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Entwicklungsgeschichte und Begriffsverständnis

2. Alternate History

2.1 Entwicklungsgeschichte und Begriffsverständnis

Die meisten wissenschaftlichen Abhandlungen zu kontrafaktischer Literatur sehen in Issac D’Israelis Essay aus dem frühen 19. Jahrhundert mit dem Titel „Of a History of Events Which Have Not Happened“ aus Curiosities of Literature (1824) den ersten englischsprachigen kontrafaktischen Text.16 Brian Aldiss jedoch siedelt den Beginn dieser Textsorte bereits früher an, nämlich mit Richard Whatelys Pamphlet Historic Doubts Relative to Napoleon Buonaparte aus dem Jahr 1819, das die Existenz von Napoleon anzweifelt (Aldiss 13). D’Israelis und Whatelys Ausführungen sind beide essayistische Spekulationen, die ein begrenztes historisches Gedankenexperiment darstellen. Der erste kontrafaktische Erzähltext in Buchlänge erschien 1836 mit Louis-Napoléon Geoffroys Louis-Napoléon et la conquête du monde 1812-1832, Histoire de la monarchie universelle, der den napoleonischen Siegeszug so weiterführt, dass er in der Weltherrschaft Napoleons im Jahre 1832 endet. Auch der nächste wichtige kontrafaktische Erzähltext ist in französischer Sprache verfasst, Charles Renouviers Uchronie (L’Utopie dans l’histoire); Esquisse historique apocryphe du developpement de la civilisation européenne tel qu’il n’a pas été, tel qu’il aurait pu être (1857), der einen alternativen Verlauf des Römischen Reiches annimmt, in dem die Ausbreitung des Christentums verhindert wird. Gegen Ende des Jahrhunderts erscheint Edmund

16 Für eine detaillierte Diskussion siehe Alkon, Hellekson und Chapman.

Lawrences Erzählung It May Happen Yet: A Tale of Bonaparte’s Invasion of England (1899), die Jörg Helbig als die „erste durchgängige erzählerische Behandlung dieser Thematik im anglo-amerikanischen Sprachraum“ bezeichnet (79). Sie ist eine von vielen Darstellungen kontrafaktischer Geschichte, die ab dem 20. Jahrhundert immer mehr Aufschwung erfahren. Dies liegt zu einem großen Teil an der Ausdifferenzierung von Geschichtsschreibung und Literatur, die im nächsten Unterkapitel näher beleuchtet werden soll.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts werden vermehrt kontrafaktische Texte publiziert, die weniger an geschichtswissenschaftlichen Gedankenexperimenten als an literarischen Erzählungen interessiert sind, darunter F.P. Williams Hallie Marshall: A True Daughter of the South (1900), Charles Felton Pidgins The Climax; or, What Might Have Been: A Romance of the Great Republic (1902) und Guy Dents Emperor of the If (1926). Gleichzeitig entsteht in dieser Epoche G.M. Trevelyans einflussreicher geschichtswissenschaftlich orientierter Essay „If Napoleon Had Won the Battle of Waterloo“ (1907). Für eine ausführliche Übersicht zu kontrafaktischen Texten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich ein Blick auf Robert Schmunks Internetseite Uchronia: The Alternate History List unter www.uchronia.com, die die aktuellste und umfassendste Auflistung von Primär- und Sekundärtexten zu alternate history bietet.

Tatsächlich kommt es erst ab Mitte des 20. Jahrhundertes zu einer Konsolidierung kontrafaktischer Texte innerhalb des Science-Fiction-Genres. Robert Schmunk setzt den Genrebeginn von alternate history auf das Veröffentlichungsjahr von L. Sprague de Camps Kurzgeschichte „Lest Darkness Fall“ (1939). Erst dieser Text habe alternate history zum Subgenre der Science-Fiction gemacht. Gleichzeitig erklärt Schmunk, dass es zwischen 1931, dem Veröffentlichungsjahr von J.C. Squires Anthologie If It Had Happened Otherwise: Lapses into Imaginary History (in den USA veröffentlicht unter dem Titel If, or History Rewritten) und 1953, dem Veröffentlichungsjahr von Ward Moores Klassiker Bring the Jubilee, eine Reihe möglicher Zeitpunkte gibt, die als Beginn des Genres gelten könnten. Die meisten zeitgenössischen wissenschaftlichen Beiträge zu alternate history sehen in J.C. Squires Anthologie nicht nur einen Kerntext des Genres, sondern auch den Beginn von alternate history insgesamt. In dieser Anthologie sind unter anderem Winston Churchills bekannter Aufsatz „If Lee Had Not Won the Battle of Gettysburg“ und André Maurois’ „If Louis XVI Had Had an Atom Firmness“ zu finden.

Mit Beginn der 1950er Jahre steigt dann die Zahl der amerikanischen alternate history-Veröffentlichungen rapide an. In dieser Zeit erscheint der bereits erwähnte Roman von Ward Moore, der in einer Gegenwart angesiedelt ist, in der die Konföderierten Staaten den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen haben und ein Zeitreisender versucht, den Ausgang dieses Krieges zu verändern. Der wahrscheinlich maßgebliche Text des Genres wurde 1962 veröffentlicht: Philip K. Dicks The Man in the High Castle. Dieser Roman setzt einen Sieg der Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs voraus und schildert ein Amerika, das im Osten Nazi-Deutschland und im Westen Japan unterworfen ist. Eine politisch-neutrale Zone um die Rocky Mountains dient als Puffer zwischen den Siegermächten. Nicht nur ist dieser Roman einer der bekanntesten des Autors; er wurde darüber hinaus als einflussreicher (Science-Fiction) Roman in verschiedene Veröffentlichungsreihen aufgenommen, so zum Beispiel in die Reihen „Penguin Modern Classics“ und „S.F. Masterworks“ von Gollancz, aber auch in die „Library of America“. In den Forschungsarbeiten zu alternate history ist The Man in the High Castle wohl der am häufigsten analysierte Text.

Betrachtet man die Entstehensgeschichte und Entfaltung von alternate history im 20. Jahrhundert, so lassen sich laut Edgar L. Chapman drei Phasen unterscheiden. In der frühen Phase (1926-1945) haben seiner Meinung nach die frühen Meister, wie beispielsweise Murray Leinster und L. Sprague de Camp, mit den Formen kontrafaktischer Literatur experimentiert (9). In der zweiten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg (1946-1968) wurden teils sehr ambitionierte alternate histories geschrieben, die dazu genutzt wurden, vor einem zu großen politischen und ökonomischen Optimismus der USA und Großbritanniens zu warnen (9). In der dritten Phase dann, der postmodernen Phase von „1969-200?“ (9), haben sich laut Chapman alternate histories einer Vielzahl von ethischen und kulturellen Themen angenommen und diese problematisiert. Mit der dritten Phase gehe zudem die beginnende wissenschaftliche Beschäftigung mit alternate history einher, die die ersten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Genre einschließt (Chapman 16). Auch wenn Chapman seiner eigenen Forderung nach einer Poetik von alternate history nicht nachkommt, verschafft seine Phaseneinteilung einen guten Überblick über die Entwicklungsgeschichte von alternate history.

Insgesamt stieg nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl von veröffentlichten kontrafaktischen Publikationen zunehmend an. Mit Verweis auf diesen Anstieg zählt

Catherine Gallagher etwa 2600 alternate histories, die in den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten erschienen sind. Allerdings, so erläutert sie, müsse hier beachtet werden, dass die meisten Bibliographien bei der Verwendung des Begriffs alternate history nicht zwischen geschichtswissenschaftlich motivierter Spekulation mit historischem Material und literarisch motivierter Weltenerschaffung unterschieden (Gallagher „The Way It Wasn’t“).

Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben kontrafaktische Texte schließlich immer größere Aufmerksamkeit erfahren und damit, wie Gavriel Rosenfeld feststellt, seit den 1990er Jahren auch einen neuen Status erhalten (The World 5). Zwar gibt Rosenfeld zu bedenken, dass über die Gründe hierfür nur spekuliert werden kann, gleichzeitig versteht er aber die Ausbreitung des Genres als Nebenprodukt allgemeiner politischer und kultureller Trends der letzten Jahrzehnte (The World 6). Er führt insgesamt sechs Entwicklungen an, die das gestiegene Interesse an alternate histories gefördert haben. Als erste nennt er „the progressive discrediting of political ideologies in the West since 1945” (The World 6). Das Ende des Kalten Krieges habe nach anfänglichem Triumph- und Sicherheitsgefühl Platz geschaffen für neue Kämpfe und Konflikte, die uns zunehmend klar machen, dass wir in einer unsicheren und unvorhersehbaren Welt leben (6). Für viele Amerikaner hat der 11. September 2001 dieses Gefühl mehr als jedes andere geschichtliche Ereignis der letzten beiden Jahrzehnte gestärkt. Damit erscheint das Ereignis 9/11 zugleich als amerikanischer Teil einer größeren Entwicklung. Als zweiten Grund für die steigende Populariät und Akzeptanz von alternate history nennt Rosenfeld die kulturelle Bewegung des Postmodernismus, worauf weiter unten noch genauer eingegangen werden soll. Weitere Einflussfaktoren seien naturwissenschaftliche Entwicklungen, darunter Einsteins Relativitätstheorie und Erkenntnisse aus der Quantenphysik (The World 7). Auch technologische Trends, speziell die Entwicklung von Computer, Internet und anderen Kommunikationstechnologien, haben Zeit- und Raumbegrenzungen aufgeweicht und damit die Erfahrung alternativer Realitäten beeinflusst (Rosenfeld 8). Rosenfelds letzte beiden Punkte sind eng miteinander verknüpft. So stellt er insgesamt „a speculative sensibility within contemporary popular culture“ fest (8). Tatsächlich zeugen Filme wie Lola rennt (1998) oder Sliding Doors (1998) und besonders neuere Filmproduktionen wie C.S.A.: The Confederate States of America (2004) oder Inglourious Basterds (2009) von einem erhöhten Interesse an alternativen Geschichts- und Realitätsentwürfe. Die

Gründe hierfür werden teilweise in den angeführten Trends zu finden sein, doch bietet Rosenfeld keine detaillierte Interpretation für diese „spekulative Sensibilität“.

Als letzten Grund schließlich nennt er „the acceleration of what has been called the ‘Entertainment Revolution’” (9). Dieser Punkt deckt sich ansatzweise mit Barbara Kortes und Sylvia Paletscheks Beobachtung, dass der „Geschichtsboom . . . als integraler Bestandteil und als Antwort auf den beschleunigten Gesellschaftswandel in der sogenannten ‚Zweiten Moderne’ verstanden werden“ kann (10). Dabei sei Geschichte „allgegenwärtig, weil die Mediensysteme vielfältige Verbreitungs-, Konservierungs- und Aneignungsmöglichkeiten bereithalten“ (13). Rosenfeld fasst diesen Punkt noch enger und definiert die Entertainment Revolution als „one of the primary standards of value in modern Western society“ (The World 9), die mit negativen Entwicklungen wie beispielsweise der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne der Bevölkerung, der Faszination für Ruhm und Prominenz, Sensationalismus und Infotainment einhergehe (9). Für Rosenfeld steht die Popularitätssteigerung von alternate history in Verbindung hierzu, weil sie die zwei letzten Punkte zusammenbringt: Alternate history mache Spaß und bringe darüber hinaus noch Geld (10).

Neben der Frage nach der geschichtlichen Entwicklung von kontrafaktischen Primärtexten, ist es notwendig, das Genre- und Begriffsverständnis von alternate history zu erläutern, da keineswegs Einstimmigkeit darüber herrscht, ob alternate history überhaupt als ein eigenständiges Genre kategorisiert werden sollte – genauso wenig, im Übrigen, wie eine einstimmige Definition von alternate history insgesamt existiert. Neben der gleichzeitigen Verwendung unterschiedlicher Begriffe wird von der Forschung immer wieder die Frage nach der Genrezugehörigkeit kontrafaktischer Texte aufgeworfen. Während alternate history typischerweise zur Science-Fiction gerechnet wird, stellte Wilhelm Füger bereits 1984 für einen Klassiker der alternate history-Literatur, Kingsley Amis’ The Alteration (1976), fest, „wie wenig hilfreich die gängige Pauschalklassifizierung dieses Romans als SF ist“ (374). 1994 notierte auch Edgar V.

McKnight in seiner Dissertation zur Entwicklung des Genres eine Auflösung der Verbindung zwischen alternate history und Science-Fiction: „[T]he temporary association between science fiction and alternative history has weakened, and the sharp distinction between the two genres have become more readily apparent” (33). Der letzte Beitrag zur Problematik dieses „hybriden Genre[s]“ (67) stammt von Michael Butter

aus dem Jahr 2009, der fordert, „alternate history als ein eigenständiges Genre zu begreifen, das im Spannungsfeld von Science Fiction und historischem Roman sowie utopischer und dystopischer Literatur angesiedelt ist“ (67). Diese Zitate zeigen, dass die Frage nach der Genrezugehörigkeit in den letzten zwanzig Jahren immer wieder aufgegriffen wurde und einer Klärung bedarf. Auch das in der vorliegenden Studie untersuchte Phänomen des mainstreaming von alternate histories liefert einen weiteren Hinweis darauf, dass diese Texte nicht länger als Untergattung der Science-Fictoin verstanden werden sollten – ein Punkt, der in den folgenden Unterkapiteln genauer erläutert und damit zur Klärung der Genrezugehörigkeit von alternate history beitragen wird.

Bevor jedoch auf die Genre- und Funktionsfragen eingegangen werden kann, muss die Verwendung des Begriffs „alternate history“ geklärt werden. In den Forschungstexten lassen sich eine Anzahl unterschiedlicher Begriffe zur Beschreibung kontrafaktischer Literatur finden, so beispielsweise alternative history (Suvin, McKnight), allohistory (Chamberlain, Rosenfeld), parahistorischer Roman (Füger, Helbig), counterfeit world (Amis, Aldiss), Uchronie (Rodiek) und deviierende historische Romane (Widmann). Die Bezeichnung alternative history kommt dabei dem Verständnis des Genres am nächsten, weil sie signalisiert, dass es sich bei dieser Textsorte um die fiktionale Darstellung eines alternativen Geschichtsverlaufs handelt, der von der faktischen Geschichte abweicht. Interessanterweise konnte sich aber alternative history nicht durchsetzen. Die Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahren scheinen sich stattdessen – auch im deutschen Sprachraum – auf den englischen Begriff alternate history geeinigt zu haben. Diese Bezeichnung hat im Gegensatz zu anderen den Vorteil, dass sie von Autorinnen und Autoren bzw. Leserinnen und Lesern kontrafaktischer Literatur am häufigsten verwendet wird17.

Nicht durchsetzen konnte sich der von Kingsley Amis und Brian Aldiss favorisierte Begriff der counterfeit world, der die dargestellte fiktionale Welt eher negativ zu konnotieren scheint. Doch wie Aldiss feststellt,

[counterfeit worlds] do not particularly seek to convince us that our present is much better or worse than the alternative depicted. Ingenuity rather than didactism is the name of the game. . . . Counterfeit worlds

17 Aus diesem Grund wird auch in der vorliegenden Arbeit der englische Begriff alternate history verwendet.

may be regarded as conceits in the old meaning of the word, something witty and farfetched. (14)

Laut diesem Verständnis sollen alternative Geschichten also im Wesentlichen unterhalten, nicht belehren.

Allohistory wiederum ist ein eher weit gefasster Begriff für kontrafaktische Geschichte, der beispielsweise von Gavriel Rosenfeld synonym zu alternate history verwendet wird. Rosenfeld kann mit diesem breiten Begriff sowohl über literarische als auch geschichtswissenschaftliche kontrafaktische Texte sprechen. Darüber hinaus bietet sich allohistorisch ebenso wie counterfactual bzw. kontrafaktisch für den adjektivischen Gebrauch an.

Schwieriger sind die Begriffe parahistorisch und Uchronie. Ich stimme mit Holger Korthals überein, dass der Begriff parahistorisch eine eher negative Konnotation trägt und somit für eine definitorische Verwendung nicht gut geeignet ist.

Noch problematischer ist der Begriff Uchronie. Christoph Rodiek bezieht sich bei der Verwendung von Uchronie auf Charles Renouvier. Er versteht die Uchronie als Geschichte, „die ‚zu keiner Zeit’ . . . stattgefunden hat“ (9), wobei er jedoch seinen Fokus auf „eine möglichst plausible ‚hypothetische’ Vergangenheit“ (25) legt. In diesem Zusatz sehen sowohl Holger Korthals als auch Amy Ransom ein Problem, da der Begriff Uchronie ihrer Meinung nach keine zeitlichen Einschränkungen festlegt. So gibt Ransom an: „[N]ot only can uchronia refer to either positive or negative outcomes for alternate history, but, if taken literally as a depiction of a ‘not-time,’ the uchronia might include any chronologies other than that of the empirical world, past, present or future” (65). Ransom moniert außerdem die Gleichsetzung der Begriffe „Uchronie“ und alternate history, die durch zu strenge Genrekonventionen einfallsreiche alternate history-Texte ausgrenzen würden (69). Besonders die mit dem Begriff der Uchronie verbundene zeitliche Unbeschränktheit stellt für den Ansatz dieser Arbeit ein Problem dar, weil hier gerade die fiktionalen Veränderungen vergangener Geschehnisse zu einem festen Zeitpunkt untersucht werden sollen. Daher wird in der vorliegenden Arbeit auf den Begriff verzichtet.

Einen neuen und weiter gefassten Terminus zur Bezeichnung kontrafaktischer Texte hat Andreas Martin Widmann in seiner Studie Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (2009) eingeführt. Widmann möchte der Diversität kontrafaktischer Texte und Darstellungsformen gerecht werden und wählt dafür den

etwas sperrigen Begriff „deviierendes historisches Erzählen“ (18), den er folgendermaßen erläutert:

Indem hier Romane unterschiedlicher Form und Provenienz nebeneinander gestellt werden, ist ein Zusammenhang behauptet, der nicht von einem genealogischen Verständnis der literarischen Textsorte ausgeht, sondern von einer Verwandtschaft, die sich aus dem Verhältnis der Darstellung historischer Sachverhalte zum Wissen der Historiographie und zu intersubjektiv gültigen Annahmen über die tatsächliche Beschaffenheit der erzählten Vorgänge, mithin aufgrund eines bestimmten Umgangs mit Geschichte erkennen lässt und die Romane vergleichbar macht. (17)

Auf Grundlage dieser Überlegungen kann Widmann so unterschiedliche Texte wie Günter Grass’ Der Butt, Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, Thomas Brussigs Helden wie wir, Michael Kleebergs Ein Garten im Norden, Philip Roths The Plot Against America und Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara als kontrafaktische Texte zusammenfassen, grenzt aber im Gegenschluss fantastische Literatur und Science-Fiction bei seiner Definition aus. Sein Ziel ist dabei nicht nur, literarische Strategien, Geschichtsbilder und Textintentionen zu analysieren, sondern auch eine Binnentypologie kontrafaktischer Texte zu entwickeln. Dabei geht er besonders bei Fragen nach dem Verhältnis von Geschichte, historischem Roman, kontrafaktischen Geschichtsentwürfen und geschichtstheoretischen Ansätzen überaus detailliert und tiefgründig vor, so dass sich eine Lektüre seiner Ausführungen zu den allgemeinen Strukturen und Tendenzen kontrafaktischer Texte empfiehlt.18 Für die vorliegende Dissertation sind seine Ausführungen jedoch nur bedingt hilfreich, weil Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse trotz vieler Überschneidungen der beiden Studien in unterschiedliche Richtungen zeigen. Während Widmann die Heterogenität und Poetik kontrafaktischer Texte in einer Typologie zusammenfassen möchte, ist die vorliegende Studie an einer bestimmten Ausprägung kontrafaktischer

18 Eine bereits publizierte Dissertation zu kontrafaktischer Literatur stammt von Giampaolo Spedo und trägt den Titel The Plot Against the Past: An Exploration of Alternate History in British and American Fiction. Ähnlich wie es in vorliegender Dissertation getan wird, konzentriert sich Spedo auf literarische alternate history-Texte, folgt dabei allerdings nicht, wie es Widmann vorschlägt, einem möglichst weiten Verständnis von kontrafaktischen Textformen. Auch Spedo versucht, alternate history im großen Feld aus Geschichte, Historiographie, fiktionalen Texten und möglichen Welten zu verorten. Doch wo Widmann im Rahmen seines Forschungsinteresses sehr differenziert und zielgerichtet vorgeht, fehlt es Spedo an einer These für seine Studie. Vielen seiner sich teilweise wiederholenden Erläuterungen mangelt es an argumentativer Kraft, weil von Beginn an nicht klar ist, was er mit seiner Analyse von Dicks The Man in the High Castle, Harris’ Fatherland und Roths The Plot Against America erreichen möchte.

Texte in ihrer Verbindung zu einem gänzlich anderen Phänomen, dem 9/11-Diskurs, interessiert.

Die vorangegangenen Erläuterungen zeigen, wie schwierig sich allein die Verwendung einer durchgängigen Begriffsbezeichnung gestaltet. Diese Problematik wirkt sich zudem auf das Gesamtverständnis des Genres aus. Hinter jeder einzelnen Begriffsverwendung stehen unterschiedliche Annahmen zu den Konventionen dieses Genres, die sich auch in der Forschungsliteratur spiegeln. Was verbirgt sich also hinter alternate history? In ihrer weitmöglichsten Definition bezeichnet der Begriff eine gattungsunabhängige Textsorte, die auf der Grundlage der Veränderungen eines faktischen Ereignisses den Lauf der Geschichte anders fortschreibt, als er sich tatsächlich zugetragen hat. Diese Definition wirft jedoch mehr Fragen auf, als sie beantworten kann: Wie wird die Veränderung des geschichtlichen Ereignisses erreicht?

Welche Mittel werden hierzu eingesetzt? Muss die Veränderung überhaupt klar markiert sein? Ist die Erzählung immer in der Vergangenheit angesiedelt oder kann sie auch bis in die Gegenwart oder sogar Zukunft hineinreichen? Dieser Fragenkatalog deutet an, wie schwierig sich eine festgelegte inhaltliche Definition von alternate history gestaltet. In den folgenden Kapiteln soll daher unter Einbezug eines Forschungsberichts die Frage nach der Definition des Genres eingehender diskutiert werden.