo sie einige Tage unter Quarantäne gestellt worden sind, bevor sie den Boden Englands betreten durften) Zeitungen zugestellt wurden.

Diese deskriptive Bemerkung gilt zudem als eine Grenzziehung, denn mit der Darstellung Englands als ein Land, wo Zeitungen jeden Tag verteilt werden, wird eine Grenze zu anderen Ländern (inklusive seinem Herkunftsland) gezogen, wo dies nicht geschieht. Hier befinden wir uns noch auf der Ebene der Grenzsphäre, denn die Grenze zu etwas Unvertrautem ist zwar vorhanden (es wurde eine Differenz festgestellt), eine Bewertung wurde jedoch noch nicht abgegeben. Erst als der Ausdruck „extraordinary“ (außergewöhnlich) fällt, betreten wir die Fremdheitssphäre, denn nun fängt der Verfasser an, über dieses unvertraute Phänomen Bewertungen abzugeben. Die Bezeichnung der Zeitung als extraordinär ist besonders ambivalent. Die Ambiguität besteht in dem Sinn dieses Wortes verbirgt. Ist diese Außergewöhnlichkeit nun als positiv oder als negativ zu interpretieren? Im nächsten Satz

91 verweist der Gesandte auf die flüchtige Charakteristik der Zeitung, nämlich dass sie am nächsten Tag ihren Wert verliert und einer neuen Verwendung bedarf.

Am Ende des Paragraphen scheint es, als ob der Verfasser die Absicht verfolgt, seine Leser von der Außergewöhnlichkeit der Zeitung (diesmal im positiven Sinne) überzeugen zu wollen. Dass die Zeitung auch nützliche Eigenschaften besitzt, erläutert er, indem er am

Am Ende des Paragraphen scheint es, als ob der Verfasser die Absicht verfolgt, seine Leser von der Außergewöhnlichkeit der Zeitung (diesmal im positiven Sinne) überzeugen zu wollen. Dass die Zeitung auch nützliche Eigenschaften besitzt, erläutert er, indem er am

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