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Kontinuitäten, Transformationen und Verlagerungen

In Österreich kursiert in Bezug auf den Nationalsozialismus ein geflügeltes Wort, wonach die Deutschen zwar „die besseren Nazis“, die Österreicher jedoch „die besseren Antisemiten“ gewesen seien. Dieses sarkastische Diktum scheint in historischer Perspektive, das heißt angesichts des tief verwurzelten Antisemitismus in Österreich, der exzessiven antijüdischen Gewalt beim „Anschluss“ 1938 und der aktiven Beteiligung vieler Österreicher an der Judenvernichtung, nicht gänzlich falschzuliegen. Aber wie sieht es heute aus? Gibt es nach der Shoah noch immer Antisemitismus und wenn ja, in welcher Form und in welchem Ausmaß?

In vergleichenden Meinungsumfragen liegt Österreich, sofern es in den Samples überhaupt aufscheint, im Hinblick auf die Persistenz antisemitischer Vorurteile und Zuschreibungen meist im europäischen Mittelfeld.1 Antisemitis-mus in Österreich zeigt sich nicht in einer derart offenen und gewalttätigen Form wie beispielsweise in Ungarn oder Frankreich, dennoch existieren antisemitische Grundhaltungen auf relativ hohem Niveau, wenn auch in den letzten Jahren ein leichter Rückgang von Antisemitismus zu vermerken ist.2 Was Österreich von anderen Ländern wie z. B. Deutschland unterscheidet, ist laut Experten vor allem 1 Vgl. Anti-Defamation League (ADL) (Hrsg.), Attitudes Toward Jews in Seven European Countries, New York 2006, 2009 und 2012 (www.adl.org/anti-semitism). In die jüngs-te EU-Umfrage (2013), die insgesamt acht EU-Staajüngs-ten umfassjüngs-te und vor allem auf die jüdische Wahrnehmung von Antisemitismus abzielte, wurde Österreich nicht miteinbe-zogen; vgl. European Union Agency For Fundamental Rights (FRA) (Hrsg.), Discrimi-nation and hate crime against Jews in EU member states: experiences and perceptions of antisemitism, Vienna 2013.

2 Detailergebnisse unter: http://global100.adl.org/#country/austria. Vgl. auch Martin Engelberg, Antisemitismus in Europa: Wie dramatisch ist das Problem?, in: Die Presse, 12. 11. 2013.

eine „ausgeprägte Immunschwäche“,3 sprich: eine mangelnde Sensibilität gegen-über Antisemitismus sowohl im alltäglichen als auch im öffentlich-politischen Bereich. Um die Gründe für diese mangelnde Widerstandskraft zu erklären und aktuelle Formen des österreichischen Antisemitismus nach der Shoah einordnen zu können, ist ein historischer Rückblick auf die spezifische Nachkriegssituation in Österreich unerlässlich. Deutschland fungiert dabei aufgrund der ähnlichen historischen Ausgangsposition, aber unterschiedlichen vergangenheitspolitischen Entwicklung nach 1945 als Vergleichsfolie, vor der die österreichischen Besonder-heiten deutlich herausgearbeitet werden können.

Unmittelbar nach Kriegsende 1945, in den ersten Jahren der Zweiten Republik, wurde der Grundstein für den späteren Umgang Österreichs mit seiner NS-Ver-gangenheit und mit Antisemitismus und Juden gelegt. Das Selbstverständnis der Zweiten Republik basierte auf jenem Passus der Moskauer Deklaration von 1943, demzufolge Österreich im völkerrechtlichen Sinn als okkupierter Staat galt und somit als „erstes Opfer Hitlers“ betrachtet wurde.4 Ungeachtet der historischen Fakten wurde der originäre österreichische Beitrag zum Nationalsozialismus und zur Judenvernichtung ausgeblendet, der „Anschluss“ von 1938 wurde als gewalt-same und erzwungene Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich gesehen und der Nationalsozialismus nach außen auf „die Deutschen“ verlagert und somit externalisiert.5 Diese „Opferthese“ hat sich schließlich hegemonial durchgesetzt und wurde zum staatstragenden Gründungsmythos der Zweiten Republik, der über Jahrzehnte hinweg tief im kollektiven Gedächtnis verankert war.

Die Selbstdarstellung als Opfer wurde aber nicht nur auf der staatlichen Ebene argumentativ eingesetzt, sondern auch die breite Bevölkerung griff nur allzu gerne 3 Maximilian Gottschlich, Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich?

Kri-tische Befunde zu einer sozialen Krankheit, Wien 2012.

4 Aus der Fülle von Literatur vgl. exemplarisch Gerhard Botz, Österreich und die NS-Ver-gangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frank-furt a. M. 1987, S. 141–152; Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hrsg.), Inventur 45/55. Öster-reich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996.

5 Rainer M. Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller/Hans-Jürgen Hoff-mann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 247–264.

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zu dieser politisch günstigen und moralisch entlastenden Formel. So kursierten im Nachkriegsösterreich viele verschiedene Opferversionen, an die partiell an-geknüpft werden konnte und mithilfe derer sich letztendlich nahezu alle Öster-reicherinnen und Österreicher als Opfer fühlen konnten. Die Konsequenz dieser umfassenden Selbstviktimisierung waren die Ausblendung der eigenen Mitver-antwortung und Täterschaft einerseits und die Ausblendung und/oder Diffamie-rung der „wirklichen“ Opfer des Nationalsozialismus andererseits.

Antisemitismus nach der Shoah

Die Shoah stellte zweifellos die entscheidende „Epochenscheide“ (Herbert A.

Strauss) in der Geschichte des Antisemitismus dar. Besonders in den ehemaligen NS-Tätergesellschaften hatte sich unter dem Eindruck des ungeheuren Ausmaßes der Judenvernichtung, Antisemitismus als politische Ideologie mit eliminatori-schen Zielsetzungen weitgehend desavouiert. In Deutschland, das von Beginn an die Verantwortung für den Nationalsozialismus übernehmen musste, erfolgte ein normatives Antisemitismus-Verbot, das weniger im rechtlichen als vielmehr im moralisch-politischen Sinn zu verstehen ist. Die Abkehr von Antisemitismus und die Haltung gegenüber Juden wurden – nicht zuletzt auf Betreiben der Amerika-ner – zu einem Prüfstein der Läuterungs- und Demokratiefähigkeit Deutschlands.

Dies führte zu einem von oben verordneten Philosemitismus6 und einer starken Tabuisierung des Antisemitismus, der nichtsdestotrotz „kommunikativ latent“ vor-handen blieb und fallweise in Form von physischen und verbalen antisemitischen Attacken, Friedhofsschändungen usw. zum Ausbruch kam.7 Außerdem gab es nach der Shoah neue Erscheinungsformen von Antisemitismus, die mit der unbewältig-ten NS-Vergangenheit zusammenhängen und ein Phänomen der Schuldabwehr darstellen. Dieser „sekundäre Antisemitismus“ äußert sich unter anderem durch Leugnung oder Relativierung der Judenvernichtung, Vergleiche und Aufrechnun-6 Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im

deut-schen Nachkrieg, Gerlingen 1991.

7 Vgl. exemplarisch Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in der bundesrepu-blikanischen Gesellschaft. Ergebnisse der empirischen Forschung 1946–1989, Opladen 1991; dies. (Hrsg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990.

gen bis hin zur Opfer-Täter-Umkehr und massiver Erinnerungsabwehr.8 Es handelt sich dabei um verschiedene Versuche zur Schuldentlastung, sodass zugespitzt von einem Antisemitismus nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz gesprochen werden kann.9 In Österreich ging dieser Prozess der Ächtung und Verlagerung von Antisemitismus aufgrund der „Opferthese“ und der daraus resultierenden

„Vergangenheitspolitik“ wesentlich langsamer und widersprüchlicher vor sich.

Auch wenn die Shoah eine Zäsur darstellte, so war Antisemitismus nach 1945 keineswegs verschwunden, sondern er lebte in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen weiter. Vor allem im „Ehemaligen“-Milieu und in rechten Kreisen existierte nach wie vor ein Antisemitismus als geschlossene Weltanschauung mit rassistischen Denkmustern.10 In politisch wenig exponierten Bevölkerungstei-len überdauerten ebenfalls stereotype Vorstellungen von „den Juden“ (von Dan Diner als „Antisemitismen“ bezeichnet), die tief und generationenübergreifend in das kollektive Unbewusste der österreichischen Gesellschaft eingesickert sind.11 Im katholisch geprägten Österreich kam dabei vor allem der christlichen Juden-feindschaft große Bedeutung zu, und auch die österreichische Linke war keines-wegs immer gegen Antisemitismus immun.12 Insgesamt hat sich gezeigt, dass das normative Antisemitismus-Verbot in Österreich nicht in dem Maße internalisiert worden war wie vergleichsweise in Deutschland und man diesbezüglich nach 1945 mit großer Unbefangenheit agierte, wobei in dieser Hinsicht kaum Diskrepanzen zwischen den politischen und kommunikativen Eliten und der breiten Bevölke-rung vorlagen.13

8 Bergmann/Erb, Antisemitismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, S. 231 ff.

9 Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt a. M. 1986, S. 11.

10 Wolfgang Neugebauer, Antisemitismus und Rechtsextremismus nach 1945: alte Stereo-type – neue Propagandamuster, in: Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Wien, Wien 1995, S. 346–359.

11 Bernd Marin, Antisemitismus ohne Antisemiten. Autoritäre Vorurteile und Feindbilder, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 132 ff und 189 ff.

12 Zu Letzterem vgl. Margit Reiter, Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah, Innsbruck/Wien/München 2001.

13 Vgl. exemplarisch Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.“ Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Ent-schädigung, Wien (1988) 2000.

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Erst allmählich ist es auch in Österreich zu einer Tabuisierung des Antisemi-tismus gekommen, der seither als nicht mehr opportun bzw. „salonfähig“ galt. Im Gegensatz zur (vor)nationalsozialistischen Zeit gab es nun kaum mehr offen „be-kennende“ Antisemiten, weshalb in der Sozialwissenschaft das Phänomen eines

„Antisemitismus ohne Antisemiten“ diagnostiziert wird.14 Der Antisemitismus hat sich zunehmend von der „Vorderbühne“ auf die „Hinterbühne“ (Erving Goff-man) zurückgezogen,15 wo er latent und unartikuliert überdauerte, zu gegebenen Anlässen jedoch wieder reaktiviert und fallweise politisch instrumentalisiert wer-den konnte. Die Nachkriegsgeschichte Österreichs liefert viele Beispiele dafür in Politik, Kultur und Gesellschaft, von denen im Folgenden nur einige wenige exem-plarisch angeführt werden sollen.16

In der unmittelbaren Nachkriegszeit richtete sich der Antisemitismus vor allem gegen die Zehntausenden jüdischen Displaced Persons (DPs), die sich kurz nach Kriegsende in Österreich aufhielten, das Land jedoch bald wieder verließen.17 Auch die wenigen dem Tode entronnenen und in ihre Heimat zurückgekehrten jüdischen KZ-Überlebenden waren massiven Anfeindungen ausgesetzt, denn sie erinnerten die österreichische Mehrheitsgesellschaft, die ehemaligen Täter und Zuschauer, allein durch ihre Anwesenheit an deren eigene (Mit-)Schuld, die mas-siv geleugnet und abgewehrt wurde. Eine ähnliche Dynamik der Schuldabwehr gab es gegenüber den vor den Nationalsozialisten geflüchteten jüdischen Emigran-tinnen und Emigranten, deren Rückkehr man von höchster Stelle zu verhindern 14 Marin, Antisemitismus ohne Antisemiten, S. 107 ff.

15 Christian Fleck/Albert Müller, Zum nachnazistischen Antisemitismus in Österreich.

Vorderbühne versus Hinterbühne, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissen-schaften (ÖZG) 4 (1994), S. 483 ff.

16 Eine systematisch-analytische Gesamtdarstellung des Antisemitismus in Österreich nach 1945 liegt noch nicht vor, allerdings eine Vielzahl von Einzelfallstudien und publi-zistische Auseinandersetzungen sowie einige Sammelbände; vgl. Bruce Pauley, Eine Ge-schichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993; Heinz Wassermann (Hrsg.), Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergeb-nisse, Positionen und Perspektiven der Forschung, Innsbruck u. a. 2002; Leopold Spira, Feindbild „Jud“. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich, Wien 1981; Gottsch-lich, Die große Abneigung.

17 Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945–1948, Inns-bruck 1987.

versuchte. Die aus Österreich vertriebenen Juden und Jüdinnen wurden als „Vater-landsverräter“ diffamiert, und man unterstellte ihnen, dass sie es im Ausland bes-ser gehabt hätten als die „armen Österreicher“ im Krieg. Solche Äußerungen, aus denen antisemitische Vorurteile, aber auch Konkurrenz, Neid und Schuldabwehr sprechen, waren nicht nur in großen Teilen der Bevölkerung, sondern auch unter hochrangigen Nachkriegspolitikern weitverbreitet. Die politischen Debatten über

„Wiedergutmachung“ für NS-Opfer in den 1950er-Jahren waren ebenfalls nicht frei von antisemitischen Ressentiments und Abwehrreaktionen, die auch Jahr-zehnte später noch wirksam waren.18

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren vor allem die österreichischen Universitäten Hochburgen des Antisemitismus, wie sich in der sogenannten Boro dajkewycz-Affäre Mitte der 1960er-Jahre exemplarisch zeigte.19 Taras Boro-dajkewycz, ein überzeugter Nationalsozialist und Professor an der Hochschule für Welthandel, stieß mit seinem rabiaten Antisemitismus in seinen Vorlesungen auf viel Zustimmung bei seinen deutschnationalen Studenten. Nach jahrelangen antisemitischen Provokationen seinerseits kam es 1965 zu einer großen De-mon stration, in deren Verlauf der kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem rechtsextremen Studenten tödlich verletzt wurde. Der Schock über das erste poli tische Todesopfer der Zweiten Republik führte dazu, dass über 25 000 Menschen an dessen Begräbnis teilnahmen, bei dem auch das

„offizielle Österreich“ vertreten war. Dieser erste antisemitische „Skandal“ im Nachkriegsösterreich verdeutlicht zweierlei: Einerseits, wie offen Antisemitismus in den 1960er-Jahren noch artikuliert werden konnte und wie lange der Haupt-akteur nicht geächtet, sondern von den konservativen politischen Eliten gestützt wurde; andererseits gab es im Zuge der „Borodajkewycz-Affäre“ zum ersten Mal kritische Gegenstimmen, und Antisemitismus wurde erstmals öffentlich debat-tiert und verurteilt. Daraus resultierende Initiativen, wie z. B. ein Memorandum der „Aktion gegen Antisemitismus“ an die Regierung über Maßnahmen zur Be-kämpfung des Antisemitismus oder die Anregung Simon Wiesenthals im Jahr 18 Brigitte Bailer, Wiedergutmachung – Kein Thema. Österreich und die Opfer des

National-sozialismus, Wien 1993.

19 Gerard Kasemir, Spätes Ende für „wissenschaftlich“ vorgetragenen Rassismus. Die Boro-dajkewycz-Affäre 1965, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thaur 1995, S. 486–501.

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1968 zur Gründung eines Antisemitismus-Forschungsinstituts, blieben aller-dings (bis heute) erfolglos.

Die Antisemitismusdebatten der 1970er-Jahre waren vor allem durch die Per-son Bruno Kreisky geprägt, der 1970 österreichischer Bundeskanzler wurde und diese Funktion bis 1983 innehatte. Die Wahl Kreiskys war insofern eine politi-sche Sensation, da er nicht nur Sozialdemokrat, sondern auch Jude und einstiger Emigrant war. 25 Jahre nach Kriegsende (und nur wenige Jahre nach der Boro-dajkewycz-Affäre) gab es einen jüdischen Bundeskanzler, und das ausgerechnet in Österreich mit seiner bekanntermaßen starken antisemitischen Tradition. Die erinnerungspolitische Rolle und Funktion von Bruno Kreisky in Österreich waren ambivalent. Einerseits war er immer wieder das Ziel antisemitischer Anfeindun-gen, andererseits diente er vielen Österreicherinnen und Österreichern wegen sei-ner prononciert nachsichtigen Haltung gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten, seinen gehässigen Attacken auf Simon Wiesenthal und seiner harschen Kritik an Israel zur Entlastung: Er – als Jude – konnte sagen, was sie selbst nicht auszuspre-chen wagten. Mithilfe des jüdisauszuspre-chen Bundeskanzlers Kreisky wurden die latent vorhandenen, fallweise an die Oberfläche kommenden antisemitischen Ressenti-ments kanalisiert und dank seiner jüdischen Herkunft und seines Amtes letztend-lich legitimiert.20 Die Problematik um Bruno Kreisky ist ein komplexes Geflecht von jüdischer Identität, Ambivalenzen auf beiden Seiten und von Antisemitismus und Entlastungsbedürfnissen, die auch noch Jahrzehnte nach der Shoah wirksam waren.

Das hat sich auch in den 1980er-Jahren im Rahmen der „Waldheim-Affäre“ ge-zeigt, der zentralen vergangenheitspolitischen Debatte Österreichs, in deren Verlauf es zu einer massiven Welle von Antisemitismus (verknüpft mit Antiamerikanis-mus) gekommen ist.21 Die Vorwürfe gegen den Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim, der seine NS-Funktionen und seine Tätigkeiten in der Wehrmacht ver-20 Vgl. Margit Reiter, Bruno Kreisky – Linker, Jude und Österreicher. Konfliktzonen und

Ambivalenzen jüdischer Identität in Österreich nach 1945, in: Zeitgeschichte 1 (2010), S. 21–40; Karin Stögner, Bruno Kreisky. Antisemitismus und der österreichische Um-gang mit dem Nationalsozialismus, in: Anton Pelinka/Hubert Sickinger/dies., Kreisky – Haider. Bruchlinien österreichischer Identitäten, Wien 2008, S. 25–110.

21 Aus der Fülle von Literatur zur Waldheim-Affäre vgl. exemplarisch Ruth Wodak u. a.,

„Wir sind alle unschuldige Täter“. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemi-tismus, Frankfurt a. M. 1990; Gottschlich, Die große Abneigung, S. 108–156.

schwiegen hatte, führten zu einer massiven patriotischen Abwehrfront, die sich vor allem gegen den „World Jewish Congress“ (WJC), aber auch gegen andere „Nestbe-schmutzer“ richtete. Im Zuge der heftigen Debatten wurden stillgelegte, aber immer noch vorhandene antisemitische Ressentiments reaktiviert, wobei eine Mischung aus altbekannten antisemitischen Stereotypen (z. B. „jüdische Presse und Macht“,

„amerikanische Ostküste“) und typischen Formen des sekundären Antisemitismus (Schuldabwehr) zutage traten. Auch in diesem Fall war Antisemitismus sowohl in Teilen der Bevölkerung und der Medien, als auch in der politischen Elite, vor allem im katholisch-bürgerlichen Lager (ÖVP), anzutreffen, gleichzeitig gab es aber eine starke, politisch relevante Gegenöffentlichkeit, die den österreichischen Opfer-mythos grundsätzlich hinterfragte und den aktuellen Antisemitismus anprangerte.

Seitdem hat sich in Österreich in Bezug auf seinen Umgang mit National-sozialismus und Antisemitismus einiges verändert: Die „Opferthese“ ist brüchig geworden, es gibt mittlerweile ein offizielles Bekenntnis zur Mitverantwortung Österreichs am Nationalsozialismus, und in keiner der Gedenkveranstaltungen fehlen die Abgrenzung und Verurteilung von Antisemitismus. Diese Veränderun-gen in der Gedenkkultur haben zu einer verstärkten öffentlichen Auseinander-setzung mit der Shoah und den jüdischen Opfern und – was meist schwieriger ist und auf mehr Widerstände stößt – teilweise auch mit den österreichischen Tätern geführt. Außerdem ist es in den letzten fünfzehn Jahren zu einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung (z. B. im Rahmen einer breit angelegten offi-ziellen Historikerkommission), materiellen und symbolischen Entschädigungen für jüdische NS-Opfer und Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen sowie zur Restitution von geraubten materiellen Gütern (Stichwort: Raubkunst) gekommen.

Allerdings sind auch diese späten Maßnahmen nicht ohne antisemitische Begleit-töne vonstatten gegangen, die an Diskursmuster der Entschädigungsdebatten der 1950er-Jahre angeknüpft haben.

Aktuelle Formen von Antisemitismus

Trotz dieser grundsätzlich positiv zu bewertenden Entwicklung gibt es auch heute noch Antisemitismus in Österreich, wenn auch oft in modifizierter und verlagerter Form – der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich spricht in

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diesem Zusammenhang von einer „Symptomverschiebung“.22 Der gegenwärtige Antisemitismus zeigt sich hauptsächlich in zwei verschiedenen Erscheinungsfor-men und Kontexten: zum einen im ZusamErscheinungsfor-menhang mit den immer wiederkehren-den Debatten zu Israel in Form eines „neuen Antisemitismus“ und zum anderen in Form von antisemitischen Vorfällen und Äußerungen im österreichischen Kontext, bei dem sowohl alte als auch neue Dynamiken zu beobachten sind.

Israel-Kritik – neuer Antisemitismus?

Seit Jahren wird weltweit über die Frage, ob und ab wann Israel-Kritik die Gren-zen zum Antisemitismus überschreitet, öffentlich diskutiert und geforscht.23 In Österreich finden sich in Bezug auf Israel im Großen und Ganzen ähnliche Argu-mentationen, Debatten und Dynamiken wie in Deutschland, wenn auch in einer abgeschwächten Form. Auch hier hat sich seit dem Sechstagekrieg 1967 besonders in der Linken eine zunehmend kritische Haltung gegenüber Israel herausgebildet, die sich im Laufe der 1970er-Jahre als radikaler Antizionismus ideologisch ver-festigt und zum Feindbild Israel zugespitzt hat. Eine österreichische Besonderheit dabei war die Rolle von Bundeskanzler Kreisky, der durch seine prononciert israel-kritische Haltung die öffentliche Meinung gegenüber Israel stark beeinflusst hat.

Der Höhepunkt der kritischen Haltung gegenüber Israel war 1982 im Zuge des Libanonfeldzuges und der Massaker von Sabra und Schatila erreicht, als die „Ver-längerung von Geschichte“ in Form von NS-Vergleichen usw. besonders deutlich wurde und es deshalb sowohl in Deutschland als auch in Österreich erstmals zu heftigen Antisemitismus-Diskussionen gekommen ist.24 Zu bestimmten Anlässen, im letzten Jahrzehnt z. B. im Kontext der zweiten Intifada 2000/2001, dem Liba-22 Gottschlich, Die große Abneigung, S. 230 ff.

23 Vgl. die Standardwerke Martin W. Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, 2. erw. und aktual. Aufl., Frankfurt a. M. 1994; Chris-tina Späthi, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen 2005; Reiter, Unter Antisemitismus-Ver-dacht. Zur jüngeren Entwicklung vgl. Peter Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkon-flikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs, Göttingen 2013.

24 Dietrich Wetzel (Hrsg.), Die Verlängerung von Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt, Frankfurt a. M. 1983; vgl. auch Reiter, Unter Antisemitismus-Ver-dacht, S. 282–315.

nonkrieg (2006), den Gazakriegen (2008/2009 und 2012) oder im Zusammenhang mit dem israelischen Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte im Jahr 2010, haben sich diese öffentlichen Debatten über „Israel-Kritik“ und Antisemitismus immer wie-der aufs Neue entzündet.25

In jüngster Zeit wird global ein „neuer Antisemitismus“ konstatiert, der aus (vermeintlich) neuen Erscheinungsformen (Israel-Kritik) und neuen Akteuren (Linke, Muslime) abgeleitet wird.26 Dieser Befund der Neuartigkeit muss aus meiner Forschungspraxis abgeschwächt werden, denn gerade im Hinblick auf die „Israel-Kritik“ zeigt sich, dass das Phänomen und die Debatten so neu nicht sind. So etwa haben sich die israelkritischen Argumentationen und Erklärungs-muster zum Nahostkonflikt seit Jahrzehnten ebenso wenig verändert wie die dabei mittransportierten Zuschreibungen und Feindbilder. Auch wenn es viele der politisch linken Kleingruppen mittlerweile nicht mehr gibt, so setzen doch Nachfolgegruppen unter neuen Namen und unterschiedlicher Ausrichtung, wie beispielsweise in Österreich der „Antiimperialistische Arbeitskreis“ (AIK), bis heute den radikalen antizionistischen Kurs der 1970er-Jahre mit einer ähnlichen Diktion fort.

Selbst die Akteurinnen und Akteure sind fallweise gleich geblieben. Manche linke Antizionisten sind noch heute in marginalen Kleingruppen aktiv, andere

Selbst die Akteurinnen und Akteure sind fallweise gleich geblieben. Manche linke Antizionisten sind noch heute in marginalen Kleingruppen aktiv, andere