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Erlebte und erzählte Geschichte

4. Amerikanische Alternate Histories im 9/11-Diskurs

4.1.2 Erlebte und erzählte Geschichte

Im vorigen Abschnitt wurde erläutert, wie die spekulativen Passagen am Ende des Romans die Beziehung zwischen individuellen Handlungsmöglichkeiten und geschichtlichen Prozessen betonen. Im Folgenden soll nun das Geschichtsbild des Romans genauer untersucht werden. Die Verwirrung, die den sieben- bis neunjährigen Philip im Roman begleiten, werden nicht nur auf inhaltlicher Ebene thematisiert;

besonders der strukturelle und perspektivische Aufbau der Erzählung vermittelt den

Leserinnen und Lesern ein Geschichtsbild, das sich nicht an (inter)nationalen Entwicklungen, sondern an individuellen Erfahrungen orientiert. Indem sich interne und externe Fokalisierung in einer retrospektiven Ich-Erzählung abwechseln, wird die Leserschaft wiederholt von den großgeschichtlichen Prozessen zu den Empfindungen der Figuren zurückgeführt. Ähnlich sieht dies Andreas Martin Widmann, der „aus den poetologischen Aussagen Roths . . . eine Poetik des Kontrafaktischen ableiten [möchte], die nicht vom Interesse an einer Hypothesenbildung über die längerfristigen Folgen der imaginierten Konstellation geleitet ist, sondern von der Intention zur realistischen Ausgestaltung ihrer Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen“ (281). Diese Beobachtung zeigt sich im Roman vorrangig durch die rückblickende Erzählperspektive. Während auf der einen Seite ein Großteil der Erzählung die innere Aufruhr des kleinen Philip präsentiert, werden diese Ausführungen auf der anderen Seite von dem mittlerweile alten Erzähler Philip Roth bewertet und kommentiert. Dabei sind die Einschätzungen des Erzählers häufig den intradiegetischen Ereignissen vorangestellt. Kleinere Vor- und Rückblenden durchziehen den Roman und werden vom Erzähler dazu genutzt, den Ausgang einer Situation vorwegzunehmen. Die markantesten Stellen, die das veranschaulichen, sind Philips Ausreißen von Zuhause und das Ende der Lindbergh-Ära, die nachfolgend besprochen werden sollen.

Überfordert von den Veränderungen in seinem Leben, entscheidet sich Philip von Zuhause wegzulaufen. Seine Gefühle als Neunjähriger beschreibt der rückblickende Erzähler dabei so: „I wasn’t at all like Sandy, in whom opportunity had quickened the desire to be a boy on the grand scale, riding the crest of history. I wanted nothing to do with history. I wanted to be a boy on the smallest scale possible. I wanted to be an orphan“ (232-233). Hier wird also eine Opposition zwischen (inter)nationaler Geschichte und persönlicher Biographie aufgestellt. Sandy genießt die Aufmerksamkeit, die ihm als „statewide ‘recruiting officer’“ für Lindberghs „Just Folks“-Programm zuteil wird. Für ihn ist diese Aufgabe der mögliche Beginn einer steilen Karriere, was durch die Einladung ins Weiße Haus unterstrichen wird (184-188). Da Sandy ein Teil der Geschichte „on the grand scale“ wird, verkörpert er den Kontrast zwischen der nationalen und individuellen Ebene besonders. Im Gegensatz zu ihm versucht Philip dieser Geschichte und ihren Auswirkungen auf seine Familie zu entkommen und ähnelt dabei den kindlichen Erzählern in frühen 9/11-Romanen, beispielsweise in Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close (2005), Joyce Maynards The Usual

Rules (2003) oder Philip Beards Dear Zoe (2005), deren Protagonisten ebenso versuchen, das einschneidende geschichtliche Ereignis der Terroranschläge zu verarbeiten, dabei aber im Gegensatz zu Philip bereits zu Waisen bzw. Halbwaisen geworden sind. Neben der Unmündigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins verkörpern die Kinder in diesen Romanen Unschuld, Schutzbedürftigkeit und Sensibilität.71

Für die kindlichen bzw. jugendlichen Erzähler in Foers und Maynards Roman ist das Schlimmste bereits passiert. Ein Elternteil ist tot und sie müssen jetzt mit den Schrecken der Vergangenheit umzugehen lernen. Auch in The Plot Against America geht es um die Schrecken der Vergangenheit, doch hier wurden sie noch nicht vollständig realisiert, denn für den jungen Philip liegt die Bedrohung teilweise noch in der Zukunft. Sein Wunsch, der Geschichte zu entkommen, nährt sich aus der Angst, noch mehr Chaos, Unsicherheit und Leid ertragen zu müssen. Philip will somit den Erfahrungen entkommen, die seine „9/11 counterparts“ bereits machen mussten. Der Fokus der Erzählung liegt bei Roths Roman also nicht darauf, ein geschichtliches Ereignis zu verarbeiten, sondern darauf, einem geschichtlichen Unheil zu entgehen.

Eine solche Bedrohung hätte man mit einer future history ebenso gut darstellen können, doch Roth entschied sich für das Format der alternate history, das ihm die Möglichkeit zu einer retrospektiven Erzählung gibt. Diese nutzt er, um die ungleiche Beziehung zwischen Individuum und geschichtlichen Prozessen auch formal darstellen zu können.

So nimmt der Erzähler den Ausgang diverser Geschehnisse vorweg. Anstatt beispielsweise die abenteuerliche Ausreißergeschichte des kleinen Philip in chronologischer Reihenfolge auszumalen und dadurch die Spannung aufrecht zu erhalten, unterbricht der Erzähler die Handlung und erklärt im Vorfeld das Resultat dieser Episode:

I remember nothing between my stealing out of the house and starting down the empty street toward the orphanage grounds and my waking up the next day to see my grim-faced parents at the foot of my bed and to be told by a doctor busily extracting some kind of tube from my nose that I was a patient in Beth Israel Hospital and that though I probably had a terrible headache, I was going to be alright. (233)

71 Siehe auch David Holloway, Christina Rickli und Birgit Däwes, Ground Zero Fiction.

Auf abrupte Weise wechselt die Erzählperspektive von interner (Philip) zu externer Fokalisierung (Erzähler). Mit der Ereigniskette wird auch der Spannungsbogen der Handlung unterbrochen und der Fokus zurück auf die Figuren gelenkt: „I was kept home from school, but otherwise I was said to be fine, and fine thanks primarily to Seldon, who, from a distance, had witnessed almost everything that I was unable to remember“ (234). Die Ereignisse von Philips Abenteuer werden beinahe nebensächlich erwähnt. Hier geht es offensichtlich nicht um die Beschreibung einzelner Begebenheiten, sondern um ihre Auswirkungen auf die Figuren.

Noch deutlicher wird diese Beobachtung am Ende des Romans, wenn auf dem Höhepunkt der nationalen Spannungen die Erzählung plötzlich endet. Mit der Ankündigung von Walter Winchells Präsidentschaftskandidatur kommt es zu landesweiten Krawallen, die in der Ermordung Winchells enden. Die heftigen Ausschreitungen auf nationaler Ebene werden auf der privaten Ebene gespiegelt. An dem Abend der größten Krawalle kündigt sich Alvin, der mittlerweile in Atlantic City lebt, zu Besuch an. Es dauert nicht lange, bis es zu einer Prügelei zwischen Alvin und seinem Onkel kommt, bei der sich beide verletzen. Während die Gewaltakte gegen Juden zumindest in New Jersey unterbunden werden können, ist das im Hause Roth nicht mehr möglich. Damit wird die Parallele zwischen nationaler und persönlicher Geschichte betont und gleichzeitig differenziert. Die politischen Ereignisse werden von den familiären Ereignissen überschattet und erreichen kurze Zeit später ihren Höhepunkt: Aufgrund der nationalen Krisensituation entscheidet sich Philips Vater schließlich doch dafür, nach Kanada auszuwandern. Wie stark sich die nationale Geschichte gegen die Figuren stellt, wird an folgender Passage erkenntlich:

[B]y the time Sandy and I left the house, there was no misunderstanding that, quite incredibly, we’d been overpowered by the forces arrayed against us and were about to flee and become foreigners. I wept all the way to school. Our incomparable American childhood was ended. Soon my homeland would be nothing more than my birthplace. Even Seldon in Kentucky was better off now. (301)

Doch an diesem Punkt bricht die Erzählung ab. Der Höhepunkt des Romans ist gleichzeitig auch sein Antiklimax: „But then it was over. The nightmare was over.

Lindbergh was gone and we were safe, though never would I be able to revive that unfazed sense of security first fostered in a little child by a big, protective republic and his ferociously responsible parents“ (301). Wieder nimmt der Erzähler den Ausgang der

Ereignisse vorweg und unterbricht mit dem Wechsel von interner zu externer Fokalisierung den Spannungsbogen der Handlung.

Der Wechsel in der Fokalisierung entspricht dabei der Aufgliederung des Geschichtsbilds im Roman. Die interne Fokalisierung präsentiert die spezifisch-individuellen Erfahrungen der Figuren, die sich als Opfer einer perfiden politischen und christlich motivierten Verschwörungskampagne sehen. Ähnlich wie in den Erfahrungen vieler Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erscheint der historische Prozess damit für die Figuren als eine von Menschenhand gelenkte Einflussnahme, die eine Zäsur für das jüdisch-kollektive, aber auch persönlich-individuelle Leben mit sich bringt. In der externen Fokalisierung hingegen konzentriert sich der retrospektive Erzähler auf den Ausgang der geschichtlichen Prozesse. Hier geht es im Wesentlichen um Resultate und Fakten. Indem der Erzähler die Ereignisse auf der Handlungsebene vorwegnimmt und sich weigert, eine Lösung für die unerwartete geschichtliche Wendung zu liefern, präsentiert er vielmehr ein Geschichtsbild, das sich nicht an Verschwörungstheorien, sondern an höherer Schicksalsfügung orientiert. Für die Leserinnen und Leser ergibt sich somit ein Dilemma, weil nicht klar wird, welche Konzeption von Geschichte dieser Roman präsentiert und ob Verschwörung und Schicksal miteinander zu vereinbaren sind.

Im Roman wird dieses Dilemma nicht aufgelöst, sondern auf eine metareflexive Ebene gehoben. Mit den Fokalisierungswechseln und der Vorwegnahme der Ereignisse macht der Erzähler das Lesepublikum auf die narrative Modellierung der Ereignisse aufmerksam und tritt außerdem selbst als Konspirateur auf. Das beschriebene Beziehungsgeflecht aus individuellen Handlungsmöglichkeiten, großgeschichtlichen Prozessen, Schicksal und Verschwörung wird vom Erzähler mehrfach kommentiert, aber nirgendwo so eingängig wie in der folgenden Passage:

A new life began for me. I’d watched my father fall apart, and I would never return to the same childhood. The mother at home was now away all day working for Hahne’s, the brother on call was now off after school working for Lindbergh, and the father who’d defiantly serenaded all those callow cafeteria anti-Semites in Washington was crying aloud with his mouth wide open—crying like both a baby abandoned and a man being tortured—because he was powerless to stop the unforeseen. And as Lindbergh’s election couldn’t have made clearer to me, the unfolding of the unforeseen was everything. Turned wrong way round, the relentless unforeseen was what we schoolchildren studied as “History,” harmless history, where everything unexpected in its own time is chronicled on the

page as inevitable. The terror of the unforeseen is what the science of history hides, turning a disaster into an epic. (114)

In dieser Darstellung ist Geschichte nicht natürlicher Teil des menschlichen Lebens, sondern eine antagonistische Macht, die immer wieder unerwartet als „history’s next outsized intrusion“ (184) in den Alltag eingreift. Geschichte ist also nicht etwas, das man selbst steuern kann. Sie kommt von außen und drängt sich den Menschen auf.72 Dabei scheint für den Erzähler an dieser Stelle die eigentliche historische Zäsur – samt ihrer Auslöser und Akteure – weniger wichtig zu sein als die Diskrepanz zwischen erlebter und dokumentierter bzw. narrativisierter Geschichte. Die unvorhergesehene Zäsur, die durch historische Ereignisse in das Leben der Menschen eingreift und alles verändert, verliert ihren „Terror“ in dem Moment, wo sie versprachlicht und dabei in ihrer Chronologie als unvermeidlich dargestellt wird. Erst hier wird das geschichtliche Ereignis, das vorher ein Desaster, eventuell gar ein Verschwörungsakt gewesen sein mag, zur Schicksalsfügung.

Dieses Verständnis von Geschichte, d.h. ihre Aufgliederung in Ereignis und Repräsentation, hat mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine neue Wertigkeit erlangt. Wie im dritten Kapitel beschrieben, wurde innerhalb des 9/11-Diskurses immer wieder die Realität der Anschläge betont (Rosenblatt, DeLillo).

Äußerungen über die notwendige Konfrontation mit der Geschichte (Will), der Verlust amerikanischer Unschuld (Kaplan, Žižek) oder das Ende postmoderner Ironie (Rosenblatt) zeigen außerdem, wie sehr die Frage nach der Wirklichkeit der Anschläge mit einer historischen Periodisierung bzw. Geschichtskonzeption einhergingen.

Nachdem viele Kommentatoren darauf hingewiesen hatten, wie real das Ereignis trotz seiner Medienverbreitung sei, lagen auch Fragen nach seiner Repräsentation nicht mehr fern. In diesem Kontext bewegen sich Diskussionen um die Übermacht der Bilder und Fragen nach der literarischen Verarbeitung der Ereignisse. Die Terroranschläge vom 11.

September mussten in irgendeiner Form versprachlicht werden, nicht zuletzt um den

72 Ähnliches beobachtet Debra Shostak, wenn sie schreibt, dass Roth sich bereits mit der amerikanischen Trilogie einer „unprecedentedly deterministic conception of history as the context for American subjectivity“ (234) zuwendete. Schon in American Pastoral thematisierte Roth dieses Verhältnis zwischen Geschichte und Individuum. Dort beschreibt der Erzähler Nathan Zuckerman seinen Jugendhelden Seymour „the Swede“ Levov: „I began to contemplate the very thing that must have baffled the Swede till the moment he died: how had he become history’s plaything? History, American history, the stuff you read about in books and study in school, had made its way out to tranquil, untrafficked Old Rimrock, New Jersey. . . . People think of history in the long term, but history, in fact, is a very sudden thing“ (87). In beiden Texten betont Roth, wie die dargestellten Figuren angesichts der geschichtlichen Vorgänge jegliche Kontrolle verloren haben.

ereignisästhetischen „Überschuss oder Mehrwert“ (Deupmann 141) zu verarbeiten. Für Don DeLillo bedeutete dies, eine „counterhistory“ zu 9/11 zu schreiben, die all jenes schildert, was für die Öffentlichkeit nicht sichtbar war und die dem dominanten Narrativ der Terroristen ein alternatives Narrativ entgegensetzt. Laut diesem Verständnis wird das Ereignis nahezu übergangslos zu einer Erzählung, die mit anderen konkurrieren kann. Ereignis und Repräsentation sind hier untrennbar miteinander verbunden.

Roths Roman folgt diesem Verständnis von Geschichte zunächst nicht und trennt stattdessen das erlebte Ereignis von seiner mediatisierten Repräsentation. Die oben genannte Textpassage greift zwar Diskussionen um Realität, Auswirkung und Darstellbarkeit historischer Ereignisse auf, stellt sie dann aber diametral gegeneinander:

Geschichte als unvorhergesehenes und einschneidendes Desaster wird einer Konzeption gegenüber gestellt, die geschichtliche Ereignisse auf ihre Position in der dokumentierten Chronologie reduziert und Geschichte insgesamt zu Historiographie verkommen lässt.

Damit wird das historische Ereignis, wenn es verbal oder medial wiedergegeben wird, nicht nur von seinen Akteuren, sondern auch von seinem zeitlichen Moment losgelöst.

Roths Roman konzentriert sich dabei ebenso wie der 9/11-Diskurs auf die Realität historischer Ereignisse – nur tut er das notwendigerweise in Form literarischer Repräsentation. Dieses Dilemma wird im Roman implizit thematisiert. Ereignis und Repräsentation sind damit nur scheinbar voneinander getrennt. Vielmehr betont der Roman die Aufteilung von Ereignis und Repräsentation, um dann mit unterschiedlichen Mitteln wieder auf ihre Untrennbarkeit hinzuweisen. Genau hier entfaltet das Genre alternate history seine Kraft: es ermöglicht, den Gegensatz zwischen Ereignis und Repräsentation so weit wie möglich zu überwinden, indem es ein den Lesern bekanntes historisches Ereignis neu kontextualisiert und verfremdet.

Neben dem Aspekt der generischen Selbstthematisierung, der im nächsten Unterkapitel genauer beleuchtet werden soll, zeigt sich hier, wie Roth die unterschiedlichen Ebenen des Textes nutzt, um die gleichzeitige Konzeptionierung von Geschichte als unvorhersehbares Desaster und historische Erzählung zu verdeutlichen.

Auf der Handlungsebene knüpft der Erzähler zunächst an das „everything changed“

vom Beginn des Romans an: „A new life began for me“ (114). Alles scheint sich hier für den jungen Philip zu verändern. Die Vergangenheit seines bisher unbeschwerten Lebens grenzt sich damit klar von der im Roman beschriebenen Gegenwart ab. Es muss allerdings bedacht werden, dass die Erzählgegenwart des Romans nochmals eine andere

ist. Die Erzählung arbeitet mit insgesamt drei Bruchpunkten. Der erste ist auf der Gattungsebene angesiedelt und betrifft die Nominierung Lindberghs zum US-Präsidenten. Sie markiert den point of divergence des Romans und verursacht ihrerseits einen zweiten Bruch, der wiederum auf der Handlungsebene angesiedelt ist und Philips Leben zu einem „neuen Leben“ macht. Schließlich sorgt eine Zäsur auf der Erzählebene dafür, dass sich die fiktionale Geschichte des Romans wieder in die dokumentierte Geschichte der Leserinnen und Leser eingliedert. Doch trotz der Wiedereingliederung tragen die Figuren Narben davon. Yael Maurer beschreibt das mit den folgenden Worten: „What Roth repeatedly describes as the ‘unforeseen,’ ruptures the scene of domestic and national ordinariness in ways that can never be recovered“ (60).

Historische Ereignisse drängen sich dabei nicht nur den Figuren, sondern auch den Leserinnen und Lesern unerwartet auf. Das Genre der alternate history trägt dazu bei, dass der „terror of the unforeseen“ auch für sie eine starke Wirkung entfaltet, denn alternate history setzt den Bruch in der geschichtlichen Chronologie immer voraus und spiegelt ihn meist in der Erzählung selbst wider. Der point of divergence unterstützt diese Interpretation. Die Positionierung des geschichtlichen Bruchpunkts am Romananfang sorgt ebenso wie das mangelnde Wissen um den Ausgang der kontrafaktischen historischen Geschehnisse dafür, dass sich Leserinnen und Leser von Beginn an nicht auf ihr Wissen bzw. ihre mentalen Modelle (Hardesty 81, 87-88) verlassen können, sondern von den Beschreibungen des Erzählers, von einer Erzählung, abhängig sind. Sie müssen also den im Text beschriebenen historischen Verlauf ebenso wie die Figuren neu erleben und somit vergegenwärtigen. Auf diese Weise wird Geschichte zu Zeit/Geschichte. Gleichzeitig, so zeigt die oben zitierte Passage, ist jedes geschichtliche Ereignis aber nur eines von vielen, das in die Geschichtsbücher eingehen wird: „Turned wrong way round, the relentless unforeseen was what we schoolchildren studied as ‘History,’ harmless history, where everything unexpected in its own time is chronicled on the page as inevitable” (114). Durch die gattungsmäßigen Brüche der alternate history, die in The Plot Against America auf Handlungs-, Erzähl- und Gattungsebene miteinander verbunden werden, erfahren die Leserinnen und Leser die kontrafaktische Geschichte des Romans als geschriebene und als erlebte Geschichte.

Die Vergangenheit, die das Lesepublikum erlebt, ist damit zugleich faktisch und kontrafaktisch, denn in diesem Roman entwickelt sich Geschichte nicht sanft, sondern ganz im Sinne des 9/11-Diskurses unerwartet und gefährlich: Die Vergangenheit

schreibt sich wie ein terroristischer Anschlag in die Gegenwart der Protagonisten, aber auch in die der Leserinnen und Leser, ein. Sie ist eng an die Person des Präsidenten geknüpft, fragt nach der außenpolitischen Stellung Amerikas in der Welt angesichts eines anstehenden Kriegs und spekuliert über (religiös-ethnische) Verschwörungen gegen Amerika, die sowohl von innen als auch außen zu kommen scheinen. Ergänzt wird dieser Zeit/Geschichtsdiskurs durch das Narrativ eines sicheren, beständigen und freiheitlichen Staates, der nicht so schnell zu erschüttern ist.

Diese Konzeptionalisierung wird besonders an der Figur des Vaters, Herman Roth, deutlich. Sein unerschütterlicher Glaube an die Perfektionierbarkeit des Menschen und die Stabilität der amerikanischen Demokratie erlauben es ihm über lange Strecken des Romans nicht, eine Auswanderung nach Kanada zu erwägen (197-198). „We the people“ ist für ihn keine hohle Phrase, sondern Inbegriff der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Verfassung. In ähnlicher Form ist auch sein Geschichtsbewusstsein von der Überzeugung geprägt, dass jeder Mensch zählt: „‘Because what’s history?’ he asked rhetorically when he was in his expansive dinnertime instructional mode. ‘History is everything that happens everywhere. Even here in Newark. Even here on Summit Avenue. Even what happens in his house to an ordinary man—that’ll be history too someday“ (180). Doch zum Höhepunkt der Krawalle muss er eingestehen, dass auch dieses Narrativ seine Kraft verloren hat und höhere Mächte ihn zur Auswanderung zwingen: „[T]he fear of persecution was such that not even a practical man grounded in

Diese Konzeptionalisierung wird besonders an der Figur des Vaters, Herman Roth, deutlich. Sein unerschütterlicher Glaube an die Perfektionierbarkeit des Menschen und die Stabilität der amerikanischen Demokratie erlauben es ihm über lange Strecken des Romans nicht, eine Auswanderung nach Kanada zu erwägen (197-198). „We the people“ ist für ihn keine hohle Phrase, sondern Inbegriff der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Verfassung. In ähnlicher Form ist auch sein Geschichtsbewusstsein von der Überzeugung geprägt, dass jeder Mensch zählt: „‘Because what’s history?’ he asked rhetorically when he was in his expansive dinnertime instructional mode. ‘History is everything that happens everywhere. Even here in Newark. Even here on Summit Avenue. Even what happens in his house to an ordinary man—that’ll be history too someday“ (180). Doch zum Höhepunkt der Krawalle muss er eingestehen, dass auch dieses Narrativ seine Kraft verloren hat und höhere Mächte ihn zur Auswanderung zwingen: „[T]he fear of persecution was such that not even a practical man grounded in