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Kontrafaktische Literatur und der postmoderne historische Roman

2. Alternate History

2.5 Kontrafaktische Literatur und der postmoderne historische Roman

Es lassen sich mehrere einfache Verbindungen zwischen alternate histories, postmodernen Theorieansätzen und dem gesteigerten Interesse von kontrafaktischen Texten ziehen. Das wohl offensichtlichste gemeinsame Merkmal von postmodernen und kontrafaktischen Geschichtsromanen ist das Spiel mit Fakten und Fiktionen im Zusammenhang mit der Frage nach der Rekonstruktion von Geschichte. Bereits 1999 schrieb Phil Patton in einem Artikel für das American Heritage Magazin: „Perhaps alternate history has become so attractive because history itself has come to resemble fiction. . . . History no longer looks inevitable or divinely driven; our destiny is no longer manifest. . . . What, then, is so privileged about real history, about the version of things that actually happened to occur?”. Dass Geschichtsschreibung im Sinne Hayden Whites als eine Form der Literatur verstanden wird, ist hierbei der entscheidende Punkt.

Einerseits hat Whites Ansatz einen großen Beitrag dazu geleistet, dass Geschichtsbilder und Geschichtsschreibung in ihrer Relativität und Subjektivität erkannt werden. Von dieser Entwicklung hat auch das Genre alternate history profitiert. Andererseits kann die formale und inhaltliche Ausgestaltung von alternate histories in den wenigsten Fällen als postmodernistisch angesehen werden. Tatsächlich sind gerade die prominenten Merkmale postmoderner historischer Romane – Selbstreflexivität, Subjektivität, Fragmentation, Collage – in den meisten alternate histories auffällig abwesend, wie weiter unten noch genauer ausgeführt werden soll.

In beiden Textformen spielt das Verhältnis zwischen historischen Ereignissen, ihrer sprachlichen Verarbeitung und ihrer Veränderung in der (kontrafaktischen) Repräsentation jedoch eine bedeutende Rolle. Dabei nimmt die Frage nach der Fiktionalität von historiographischen und historisch-literarischen Texten eine Schlüsselposition ein und wird seit Jahrzehnten lebhaft debattiert. Der Behauptung von Hayden White, dass historiographische Texte am Ende immer „verbal fictions“ (Tropics 82) seien, entgegnet beispielsweise Lubomír Doležel in seiner Studie Possible Worlds of Fiction and History: The Postmodern Stage damit, dass er eine neue Konzeptionierung historischer Texte fordert. So stellt er der postmodernen Gleichstellung von fiktionalen und historiographischen Texten ein Modell entgegen, das historische Texte nicht auf dem „discourse (textual) level of narrative“, sondern auf der Ebene der „possible worlds“ betrachtet (viii). Trotz seiner Kritik an der postmodernen

Debatte über „metahistory“ (viii) setzt auch Doležel voraus, dass sprachliche Rekonstruktionen unsere Welt niemals direkt abbilden können: „The only worlds that human language is capable of creating or producing are possible worlds“ (30). Um nun den unterschiedlichen Graden von Fiktionalität in historischen Texten gerecht zu werden, führt Doležel weiter aus:

Possible worlds of fiction are products of poiesis. By writing a text the author creates a fictional world that was not available prior to this act.

The truth conditions of the fictional text are the key to understanding poiesis. As Gottlob Frege recognized, fictional texts (sentences) lack truth value; they are neither true nor false. . . . Historical texts are means of noesis, of knowledge acquisition; they construct historical worlds as models of the actual world. Therefore they are constrained by the requirement of truth valuation. (41-42)

Auf Grundlage dieser Unterscheidung kann Doležel auch Aussagen über kontrafaktische Texte und ihre Beziehung zur Vergangenheit treffen. Ähnlich wie Catherine Gallagher unterscheidet er zwischen „counterfactual fiction“ (105) und

„counterfactual history“ (111), um dann auf ihren Status einzugehen: „All worlds of counterfactual history, whether constructed by historians or by fiction makers, whether their function is cognitive or aesthetic, are semantically fictional. This radical claim . . . is supported primarily by the fact that no counterfactual worlds are models of the past;

they cannot be models of anything, because counterfactual past never existed“ (122;

kursiv im Original). Doležel ist an dem großen Beziehungsgeflecht zwischen Fiktion und Geschichte interessiert und seine Ausführungen hierzu, besonders in Abgrenzung zu postmodernen Diskursen über Geschichte und Geschichtsschreibung, sind überaus erhellend. Doležels Text problematisiert die Ablehnung absoluter Wahrheitsansprüche und entgegnet dem Vorwurf nach postmoderner Beliebigkeit, indem er postmoderne Erkenntnisse über historisches Erzählen differenziert. Seine theoretischen Erläuterungen zeigen mit Hayden White, dass historische Texte als verbale Konstrukte begriffen werden sollten, dass aber die Verbindung zwischen „Realität“ und Text unterschiedlich beschaffen sein kann. Seine Aussage, dass kontrafaktische Geschichte niemals als Modelle der Vergangenheit verstanden werden können, bezieht sich also auf die Beziehung zwischen realen Ereignissen und Texten. Da die beschriebenen Ereignisse in kontrafaktischen Texten nicht stattgefunden haben, sind sie laut Doležel semantisch fiktional. Das heißt jedoch nicht, dass sie nichts über das Verständnis von

Vergangenheit und Geschichte in der Gegenwart aussagen. Gerade in diesem Verständnis ähneln sich postmoderner historischer Roman und alternate history, wie im Folgenden erläutert werden soll.

Es ist offensichtlich, dass sowohl der postmoderne historische Roman als auch der kontrafaktische Roman das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart thematisieren. Schon Ende der 1980er Jahre identifizierte Linda Hutcheon für den postmodernen historischen Roman „the important postmodern concept of ‘the presence of the past’” (Poetics of Postmodernism 4) – eine Beobachtung, die auch viele Forschungsarbeiten zu alternate history gemacht haben. Rosenfelds Äußerung, dass alternate history „inherently presentist“ (10) sei und Helleksons Feststellung, „[t]hese texts change the present by transforming the past” (4), zeigen, dass Vergangenheit und Gegenwart in beiden Textsorten nahezu untrennbar miteinander verbunden sind. Der Blick in die Vergangenheit wird durch unsere Existenz in der Gegenwart, ihren Diskursen, Konzepten und Sichtweisen, beeinflusst. Ein neutral-distanzierter Blick auf die (kontrafaktische) Vergangenheit ist unmöglich. Um die schwierige Vergangenheit-Gegenwart-Beziehung in kontrafaktischen Texten theoretisch greifbar zu machen, zieht William Hardesty die kognitionspsychologische Theorie der Mentalen Modelle des britischen Psychologen Philip Johnson-Laird zu Hilfe. Laut Hardesty helfen alternate histories durch ihre Darstellung einer fiktiven Vergangenheit, Realität und Gegenwart zu problematisieren (87-88). Die mentalen Modelle, die wir beim Lesen von alternate histories entwickeln, um eine nicht (mehr) existente Vergangenheit fassbar zu machen, werden von uns, so Hardesty, in Relation zur Gegenwart gestellt und erhellen so im besten Fall unsere Hypothesen und Urteile über den Verlauf der Geschichte und über unsere Konzeption von Vergangenheit und Gegenwart (79-81). Sie können, um mit Hutcheon zu sprechen, als „a critical reworking, never a nostalgic ‘return’“ (Poetics 4) angesehen werden. Allerdings muss bemerkt werden, dass einige alternate histories weitaus nostalgischer in die Vergangenheit zurückblicken als postmoderne Texte es tun (Hutcheon Poetics 4).

Insgesamt aber wohnt der kritische Rückblick in die Vergangenheit beiden Textsorten inne und ist darüber hinaus häufig selbstexplorativ gestaltet. Wenn Elisabeth Wesseling für den postmodernen historischen Roman diagnostiziert, dass „[r]ather than representing the external world, postmodernist literature folds in upon itself in order to explore its own linguistic and literary conventions” (3), kann dies auch auf den

kontrafaktischen Text übertragen werden. Beide zeigen auf unterschiedliche Weise, dass Geschichte immer fiktional konstruiert wird, gerade weil sie nicht rekonstruierbar ist. Wesseling sieht in den parodistischen Zügen mancher postmoderner Romane eine Verbindung zu „counterfactual fantasies“, ihr Begriff für (teil-)kontrafaktische Erzählungen. Es muss hier bemerkt werden, dass Wesseling sich nicht eingängig mit der Entwicklungsgeschichte und Ästhetik der alternate history-Genres, speziell in seiner Verbindung zur Science-Fiction, beschäftigt. Die meisten ihrer Erläuterungen sind dennoch hilfreich, weil sie durch ihre Vermengung von alternate history bzw.

counterfactual fantasy und postmodernem historischen Roman eine interessante Perspektive auf die parodistischen Merkmale kontrafaktischer Literatur einnimmt. Ihre Argumentation ist, dass parodistische Texte immer ihre Zieltexte einbeziehen, da die Leserinnen und Leser ein gewisses Maß an Vorwissen benötigen, um den Text zu verstehen (105). Wesseling stellt fest: „Evidently, the target of counterfactual conjecture is the reservoir of established historical facts and popular interpretations of those facts which make up canonized history. . . . Counterfactual fantasies create ironic incongruities by embedding historical figures and events within alternate sequences”

(105-106). Obwohl die ironisierenden Tendenzen in alternate histories stark variieren, kann der parodistische Aspekt als ein Merkmal gewertet werden, das alternate histories mit postmodernen Texten gemeinsam haben.

Ebenso wie im postmodernen Roman werden in vielen alternate histories außerdem die von der Geschichtsschreibung Marginalisierten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Linda Hutcheon formuliert es so: “[T]he protagonists of historiographic metafiction are anything but types: they are the ex-centrics, the marginalized, the peripheral figures of fictional history . . .” („The Pastime“ 482).28 Wesseling findet genau diesen Aspekt des postmodernistischen Schreibens auch bei alternate history: Die Verlierer der Geschichte, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, erhalten in und durch alternate histories eine Stimme (110-111). Hier zeigen sich erneut Überschneidungen Ramón Saldívars Modus der historical fantasy:

Its purpose is to narrate the emergence of transnational, cosmopolitan, economic, and cultural orders whose desperate inequities are most

28 Hutcheon verwendet den Begriff „historiographic metafiction“ synonym zum Begriff der postmodernen Literatur. Die vorliegende Studie schließt sich stattdessen, wie unten noch genauer ausgeführt wird, der Typologie von Ansgar Nünning an, der die historiographische Metafiktion als eine Kategorie des zeitgenössischen historischen Romans versteht.

readily experienced by persons from diasporic, transitory, and migratory communities in the borderlands between the global north and south who lack recognition under dominant ideas of social membership. (594) Auch in „postrace fictions“ (585), wie Saldívar konstatiert, lassen sich postmoderne Elemente wiederfinden, doch, ähnlich wie im Fall von alternate history, in veränderter Form: „The form . . . transports us beyond the historical contingencies of magical realisms and postmodern metafiction into the realms of twenty-first-century structures of fantasy“ (581). Die Auswirkungen dieser formalen Transformationen sollen später noch genauer thematisiert werden.

Inhaltlich betrachtet geben die Genrekonventionen kontrafaktischer Literatur eine alternative Sichtweise zu vergangenen Geschehnissen geradezu vor. Dass die Motive und Strategien einer solchen Umschreibung von Geschichte sehr unterschiedlicher Ausprägung sein können, wurde bereits erläutert. Im Gegensatz zum postmodernen Individuum erhalten die Verlierer in manchen alternate histories jedoch nicht nur eine Stimme, sondern nehmen darüber hinaus Macht- und Kontrollpositionen ein, die ihnen dabei helfen, den Orientierungs- und Wirklichkeitsverlust der sie umgebenden chaotischen Welt zu beherrschen. Doch nicht alle Texte folgen diesem Muster.

Während Philip Roths The Plot Against America an der Darstellung des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins seiner Figuren festhält29, thematisiert Michael Chabon in The Yiddish Policemen’s Union genau diesen Gegensatz und versieht seine Figuren stattdessen mit einer limitierten Form individueller Freiheit und Souveränität. Alternate histories wie Brendan DuBois Resurrection Day, Robert Conroys 1945 oder Robin Gerbers Eleanor vs. Ike wiederum lassen ihre Figuren im Verlauf der Handlung die komplette Kontrolle über ihr Leben und Umfeld (wieder) gewinnen. Mit diesem Handlungsverlauf folgen die genannten Romane Helleksons Beobachtung: „The alternate history posits a universe in which we are capable of acting and in which our actions have significance“ („Toward a Taxonomy“ 255).

Interessanterweise scheinen es gerade die klassischen alternate history-Autoren zu sein, die diesem Ansatz folgen, während sich Autoren wie Roth and Chabon, die nicht im alternate history-Genre verankert sind, zurückhaltender zeigen. Wie die hier

29 Die Figuren im Roman haben kaum Möglichkeit, Einfluss auf die zunehmende Diskriminierung zu nehmen. Stattdessen wird klar herausgestellt, dass sie zu Objekten höherer Mächte bzw. zu Objekten der Geschichte im Allgemeinen werden, gegen die sie nichts ausrichten können.

untersuchten Texte diesen Themenbereich verhandeln, soll im Analyseteil genauer ausgeführt werden.

Weiterhin stellen sowohl der postmoderne historische Roman als auch alternate history kohärente, abgeschlossene und sinnstiftende Bedeutungssystemen als Erklärung unserer Welt infrage. Hutcheon erläutert: „As Foucault and others have suggested, linked to this contesting of the unified and coherent self is a more general questioning of any totalizing or homogenizing system. Provisionality and heterogeneity contaminate any neat attempts at unifying coherence (formal or thematic)” („Beginning to Theorize“

11-12). In kontrafaktischen Texten werden diese Konzepte zumindest auf inhaltlicher Ebene hinterfragt. So basieren die geschichtlichen Alternativen nahezu immer auf der Prämisse, dass es auch anders hätte kommen können. Die Frage „Was wäre geschehen, wenn…?“ bildet dabei den Beginn einer kritischen Erkundung unserer Geschichtskonzeptionen, die je nach Text unterschiedlich ausfallen können. Während manche Texte das Spielerische an der alternativen Rekonstruktion von Geschichte betonen, üben andere Kritik an Entscheidungen und Vorgehensweisen geschichtlicher Persönlichkeiten. Wieder andere problematisieren den Prozess der Geschichtsschreibung, in dem Geschichte erst „gemacht“ werde. Doch allen ist gemein, dass sie dem dokumentierten historischen Prozess eine Alternative zur Seite stellen, die zwar unterschiedlich stark zum Ausdruck kommen, aber immer den Blick für andere Möglichkeiten öffnen mag. Leserinnen und Leser begeben sich für die Zeit der Lektüre in eine Welt, die ihnen fremd erscheint und die schnell als inkohärent und provisorisch empfunden werden kann.

Die Aspekte der formalen Einheit und Kohärenz unterscheiden die meisten alternate histories jedoch vom postmodernen historischen Roman, speziell in seiner Ausprägung als historiographische Metafiktion. Während bereits einige inhaltliche Parallelen festgestellt wurden, ist die formale Ausführung kontrafaktischer Texte meist sehr konventionell und wenig innovativ, wie auch Catherine Gallagher bemerkt, wenn sie vom „formal conservatism of the recent (non-Science-Fiction) alternate-history narratives“ („Telling It“ 23) spricht. Zwar finden sich in vielen alternate histories selbstreflexive Passagen, doch diese beschränken sich häufig auf kurze Äußerungen einer Figur, die auf der diegetischen Ebene die Frage nach einem alternativen Geschichtsverlauf aufwirft. Eine weitere, elaboriertere selbstreflexive Strategie ist das

Entwerfen von Binnenerzählungen30, die den realen Verlauf der Geschichte thematisieren. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Philip K. Dicks Binnenerzählung „The Grasshopper Lies Heavy“ in The Man in the High Castle. „The Grasshopper Lies Heavy“ ist ein Roman im Roman, der in Grundzügen die den Lesern bekannte dokumentierte Geschichte wiedergibt. Doch es zeigt sich, dass auch diese Geschichte einen alternativen Geschichtsverlauf darstellt, der zwar nicht genau dem unseren entspricht, aber impliziert, dass der faktische Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg nicht nur Positives mit sich gebracht hat. Die selbstreflexiven Binnenerzählungen

„lenken dabei nicht nur metafiktional das Augenmerk auf die Fiktionalität der Romane an sich, sondern der revisionistische Impetus der Texte kommt über sie und ihr Verhältnis zu den Rahmenerzählungen erst zum Tragen“ (Butter 74).

Der revisionistische Impetus, von dem Butter spricht, ist angelehnt an Ansgar Nünnings Typologie des postmodernen historischen Romans. Butter unterscheidet zwei Idealtypen von alternate history: affirmative alternate histories, die im Wesentlichen Nünnings Kategorie des „realistischen historischen Romans“ entsprechen, und revisionistische alternate histories, die Butter zu großen Teilen mit Nünnings

„revisionistischem historischen Roman“ gleichsetzt (68). Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass Butter auch diverse Mischformen dieser zwei Idealtypen anerkennt. Eine kurze Darstellung von Nünnings Typologie des zeitgenössischen historischen Romans soll verdeutlichen, dass sich alternate histories in ihrem Grad der formalen Innovation von anderen Formen des postmodernen historischen Romans, hier speziell der historiographischen Metafiktion, unterscheiden. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, eine detaillierte inhaltliche, formale und funktionale Einordnung kontrafaktischer Literatur im Rahmen von Nünnings Typologie vorzunehmen. Die folgenden Erläuterungen sollen vielmehr dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf die Konzeptionierung von alternate history als eigenständiges Genre zu lenken und damit die Ausführungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen alternate history und postmodernen historischen Romanen zu beschließen.

Ansgar Nünning teilt den historischen Roman in fünf Kategorien auf, wovon drei als postmodern bezeichnet werden können: der revisionistische Roman, der metahistorische Roman und die historiographische Metafiktion. Die ersten beiden Kategorien, der dokumentarische und der realistische Roman, weisen keine formalen

30 Helbig verwendet den Begriff „kontra-kontrafaktische Spekulation“ (160), Rodiek „Spekulation in der Spekulation“ (118), Gallagher spricht von „the alternate history novel-within-the-novel“ („War“ 65).

Neuerungen im Vergleich zum klassischen historischen Roman auf (Nünning 25-33).

Während sich laut Nünning der dokumentarische historische Roman auf historiographisch dokumentierte Ereignisse und Personen konzentriert und eine große Anzahl von Realitätsreferenzen aufweist, schildert der realistische historische Roman eine fiktive Handlung im geschichtlichen Raum und folgt den Konventionen des literarischen Realismus (27). Revisionistische historische Romane wiederum

zeichnen sich dadurch aus, daß sie der Gattung neue Themenbereiche erschließen, experimentelle Erzählverfahren zur Geschichtsdarstellung verwenden, den Akzent vom vergangenen Geschehen auf dessen Auswirkungen auf und Bedeutung für die Gegenwart verlagern und historiographische Neuerungen reflektieren. (Nünning 27)

Die Funktion revisionistischer historischer Romane liegt also in der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. In ihnen werden Gegengeschichten entworfen, die etablierte Geschichtsversionen von einer anderen Perspektive betrachten und dabei traditionelle Deutungsmuster problematisieren (Nünning 34). Sowohl Inhalt als auch Form werden vom revisionistischen historischen Roman kritisch hinterfragt, doch verzichtet dieser Typus des postmodernen historischen Romans im Gegensatz zur historiographischen Metafiktion auf metafiktionale und geschichtstheoretische Reflexionen (Nünning 28). Der metahistorische Roman hingegen ist selbstreflexiv konzipiert und konzentriert sich auf die narrative Vermittlung und Rekonstruktion von vergangenen Geschehnissen (Nünning 29). Seine Funktion bestehe in der „kulturellen Erinnerung“, „retrospektiven Sinnstiftung“ und „kollektiven Identitätsstiftung“

(Nünning 35). In der letzten Kategorie, der historiographischen Metafiktion, fasst Nünning all jene innovativen historischen Romane zusammen, die sich auf selbstreflexive Weise mit Fragen der Historiographie und Epistemologie beschäftigen.

Es geht diesen Romanen also mehr um die Problematisierung von Geschichtsschreibung als um die Abbildung geschichtlicher Ereignisse, Personen oder Prozesse (Nünning 30).

Sie reflektieren und thematisieren somit Hayden Whites Ansatz zur narrativen Konstruiertheit von historiographischen Texten.

Wenn Michael Butter seine affirmativen bzw. revisionistischen alternate histories mit Nünnings realistischen bzw. revisionistischen Romanen in Verbindung setzt, tut er dies im Wesentlichen mit Blick auf die Funktionen dieser beiden Kategorien: Stärkung

„etablierte[r] historische[r] Narrative“ im realistischen historischen Roman bzw.

affirmativen alternate history-Roman oder Hinterfragen eben dieser Narrative im revisionistischen Roman bzw. alternate history-Roman (Butter 68). Bei der Anwendung von Nünnings Typologie für alternate histories zeigt sich, dass diese Texte interessanterweise häufig nicht als metahistorische Romane bzw. historiographische Metafiktion im Sinne Nünnings gelten können, da ihnen in der Regel der autoreferentielle und metahistoriographische Bezug fehlt. Dabei müssten doch gerade alternate histories diese Eigenschaften erfüllen, weil ihre Gattungskonventionen, wie oben ausgeführt, ein gewisses Maß an fiktionaler und historiographischer (Selbst)Reflexivität voraussetzen. Stattdessen scheint es, dass die generischen

„Voreinstellungen“31 eine explizite Auseinandersetzung mit diesen Themen auf der extradiegetischen Ebene des Texts abfedern bzw. unnötig machen. Auch mag die Darstellung eines alternativen Geschichtsverlaufs inhaltlich und formal bereits so komplex sein, dass Autorinnen und Autoren bewusst auf explizite metafiktionale und metahistorische Bezüge verzichten. Interessanterweise sind die in der vorliegenden Dissertation analysierten Texte von solchen autorreferentiellen und metahistoriographischen Bezüge gekennzeichnet, wie in den Analysekapiteln genauer erläutert wird. Diese Beobachtung deutet damit darauf hin, dass sich möglicherweise eine neuere Form von alternate histories entwickelt, die etablierte literarische bzw.

filmische Formen und Muster auch auf struktureller Ebene für neue historische und diskursive Herausforderungen nutzbar machen möchte.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich alternate history in keine der von Nünning aufgestellten Kategorien vollständig einordnen lässt. Lediglich für die Rubrik der revisionistischen bzw. realistischen historischen Romane lassen sich Konvergenzen feststellen, wie Michael Butter gezeigt hat. Doch während Butters affirmativen alternate histories die überwiegend realistische Ästhetik fehlt, mangelt es seinen revisionistischen alternate histories, gemessen an Nünnings Kriterien, an experimentellen Erzählverfahren und metahistoriographischen Ansätzen. Wollte man alternate history-Romane in Nünnings Typologie integrieren, so wäre am ehesten eine eigene Kategorie der „kontrafaktischen historischen Romane“ aufzustellen.

31 Unter diesen „Voreinstellungen“ sollen die folgenden Aspekte zusammengefasst werden: die Ermöglichung einer alternativen Geschichte und somit die angenommene Kontingenz geschichtlicher Entwicklungen; das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, das von den meisten alternate histories in den Vordergrund gestellt wird; die daraus resultierende Thematisierung und Bewertung nicht nur von Geschichtsprozessen, sondern auch von Geschichtsschreibung und Geschichtsbildern.