• Keine Ergebnisse gefunden

Wie viele philosophische Fragen nimmt auch die Frage, ob sprachliche Bedeutung norma-tiv ist, ihren Ausgangspunkt bei einem alltäglichen Phänomen, das zunächst unschuldig daherkommt, aber doch Anlass für verschiedene, inkompatible philosophische Konzeptio-nen gibt. Welches Phänomen es ist, das die Sprachphilosophie auf die Frage nach der

„Normativität der Bedeutung“ gestoßen hat, lässt sich am besten mittels eines Beispiels vorstellen. Das Beispiel soll kein Argument ersetzen. Ich gebe es nicht, um eine Sicht auf sprachliche Bedeutung aufzuzwingen, sondern um eine vielleicht naive, aber immerhin naheliegende Sichtweise auf sprachliche Bedeutung einzuführen und zu illustrieren:

Anna und Ben sitzen eines Abends zusammen, um finanzielle Angelegenheiten zu besprechen. Sie wollen zusammenziehen und vergleichen die Nebenkosten

verschiedener in Frage kommender Wohnungen. Bei einer dieser Wohnungen müssten Anna und Ben 57 Euro für Strom und 68 Euro für Gas bezahlen.

Anna sagt: „Für diese Wohnung müssten wir also monatlich 115 Euro für Nebenkosten bezahlen“. Ben antwortet: „Nein, das wären 125 Euro“, woraufhin Anna bemerkt: „Oh, natürlich! Ich habe den Übertrag vergessen“.1

Dieses Beispiel stammt nicht von mir; es handelt sich um eine Variation eines Beispiels aus KripkesWittgenstein on Rules and Private Language (1982).2 Das Beispiel selber enthält noch nichts Normatives. Der Minidialog ist nicht mehr als eben das: Es handelt sich um eine alltägliche Situation, an der nichts Außergewöhnliches auszumachen ist.

Aber versuchen wir einige Voraussetzungen explizit zu machen!

Anna und Ben meinen mit „Wohnung“, „Nebenkosten“, „Euro“ „plus“, „68“, „57“ usw.

bei allen Unterschieden im Bereich der Konnotation und Assoziation dasselbe; jeder von ihnen meint auch, wenn er ein Wort mehrmals verwendet, zu den verschiedenen Zeitpunkten dasselbe. Anna und Ben meinen nicht zufällig dasselbe. Sie teilen eine Sprache. Das heißt nicht nur, dass sie de facto dieselbe Sprache sprechen, sondern auch dass sie einander mühelos verstehen und nicht interpretieren müssen. Der Gehalt von Annas erster Äußerung ist, dass von den Bewohnern einer bestimmten Wohnung – welche das ist, wird durch den Gesprächskontext und/oder ihre Absichten bestimmt – jeden Monat 115 Euro Nebenkosten bezahlt werden müssen. Dieser propositionale Gehalt wird von Anna mit der Äußerung nicht nur unverbindlich hingestellt, sondern die Äußerung hat auch eine illokutionäre Rolle. Bei Annas erster Äußerung handelt es sich um eine Behauptung. Das heißt Anna stellt den Gehalt als wahr hin und legt sich auf die Wahrheit des Gehalts fest. Ben jedoch stimmt damit nicht überein. Er hält den von Anna behaupteten propositionalen Gehalt nicht für wahr und weist Anna darauf hin, dass 68 plus 57 nicht 115 ergibt, sondern 125. Anna stimmt Ben zu und erklärt, dass ihre erste Äußerung durch einen vergessenen Übertrag zustande kam.

Viele Details dieser Beschreibung der Situation und erst recht ihre angemessene Erklä-rung sind in der Sprachphilosophie umstritten. Manche Sprachphilosophen bestreiten, dass mit verschiedenen Äußerungen desselben Satzes in einem gehaltvollen Sinn zu unter-schiedlichen Gelegenheitendasselbe gemeint wird.3 Manche Sprachphilosophen bestreiten, dass in einem interessanten Sinn mehrere Sprecher ein- und dieselbe Sprache teilen.4

1 Die These, sprachliche Bedeutung sei normativ, wird von vielen Autoren anhand eines Beispiels eingeführt. Ich weiche hier jedoch von der Standardeinführung ab, weil ich nicht vom wahr/falsch-Kontrast ausgehe, sondern von einer Gesprächssituation (vgl. Boghossian 1989 und Glüer 2002: 16).

2 Kripke präsentiert das Beispiel nicht als Dialog und ohne außer-mathematische Einbettung, vgl. Kripke 1982: 8.

3 Ich denke hier an den Kontextualismus à la Travis, vgl. Travis 1989 und Travis 2000. Verschiedene Kontextualisten unterscheiden sich in der Radikalität ihres Kontextualismus. Einige hilfreiche Unter-scheidungen finden sich bei Recanati 2005.

4 Die These, es gebe keine Sprachen bzw. die Kategorie der Sprache sei philosophisch überflüssig, wird

Verschiedene Sprachphilosophen vertreten verschiedene Ansichten darüber, wodurch die Referenz von „diese Wohnung“ festgelegt wird: Sind es (intersubjektiv gegebene) kon-textuelle Umstände oder die Absichten des Sprechers? Verschiedene Sprachphilosophen vertreten verschiedene Ansichten darüber, was eine Behauptung ausmacht: Stellt man etwas als wahr hin? Oder legt man sich auf die Wahrheit fest? Oder übernimmt man gegenüber anderen die Verantwortung für die Wahrheit? Oder soll man nur behaupten, was man weiß?5 Verschiedene Sprachphilosophen geben verschiedenste Darstellungen des Verstehens sprachlicher Äußerungen. Manche sind der Meinung, dass wir keine Gehalte verstehen oder erfassen, sofern damit mentale Ereignisse, die das Sprechen begleiten, gemeint sein sollen; Verstehen sei ein Können, kein Erfassen.6

Doch um diese Details soll es hier nicht gehen. Wie auch immer meine Beschreibung ausgestaltet werden muss, um maximale philosophische Neutralität zu erhalten, blieb doch ein wichtiger Punkt noch unerwähnt. In der bisher gegebenen Beschreibung folgen die Äußerungen von Anna und Ben zwanglos aufeinander. Doch die Äußerungen folgen gerade nicht beliebig und grundlos aufeinander. Vielmehr gilt: Anna macht einenFehler. Annas erste Behauptung istverkehrt. Mit seiner Reaktionkritisiert Ben Anna undfordert sie zu etwas auf. Anna korrigiert sich und bietet eine Erklärung ihres Fehlers an. Die kursiv gesetzten Wörter deuten an, dass wir es hier mit etwas Normativem zu tun haben.

Das möchte ich noch etwas ausführlicher erläutern:

Erstens können sprachliche Äußerungen verkehrt sein. Annas erste Äußerung ist in doppelter Weise falsch. Man muss hier beachten, dass „falsch“ doppeldeutig ist: Es kann sowohl das Gegenstück zu „wahr“, als auch das Gegenstück zu „richtig“ gemeint sein.

Annas Äußerung ist sowohl im ersten Sinn als auch im zweiten Sinn falsch: Dass sie falsch und nicht wahr ist, ist eine elementare arithmetische Tatsache. Dass sie nicht wahr ist, heißt jedoch nicht, dass die Äußerung auch verkehrt, unangemessen, inkorrekt oder ein Fehler ist.7 Denn eine falsche Äußerung muss nicht verkehrt sein. Eine Äußerung von „68+57=115“ ist unwahr unabhängig von den Umständen der Äußerung. Aber eine

am prominentesten von Davidson vertreten, vgl. Davidson 1986.

5 Hinsichtlich Behauptungen dominieren zwei grundverschiedene Sichtweisen. Die eine Schule diskutiert Behauptungen mit der Metaphorik des Hinstellens und Präsentierens, die andere mit der Metaphorik des Festlegens und Verpflichtens. Die dritte Option, der zufolge Behaupten wesentlich damit zu tun hat, dass der Sprecher gegenüber einem Hörer die Verantwortung für die Wahrheit des Behaupteten übernimmt, vertritt meines Wissens nur von Savigny (vgl. von Savigny 1988). Die vierte Option vertritt prominent Williamson 2000: Kap. 11.

6 Diese Art Kritik an der Rede von „erfassen“ usw. ist insbesondere bei Wittgensteinanern verbrei-tet, wenn auch „erfassen“ und verwandte Verben auch innerhalb dieses Lagers durchaus verschieden interpretiert werden, siehe beispielhaft Goldfarb 1992 und McDowell 2009. Aus einer anderen, heideg-gerschen Perspektive kritisiert Dreyfus mentalistische Annahmen, die er in der Rede von „erfassen“

vermutet, vgl. z. B. Dreyfus 2005. Ich selber verteidige im Anschluss an McDowell die Auffassung, dass man „erfassen“ usw. unschuldig flach verstehen sollte, in Kraft 2004a: Abs. 4.5.

7 Ich komme später auf die Abgrenzung von „verkehrt“, „inkorrekt“, „Fehler“ zurück. An dieser Stelle genügt mir, dass die Verwendung wenigstens mancher Wörter dieser Familie hier angemessen ist.

Äußerung von „68+57=115“ ist verkehrt nur abhängig von den Umständen der Äußerung.

Wenn dieser Satz auf die Aufforderung „Nenne einen typischen Fehler, den Anfänger im schriftlichen Addieren machen!“ oder gar „Äußere einen falschen Satz!“ hin geäußert wird, ist die Äußerung nicht verkehrt.8 Im Gegenteil, in solchen Kontexten ist das Äußern eines falschen Satzes nicht falsch, sondern richtig. Man sollte daher unterscheiden zwischen

„falsch“ im Sinne vonunwahr und im Sinne vonverkehrt. Normativ ist dabei nur der zweite Sinn, da – wie wir gesehen haben – es nicht notwendigerweise schlecht, verboten oder ähnliches ist, einen unwahren Satz zu äußern. Oft, aber nicht immer, ist eine Äußerung verkehrt, weil sie falsch ist. Das erklärt vielleicht, warum ein Wort für beide Sachverhalte verwendet wird. Tentativ kann man die Verkehrtheit einer Äußerung auch so beschreiben:

Annas Äußerung wird nicht deshalb als verkehrt angesehen, weil sie Annas Zielen nicht zweckmäßig ist. Es kann sehr wohl sein, dass es für ihre Ziele eine geeignete Äußerung ist.

Wenn Annas Äußerung als verkehrt angesehen wird, wird offensichtlich ein Standard oder eine Norm angelegt, die unabhängig von situationsspezifischen Interessen der Beteiligten oder moralischen, gesetzlichen, sozialen oder ähnlichen Pflichten einschlägig ist. Anna kann sich vielleicht unter Verweis auf moralische Pflichten oder situationsspezifische Interessen entschuldigen, aber das führt nicht dazu, dass wir aufhören würden, ihre Äußerung als verkehrt anzusehen.

Zweitens kann man für sprachliche Äußerungen kritisiert werden. Andere Sprecher fordern dazu auf, dass man sich an sprachliche Normen hält. Auch bei den Ausdrücken

„Kritik“ und „Forderung“ ist es wichtig, sich eine Doppeldeutigkeit vor Augen zu führen.

Wenn ich beispielsweise an der Bushaltestelle stehe und ein anderer mich anstarrt, werde ich ihn vielleicht dafür kritisieren und ihn auffordern, damit aufzuhören. In einem weiten Sinn von „Kritik“ ist jede Zurechtweisung, jede Aufforderung, sich doch bitte anders zu verhalten, eine Kritik. In einem engen Sinn von „Kritik“ ist eine Kritik mehr als eine Missfallensbekundung. Eine echte Kritik muss sich auf einen bindenden Maßstab beziehen, das heißt einen Maßstab, dem der Kritisierte tatsächlich unterliegt. In dem obigen Beispiel bekundet Ben nicht bloß ein Missfallen; er kritisiert Anna im vollen Sinn. Man beachte, dass für eine Kritik in diesem Sinn nicht notwendig ist, dass der Kritisierte einen Fehler gemacht hat oder es hätte besser wissen müssen. Man kann auch kritisiert werden, wenn man besten Wissens und Gewissens gehandelt hat. In unserem Fall hat Anna zwar einen für sie entdeckbaren Fehler gemacht, aber bei vielen verkehrten empirischen Äußerungen ist dies nicht der Fall. Wenn Anna die falsche Behauptung macht, Ben sei Junggeselle, kann dies daran liegen, dass sie die Bedeutung von „Junggeselle“ nicht kennt, oder daran,

8 Ich gehe davon aus, dass eine Antwort der Form P nicht elliptisch ist für „Dies ist ein typischer Fehler:

P“ oder „Dies ist ein falscher Satz: P“. Denn wenn das eine zutreffende Analyse wäre, könnte man die Aufforderung niemals erfüllen. Denn in der vermeintlich expliziten Fassung sind die Antworten gerade kein Beispiel für einen typischen Fehler bzw. einen falschen Satz. Da ich keinen zwingenden Grund dafür sehe, dass die Aufforderungen prinzipiell nicht erfüllt werden können, bevorzuge ich eine wortwörtliche Interpretation von Aufforderung und Antwort.

dass sie vergessen hat, dass Ben verheiratet ist, aber auch daran, dass Ben ihr etwas verheimlicht. Im letzten Fall könnte man Anna für ihre Äußerung kritisieren, aber sie hat keinen Fehler gemacht und ist nicht zu tadeln, da sie nicht verantwortlich dafür ist, dass ihre Äußerung verkehrt ist.

Nun kann man, wenn die Umstände geeignet sind, für jede Handlung (und Unterlassung usw.) kritisiert werden. Wenn wir uns jedoch genauer anschauen, um was für eine Art von Kritik es sich hier handelt, liegt die Vermutung nahe, dass jede sprachliche Äußerung Maßstäben der Kritik unterliegt. Der Maßstab der Kritik sind dabei nicht Annas Wünsche oder Absichten. Manche Kritik hängt davon ab, dass man dem anderen bestimmte Wünsche unterstellt: Angenommen Ben sieht Anna mit einer Zitrone hantieren. Da er annimmt, dass Anna die Zitrone auspressen möchte, weist er sie darauf hin, dass sie eine Zitronenpresse benutzen sollte. Wie es kommt, will Anna jedoch gar nicht Zitronensaft gewinnen. Damit ist die Kritik hinfällig. Das ist in unserem sprachlichen Beispiel anders.

Anna kann der Kritik nicht mit „Aber ich will doch gar nicht die Wahrheit sagen; ich will dir doch die Wohnung schmackhaft machen!“ oder „Aber das war doch gar nicht als deutscher Satz gemeint!“ entgehen. Auf diese Weise kann Anna zwarerklären, warum sie ihre Äußerung gemacht hat, aber sie kann sie nicht rechtfertigen. Es scheint daher, dass die Kritik unabhängig von den Wünschen und Absichten des Sprechers ist. Dann stellt sich freilich die Frage, woher die Maßstäbe für die Kritik stattdessen kommen. Warum sollten Äußerungen verkehrt und kritikwürdig sein können ganz unabhängig davon, was der Sprecher mit der Äußerung beabsichtigte? Gemäß der These, die in dieser Arbeit geprüft werden soll, entstammt der Maßstab der Bedeutung der Ausdrücke, die Anna verwendet.

Drittens kann man seine sprachlichen Äußerungen korrigieren. Anna korrigiert sich.

Sich-korrigieren kann vieles heißen. Wenn es mein Wunsch ist, aus einer Zitrone Saft zu gewinnen, und mir dies beim ersten Mal nicht gelingt, weil ich die Zitronenpresse verkehrt benutze, dann versuche ich es ein zweites Mal. Aber ich korrigiere nicht meine ersten Versuch: Niemand würde sagen, dass ich meinen ersten Versuch zurücknehme. Bei sprachlichen Äußerungen ist uns diese Sprechweise jedoch vertraut: Es kann zwar auch vorkommen, dass jemand etwas behauptet und kurz darauf das Gegenteil behauptet, ohne dadurch die erste Behauptung zurückzunehmen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn man sich widerspricht. Vertrauter ist jedoch der Fall, dass jemand etwas behauptet und kurz darauf das Gegenteil behauptet, um dadurch die erste Behauptung zurückzunehmen.

Das Phänomen des Zurücknehmens spricht ebenfalls dafür, dass hier etwas Normatives vorliegt: Nur weil sprachliche Äußerungen nicht nur ein Mittel zu einem Zweck sind, kann man sie zurücknehmen. Wären sie Mittel zu einem Zweck, wäre es unsinnig, sie zurückzunehmen. Man könnte nur konstatieren, dass sie ihren Zweck nicht erreicht haben.

Ich fasse die drei angeführten Punkte kurz zusammen: Sprachliche Äußerungen, so unser erster Befund, können nicht nur falsch, sondern auch verkehrt sein. Sprachliche Äußerungen können zum Zweiten unabhängig von den Wünschen des Sprechers kritisiert

werden. Zuletzt unterliegen sprachliche Äußerungen dem Phänomen des Zurücknehmens und Korrigierens. Diese drei Punkte weisen darauf hin, dass sprachliche Äußerungen eine eigene Art von Normativität aufweisen. Zumindest scheint es neben moralischen, sozialen, rechtlichen und instrumentellen Normen noch Normen zu geben, die sich einer Einordnung erst einmal entziehen: sprachliche Normen, also Normen, die die Verwendung sprachlicher Ausdrücke regeln.

Dieser Eindruck wird noch bekräftigt, wenn die drittpersonale Perspektive – die ich bisher eingenommen habe – durch die erstpersonale Perspektive ersetzt wird.9Während man überlegt, was auf „68+57=?“ zu antworten ist, denkt man nicht darüber nach, wie ein bestimmtes Ziel am besten zu erreichen ist. Die Bedeutung von „plus“ bestimmt die Antwort. Aber dieses Bestimmen ist kein kausales oder statistisches Bestimmen. Es stimmt zwar, dass die meisten, die „plus“ verstehen, „125“ antworten, und es stimmt auch, dass diese Antwort irgendwie verursacht wird. Doch „125“ ist nicht deshalb die richtige Antwort. Das Konditional „wer ‚plus‘ versteht (und in seiner üblichen Bedeutung verwenden will), wird ‚125‘ antworten“ macht keine Vorhersage. Weder ist diese Antwort kausal mit dem Verstehen verbunden, noch handelt es sich um eine bloße Korrelation.

Wenn die Beziehung zwischen Verstehen und Anwendung aber keine kausale ist, um was für eine Beziehung handelt es sich dann stattdessen? Wie schafft die Bedeutung es dann,

„125“ als die richtige Verwendung auszuzeichnen?

Dieses Beispiel alleine ist noch kein Argument für die Existenz genuin sprachlicher Normen. Doch das Beispiel zeigt, dass es hier etwas zu untersuchen gibt. Die Praxis, normative Ausdrücke auf sprachliche Äußerungen anzuwenden, bedarf einer Erläuterung.

Insbesondere ist die Quelle dieser Normativität philosophisch rätselhaft: Woher kommt diese Normativität? Wie schafft sie es, Sprecher zu binden? Halten wir also als einen ersten Gedanken fest: Es bedarf einer Erklärung, warum Annas Äußerung von „57+68=115“

nicht nur falsch ist, sondern auch verkehrt.

Außerdem lässt sich das Beispiel ohne Schwierigkeit generalisieren. Man könnte meinen, dass die fragliche Normativität nur bei dialogischer Sprachverwendung (in der es also einen Adressaten gibt), bestimmten Sprechakten (zum Beispiel Behauptungen) oder bestimmten Ausdrücken (zum Beispiel „plus“) bestehe. Wer die These vertritt, dass sprachliche Bedeutung normativ ist, behauptet natürlich, dass auch monologische Sprach-verwendungen, beliebige Sprechakte und beliebige Ausdrücke Normen unterliegen. An dieser Stelle kann diese Frage noch nicht beantwortet werden, aber intuitiv wäre es sehr merkwürdig, wenn nur Dialoge, nur Behauptungen oder nur „plus“-Äußerungen normativ wären. Denn warum sollten gerade diese Sprachverwendungen anders sein? Auch in einem Code verfasste Tagebucheinträge können verkehrt sein, auch andere Sprechakte als das

9 Die erstpersonale Perspektive wählt Kripke, um auf intuitive Weise die Normativität der Bedeutung einzuführen, vgl. Kripke 1982: 7 ff.

Behaupten unterliegen Normen, auch „Apfel“, „grün“, „Kommunismus“, „und“, „in“ können verkehrt verwendet werden.10