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Sinn und Bedeutung der Schachfiguren

Dem Referenzproblem liegt die These zugrunde, dass (beispielsweise) Schachfiguren für nichts stehen oder auf nichts Bezug nehmen. Diese These möchte ich auf den Prüfstand stellen. Warum eigentlich sollte man dem zustimmen? Welchen Status hat diese These überhaupt? Wie stellt man denn fest, dass Schachfiguren für nichts stehen? (Ich werde mich im Folgenden frei Freges Terminologie bedienen und von Sinn und Bedeutung der Schachfiguren sprechen. Damit will ich mich jedoch nicht auf irgendwelche Details der Auffassung Freges verpflichten.)

8.2.1 Argumente

Dafür dass Schachfiguren keine Bedeutung haben, spricht, dass ein Schachnovize zwar fragt, wie man diese oder jene Figur bewegt, aber nicht wofür diese oder jene Figur steht.

Zumindest würde er auf die letzte Frage keine ihm weiterhelfende Antwort bekommen.

Weder im Unterricht noch in Abhandlungen über das Schach kommen jemals Bemerkungen vor, diese Schachfigur stehe für dies oder das. Dieses Argument geht aber nur so weit und nicht weiter: Wir haben keine Verwendung für die Behauptung, Schachfiguren stünden für etwas. Wer „und“, „27“ oder „Sofa“ nicht versteht, dem wird es ebenfalls nicht helfen zu erfahren, dass die Bedeutung von „und“ Konjunktion, die Bedeutung von „27“ die Zahl 27 und die Bedeutung von „Sofa“ die Menge aller Sofas ist.4 Dass wir im Unterricht keine Verwendung für

(1) „27“ steht für die Zahl 27.

4 Ich ignoriere hier den Fall, dass der Novize schon weiß, welche Wahrheitsfunktion die Konjunktion ist oder wie man den König zieht, aber nicht weiß, welches Wort für diese Wahrheitsfunktion verwendet

(2) „Und“ steht für Konjunktion (bezeichnet eine Wahrheitsfunktion).

(3) „Sofa“ bezeichnet die Sofas.

(4) Die weiße Königsfigur steht für den weißen König.

haben, zeigt nicht, dass (1), (2) und (3) falsch oder unsinnig wären – ebenso wenig zeigt die Überlegung, dass (4) falsch oder unsinnig wäre. Es muss daher einen anderen Grund geben, warum nahezu alle Philosophen beispielsweise den Zahlzeichen einen Referenten zuordnen, den Schachfiguren aber keinen. Die philosophisch brisante Frage ist daher, warum wir (1), (2) und (3) eingeführt haben und als sinnvoll akzeptieren, während das bei (4) nicht der Fall ist. Warum stößt (4) auf universelle Ablehnung, die üblicherweise noch nicht einmal ansatzweise gerechtfertigt wird? Gegen (4) wird man wohl einwenden, dass die physikalische Figur auf dem Brett der König ist und deshalb nicht für ihn steht. (Wittgenstein scheint davon auszugehen, vgl. PU § 31). Kein philosophisches Rätsel wird

den alltäglichen Gebrauch von „Dies ist der König“ zu Fall bringen5, aber ebenso wird kein Beharren auf der unproblematischen alltäglichen Verständlichkeit und Nützlichkeit dieses Satzes die philosophischen Rätsel, die dieser Satz auslöst, zum Verschwinden bringen.

Und solche gibt es hier durchaus. Ich möchte zunächst drei Argumente vorstellen, die dafür sprechen – oder etwas vorsichtiger: drei Rätsel, die es plausibel erscheinen lassen –, dass Schachfiguren Sinn und Bedeutung haben. Genauer: Die Bedeutung der weißen Königsfigur ist der weiße König und eine Bewegung der weißen Königsfigur kann z. B.

den Gedanken ausdrücken, dass der weiße König von e1 nach f1 zieht.

Das erste Rätsel sind die unterschiedlichen Identitätskriterien der weißen Königsfigur und des weißen Königs. Angenommen Anna und Ben spielen eine Partie Schach, werden aber nach einigen Zügen unterbrochen. Sie beschließen die Stellung zu notieren und die Partie am nächsten Tag fortzusetzen. Am nächsten Tag verwenden sie ein anderes Brett und andere Figuren. Im Laufe des Spiels kommt die Frage auf, ob Anna rochieren darf. Dazu ist es wichtig, ob der weiße König bereits gezogen wurde. Hier kommt es offenkundig nicht darauf an, ob die Schachfigur bereits gezogen wurde. Es kann sein, dass der weiße König bereits gezogen wurde, obwohl die materielle Schachfigur, die den weißen König vertritt, noch nicht bewegt wurde. Das entscheidende Signalwort ist schon gefallen: Der weiße König wurde zu Beginn des Spiels von einer anderen Figurvertreten als im zweiten Teil des Spiels. Für die Frage, ob Anna rochieren darf, ist es nicht wichtig, ob die (materielle) Figur bereits bewegt wurde, sondern ob der (nicht-materielle) König bereits gezogen wurde. Wenn die materielle Figur mit dem König identisch wäre, könnten wir diese Unterscheidung nicht treffen.

wird bzw. welche Figur der König ist. In diesem Fall hilft die Auskunft natürlich.

5 Das ist keine Besonderheit der Philosophie: So ist die naturwissenschaftliche Entdeckung, dass die Erde sich um die Sonne dreht, auch kein Anlass, nicht mehr „Sonnenaufgang“ und „Sonnenuntergang“

zu verwenden.

Das Problem der unterschiedlichen Identitätskriterien tritt nicht nur bei Fortsetzungen auf einem anderen Brett auf. Eine Schachfigur kann zerbrechen, aufgegessen werden usw.

– der weiße König kann nicht zerbrechen, aufgegessen werden usw. Ein Schachspieler hat auch dann noch einen König, wenn die weiße Königsfigur aufhört zu existieren. Das Spielen wird vielleicht erschwert, aber es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass das Spiel mit der Vernichtung der Königsfigur ipso facto beendet wäre. Die materielle Figur kann kaputtgehen, ohne dass das, wofür sie steht, kaputt geht oder aufhört zu existieren.

Es zeigt sich also wiederum: Wenn die materielle Figur mit dem König identisch wäre, müssten wir Aussagen als zutreffend anerkennen, die ganz sicher nicht zutreffen.6

Das zweite Rätsel entsteht dadurch, dass Schachfiguren nicht nur zum Spielen von Schachpartien verwendet werden können, sondern auch zumNachspielen von Schachpar-tien. Wenn zwei Personen Schachfiguren auf einem Schachbrett bewegen, handelt es sich auch dann um Schachzüge, wenn nicht diejenigen, die die Figuren bewegen, die Spieler sind. Während eines Schachturniers werden oft im Vorraum die Spiele nachgespielt und kommentiert. Ein Neuankömmling fragt, auf welcher Tafel welches Spiel nachgespielt wird. Er will wissen, für wessen König die Figur steht, die gerade bewegt wurde. Er erfährt, dass auf der linken Tafel die Partie von Meier gegen Schulze dargestellt wird und auf der rechten Tafel die Partie von Müller gegen Schmidt. Wir können auch sagen:

Das schwarze K auf weißem Grund auf der linken Tafel steht für Meiers König. Es ist offenkundig nicht Meiers König, sondern nur ein Stellvertreter für Meiers König.

Diese Überlegung lässt sich auch so ausnutzen: Eines von Freges Argumenten gegen die Identifizierung der Zwei mit dem Zahlzeichen „2“ oder der Vorstellung der Zwei ist, dass es nur eine Zwei gibt, aber viele Zahlzeichen „2“ (oder viele Vorstellungen der Zwei, vgl. Frege 1884: § 27). Das parallele Argument lässt sich nun auch bezüglich der Schachfiguren geben: Während der letzten Partie des Wettkampfs Anand–Topalow 2010 gab es Millionen Schachfiguren, die für Anands König standen (nämlich auf dem Brett, auf dem Anand und Topalow spielten, und auf den Brettern der Schachfans, die diese Partie mitverfolgten), aber selbstverständlich hatte Anand nur einen König. Bei sehr vielen Schachpartien gibt es nur eine Schachfigur, die für den weißen König steht, aber das ist keineswegs immer so. So wie Frege für sein Argument nicht die Prämisse braucht, dass es de facto mehrere Vorkommnisse von „2“ oder mehrere Vorstellungen der Zwei gibt, ist es hier nicht wichtig, ob es de facto mehrere materielle Schachfiguren gibt.

Ein drittes Rätsel möchte ich noch ergänzend hinzufügen: In Beschreibungen des Schach wählen wir gerne modales Vokabular. So sagen wir beispielsweise, dass ein König nur ein Feld ziehen kann. Dies steht in Kontrast zur Verwendung deontischen Vokabulars. In deontischer Sprechweise sagen wir, dass er nur ein Feld gezogen werden darf. Beide Sprechweisen sind integraler Bestandteil unseres Redens über das Schach. Eine

6 Daraus folgt nicht, dass der Satz „Diese Figur ist der König“ falsch oder unsinnig ist. Was folgt ist lediglich, dass man das „ist“ nicht als Identitätszeichen deuten sollte, obwohl die Oberflächenform diese Deutung nahelegt.