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Alternate History als Science-Fiction

2. Alternate History

2.4 Alternate History als Science-Fiction

Literarische alternate histories werden im Wesentlichen aus zwei Gründen zur Fiction gezählt. Zum einen sind die Autorinnen und Autoren oft bereits fest im Science-Fiction-Genre etabliert, so dass die literarische Verortung des Autors bzw. der Autorin die Kategorisierung von alternate history als Subgenre von Science-Fiction vorgibt.23 Die Kategorisierung erfolgt hier also häufig nicht aus textimmanenten Gründen. Zum anderen werden kontrafaktische Texte aufgrund ihrer amimetischen und extrapolierenden Funktion zur Science-Fiction gezählt. Doch auch dieser Ansatz erweist

23 Science-Fiction soll hier verstanden werden als „branch of prose fiction that explores the probable consequences of some improbable or impossible transformation of the basic conditions of human (or intelligent non-human) existence. This transformation need not be brought about by a technological innovation, but may involve some mutation of known biological or physical reality, e.g. time travel, extraterrestrial invasion, ecological catastrophe“ (Baldick 301).

sich als problematisch, da Fiktion nie identisches Abbild der Wirklichkeit sein kann und viele alternate histories zudem auf Zukunftsversionen und technologisch-, biologisch bzw. naturwissenschaftlich begründete Inhalte verzichten. Erst die Integration von klaren Science-Fiction-Elementen, wie beispielsweise Zeitreisen, Technikelementen oder alternativen Naturgesetzannahmen, machen alternate history zu einem Subgenre der Science-Fiction. Gerade deswegen soll im Rahmen dieser Arbeit die ausschließliche Definition von alternate history als Unterkategorie von Science-Fiction aufgebrochen werden.

Historisch gesehen ist alternate history zunächst einmal eng mit der Entstehung bzw. Konsolidierung der modernen Science-Fiction-Literatur verbunden. Darko Suvin erläutert in seinem Artikel „Victorian Science-Fiction, 1871-85: The Rise of the Alternative History Sub-Genre“, wie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Texttypen alternate history, extraordinary voyage und future war als Subgenres der Science-Fiction herausgebildet haben (148-149). Von Andy Duncan und Karen Hellekson wird in diesem Zusammenhang beispielsweise Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1889) als Frühwerk von alternate history genannt.24 Auch Duncan ordnet in seinem Beitrag zum Cambridge Companion to Science Fiction alternate history eindeutig der Science-Fiction-Literatur zu. Er identifiziert erstens

„‘pure’ or ‘core’ alternate histories“ (211), die nur sehr wenig auf eindeutige Science-Fiction- oder Fantasy-Elemente zurückgreifen, zweitens spielerische alternate histories, die sich mit minimalen Veränderungen auseinandersetzten, welche oft keinen Effekt auf den Rest der Welt hätten (212) und drittens solche alternate histories, die die großen Effekte und Implikationen geschichtlicher Ereignisse beleuchten und sie zumeist dystopisch darstellen (212). Dabei erachtet Duncan Science-Fiction-Elemente wie „time travel“, „parallel world“, „timeslip“ oder „time loop“ (213-215) als notwendige Mechanismen für den alternativen Geschichtsverlauf.

Auch Karen Hellekson definiert alternate history klar als Subgenre von Science-Fiction (The Alternate History 3):

24 Auch Tom Shippey sieht in den „change the past“-Texten à la Connecticut Yankee ein verwandtes, aber anders geartetes Subgenre der Science-Fiction und fasst diese Beobachtung folgendermaßen zusammen:

„[W]ithin the overall ‘grammar’ of science fiction, ‘alternate history’ and ‘change the past’ follow similar but slightly different ‘clause structures’“ (21). Brian Aldiss wiederum zählt Twains Connecticut Yankee gerade nicht zur alternate history, weil die im Roman dargestellte Geschichtsveränderung durch einen Zeitreisenden bewirkt werde (15).

The alternate history’s use of changed historical points to bring about different realities is, I think, a case parallel to science fiction’s use of extrapolations of current events to bring about fictive futures. . . . In fact, the alternate history rewrites history and reality, thus transforming the world and our understanding of reality. These texts change the present by transforming the past. (4)

Vor dem Hintergrund dieser weit gefassten Beziehungsstruktur zwischen alternate history und Science-Fiction macht Helleksons Definition als Subgenre zunächst einmal Sinn. Die Extrapolation ist bei beiden ähnlich, nur dass die zeitliche Richtung jeweils eine andere ist.

Neben der Frage nach unterschiedlichen Typen kontrafaktischer Szenarien spielt außerdem die Funktion von alternate histories, besonders in ihrer Beziehung zur Lesergegenwart, eine Rolle für Diskussionen innerhalb der Science-Fiction. So definiert Darko Suvin alternate history als „that form of SF in which an alternative locus (in space, time, etc.) that shares the material and causal verisimilitude of the writer’s world is used to articulate different possible solutions of societal problems“ (149). Zwei Beobachtungen sind hierbei bemerkenswert. Zum einen identifiziert Suvin lediglich einen „alternative locus“ in lokaler und temporärer Hinsicht. Er geht also nicht von einem zeitlich festgelegten Bruch in der historisch-zeitlichen Chronologie aus. Die alternative Geschichte ist laut dieser Definition eher eine alternative Welt. Zum anderen hat alternate history laut Suvins Definition die Funktion, zeitgenössische gesellschaftliche Probleme zu thematisieren. Dieser Aspekt der zeitgenössischen Relevanz von alternate histories wird in vielen Studien zum Genre hervorgehoben, wenn auch selten mit einer solch klaren Zielformulierung.25

Die Relevanz der Gegenwart wird auch von Brian Aldiss, der tief in der Science-Fiction-Literatur verwurzelt ist, angesprochen. In seinem Eintrag in The New Encyclopedia of Science-Fiction fasst er die Kategorien alternate worlds und alternate histories zusammen und beschreibt sie als „a rather limited but appealing subgenre of science fiction, the essence of which is the supposition that one vital factor of our past is changed so as to alter radically our present” (13). Mit dieser Definition spricht Aldiss explizit den Bezug von alternate histories zur Gegenwart an, im Gegensatz zu Suvin sieht er in dieser Verbindung jedoch keine Notwendigkeit für Lösungsansätze sozialer Probleme. Für ihn ist ein Charakteristikum kontrafaktischer Texte, dass ihre Handlung

25 Siehe außerdem Füger (374), Helbig (170-171), McKnight (222), Alkon in Encyclopedia of Time (12), Rodiek (172), Rosenfeld (396-397).

in einer alternativen Gegenwart angesiedelt ist. Diese Gegenwart wird dabei durch die Veränderung eines Ereignisses in der Vergangenheit (und manchmal sogar der fiktionalen Vergangenheit) ausgelöst (15). Aldiss’ Definition von alternate history beinhaltet also die Existenzmöglichkeit paralleler Welten, schließt jedoch Zeitreiseerzählungen aus (15).

Hier bietet Paul Alkon eine alternative Begriffsbestimmung. So definiert er alternate history als

essays or narratives exploring the consequences of an imagined divergence from specific historical events, thus distinguishing it from parallel history, which may be defined as accounts that present a different past or present not caused by a divergence from real history at some key moment such as a French victory at Waterloo. („Alternate History and Postmodern Temporality“ 68)

Wie man dieser Festlegung entnehmen kann, siedelt Alkon die kontrafaktische Erzählung nicht notwendigerweise in einer alternativen Gegenwart an. Auch ein Setting in der Vergangenheit ist möglich.

Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch Karen Hellekson erwähnt, die alternate histories ebenfalls eher in der Gegenwart verortet, wobei ihre Klassifizierung auch andere Möglichkeiten zulässt. Für Hellekson ist die zeitliche Verankerung von kontrafaktischen Geschichten insgesamt nicht so relevant, weil die von ihr vorgeschlagene Klassifizierung von alternate histories, die sich auf den historischen Bruch konzentriert, eine solche Unterscheidung weitestgehend unnötig macht. Sie unterscheidet dabei drei Gruppen: „the nexus story”, „the true alternate history” und

„the parallel worlds story“ (5). Zu der ersten Kategorie, der „nexus story“, zählt sie Zeitreise- und Kriegsschlachterzählungen. Diese Texte konzentrieren sich auf den Bruch in der Geschichte, also auf das Ereignis, das zum alternativen Geschichtsverlauf führt (6). Die reine oder „true alternate history“ ist Jahre nach der geschichtlichen Abweichung, dem „nexus point“ (oder auch point of divergence), angesiedelt und präsentiert eine veränderte Welt (7). In der letzten Kategorie, „the parallel worlds story“, sammeln sich all jene alternate histories, in denen mehrere Welten parallel zueinander existieren. Ihre Prämisse ist, dass zu jedem Zeitpunkt eines geschichtlichen Bruchs alle Möglichkeiten realisiert werden – in verschiedenen Welten. Die Protagonisten sind dementsprechend in der Lage, sich zwischen den Welten hin und her zu bewegen (8). Auf Grundlage dieser Klassifizierung können alternate histories in der

Vergangenheit, in der fiktiven Gegenwart oder auch in einer zeitlich nicht näher gefassten Welt angesiedelt sein.

Während auch die vorliegende Dissertation die Wechselbeziehungen zwischen alternate history und faktischer Gegenwart klar herausstellen möchte, sollen diese Verbindungen nicht in der Intention des Autors bzw. der Autorin verankert werden, wie es beispielsweise Suvin zu tun scheint. Darüber hinaus ist für die vorliegende Studie irrelevant, ob die dargestellte historische Alternative in einer fiktiven Gegenwart oder Vergangenheit angesiedelt ist. Wichtiger ist hierbei der klare Bruchpunkt in der dokumentierten Geschichte, also in der Leservergangenheit. Science-Fiction-Elemente wie Zeitreisen werden dadurch nicht per se ausgeschlossen, jedoch geht es Texten dieser Art häufig um eine detaillierte Exploration der Ursache-Wirkung-Beziehung, die gerade in den jüngeren alternate histories renommierter Autorinnen und Autoren eher ignoriert wird. Auch Helleksons Typologie bezieht sich im Wesentlichen auf eine Ursache-Wirkung-Beziehung, die die Ereignisse zwar in zeitlicher Folge zueinander sieht, sie jedoch nicht genauer spezifiziert. Viele der traditionellen alternate histories ordnet sie daher dem „genetic model of history“ – „history concerned with origin, development, or cause” (“Toward a Taxonomy” 250) zu. Texte dieser Gruppe konzentrieren sich auf Kausalbeziehungen, wobei sie besonders an dem Beginn bzw.

Ursprung einer geschichtlichen Entwicklung oder einer bestimmten historischen Situation interessiert sind. Zwar bemerkt Hellekson, dass ein alternate history-Text sich auf jedes der vier von ihr verwendeten geschichtlichen Modelle (eschatologisch, genetisch, entropisch und teleologisch) stützen kann, schränkt dann jedoch ein:

[A]s a genre, the alternate history fundamentally concerns itself with the genesis of history. The genetic model lies at the heart of every alternate history because the alternate history relies on cause and effect. It assumes that an event in the past caused our present. (“Toward a Taxonomy” 251)

Folglich verwendet Hellekson einen Großteil ihrer Analyse auf dieses Geschichtsmodell. Das Setting genetischer alternate histories ist oftmals sehr nah an Ort und Zeit des herbeigeführten historischen Bruchpunkts gewählt. Die gesellschaftspolitischen und sozialen Implikationen der geschichtlichen Veränderungen in diesen Texten werden daher nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen untersucht.

Sollen die Konsequenzen bereits fiktional veränderter Geschichtsabläufe in einem

breiteren zeitlichen Rahmen weiter erforscht werden, so geschieht dies häufig in einer Buchserie. Ein Beispiel hierfür ist Harry Turtledoves Timeline-191-Reihe, auch bekannt unter Southern Victory Series, die aus einer Anzahl von Romanen besteht und einen kontrafaktischen Geschichtsverlauf vom amerikanischen Sezessionskrieg bis zum Zweiten Weltkrieg beschreibt.26

Helleksons Studie ist nicht zuletzt deswegen erwähnenswert, weil ihren Textanalysen spezifische Geschichtsmodelle zugrunde liegen. Damit bringt die Autorin zwei unterschiedliche Blickwinkel auf alternate histories – auf der einen Seite die eher der Geschichtsfiktion zugeneigten Ansätze und auf der anderen Seite die eher der Science-Fiction anhänglichen Ansätze – wieder näher zusammen. Mit ihrer Klassifizierung führt Hellekson die unterschiedlichen Formen kontrafaktischer Texte übersichtlich auf und reflektiert darüber hinaus ihre impliziten Geschichts- und Zeitmodelle. Damit ist sie meines Wissens die erste Literaturwissenschaftlerin aus dem Feld der Science-Fiction-Forschung, die die Verknüpfung zwischen Geschichtsbildern, literarischem Erzählen und alternate histories in den Vordergrund ihrer Arbeit gestellt hat.

Insgesamt zeigen die vorangegangenen Beispiele, dass selbst innerhalb der Science-Fiction-Forschung Uneinigkeit darüber herrscht, wie und in welcher Form alternate history als Subgenre der Science-Fiction klassifiziert werden kann. Da kontrafaktische Texte in vielen Formen und vor allem gattungsübergreifend auftreten können, scheint eine festgesetzte Genredefinition auch für die Zukunft unwahrscheinlich. Ein großer Teil der älteren Forschungsliteratur ordnet die Gesamtheit aller alternate history-Veröffentlichungen der Science-Fiction zu und ignoriert in der Folge die Diversität kontrafaktischer Texte. Diese Aufteilung wird indessen von jüngeren Studien immer häufiger durchbrochen, besonders dann, wenn alternate histories zu einem konkreten Thema untersucht werden, wie es Gavriel Rosenfeld und Catherine Gallagher für nationalsozialistische bzw. militaristische alternate histories getan haben. Feststeht aber, dass die Frage nach dem Verhältnis von alternate history

26 Die Timeline-191-Reihe beginnt mit dem Roman How Few Remain (1997), der von drei weiteren „Sub-Reihen“ gefolgt wird: der Great War-Trilogie (1998-2000), der American Empire-Trilogie (2001-2003) und der Settling Accounts-Tetralogie (2004-2007). Turtledove hat somit jedes Jahr ein Buch in der Timeline-191-Reihe veröffentlicht. Im selben Zeitraum sind allerdings noch viele weitere Texte von ihm erschienen, beispielsweise die Fantasy-Reihe Darkness und die Parallelwelten-Reihe Crosstime Traffic.

Diese Produktivität führt bei Kritikern zu positiven sowie negativen Resonanzen. So bemerkt beispielsweise Edgar L. Chapman: „Although knowledgeable and inventive, the prolific Turtledove is not a particularly impressive writer. Nevertheless, he has gained commercial success and a considerable reputation because of numerous alternate history novels“ (16).

und Science-Fiction immer wieder hinterfragt wird. Bereits 1994 prognostizierte Edgar V. McKnight, Jr.: „[T]he apparent relationship between alternative history and science fiction will grow more and more tenuous“ (217). Der jüngste Beitrag zum Verhältnis von Science-Fiction und alternate history stammt von Michael Butter. Wie schon Feeley und Rosenfeld bemerkt Butter, dass viele alternate history-Texte sich von der Science-Fiction zu lösen scheinen. So sieht auch er in Philip Roths Roman The Plot Against America ein Zeichen dafür, dass alternate histories „auch für etablierte und angesehene Autoren immer salonfähiger werden“ (69).

Die vorliegende Studie schließt sich diesen Beobachtungen an und möchte alternate history als ein eigenständiges Genre begreifen, das jedoch in unterschiedlichen Formen auftreten kann.27 Das verbindende Kriterium ist allerdings immer die Veränderung eines Ereignisses der faktischen Vergangenheit zum Zwecke einer darauf folgenden alternativen Geschichtsdarstellung. Auf welche Weise der Bruch mit der Geschichte erwirkt wird, ist hierbei zunächst unerheblich. Die Art des herbeigeführten Bruchs deutet jedoch darauf hin, welche größere Funktion dem kontrafaktischen Szenario durch den Text beigemessen wird und hilft überdies, Verbindungen zwischen dem jeweiligen alternate history-Text und angrenzenden Genres aufzudecken. Da sich, wie Gavriel Rosenfeld und Gregory Feeley festgestellt haben, alternate history auf unterschiedliche Genres stützt, darunter „science fiction and fantasy, historical novels and adventure stories, even technothrillers and mysteries“ (Feeley), mutet eine generelle Einordnung innerhalb eines bestehenden Genres unsinnig an. Gerade die allmähliche Loslösung vom ursprünglichen „Mutter-Genre“ der Science-Fiction in Richtung des kulturellen Mainstreams stützt diesen Ansatz. Zugleich sollte diese Beobachtung auch in Verbindung mit einer weiteren Entwicklung, der des postmodernen historischen Romans, betrachtet werden, der immer wieder die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart untersucht und dabei Fragen nach geschichtlicher Kausalität und Kontingenz aufwirft. Im nächsten Unterkapitel soll deswegen das Genre alternate history in dem literarischen Beziehungsfeld der Postmoderne verortet werden, bevor abschließend noch einmal auf die Eigenständigkeit des Genres eingangen wird.

27 Hiermit folgt diese Studie der offenen Definition von literarischen Gattungen, wie sie Peter Wenzel im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie aufgestellt hat. Danach stellen Gattungen „offene Systeme dar, deren Charakter nur durch ein Bündel von unterschiedlichen formalen, strukturellen und thematischen Kriterien beschrieben werden kann“ (209).