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Das Beispiel Türkei

Bis zur Jahrtausendwende galt die Türkei – Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches – als relativ sicherer Ort für Juden.1 Obwohl der Status der Juden im Osmanischen Reich häufig übertrieben positiv dargestellt wird, genossen sie zweifellos die Toleranz seitens der Herrschenden.2 Nach dem Millet-System waren sie wie die anderen Millets (Armenier und Griechen) als Glaubensgemeinschaft mit einer weitreichenden administrativen Autonomie ausgestattet; vertreten wurden sie durch einen Rabbiner. Juden unterlagen keinen Beschränkungen bei der Berufswahl und konnten ihren Geschäften in der gleichen Weise wie in westlich-christlichen Ländern nachgehen. Wie alle Nicht-Muslime mussten sie eine „Kopfsteuer“ leisten und waren Restriktionen bei der Kleidung, beim Reiten von Pferden und beim Militärdienst unterworfen.3 Heute wird die Türkei häufig als eines der Länder genannt, in dem der Antisemitismus zuzunehmen scheint.

Judenfeindschaft in der Türkei ist jedoch kein neues Phänomen; die Wurzeln reichen bis in die Gründerjahre der Republik zurück.

Die Türkische Republik wurde auf der Basis des Nationalismus und des Säkularismus gegründet. Der Führer der jungen Republik wollte aus den türkischen Überresten des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat (türkisch:

Ulus) errichten. Die kemalistische Ideologie definierte das „türkische Volk“ als

„jene, die die moralischen, geistigen, kulturellen und humanistischen Werte der türkischen Nation schützen und fördern“. Ein Ziel bei der Konstituierung des neuen Staates war die Sicherung „der Vorherrschaft der ethnischen türki-1 Aus dem Englischen übersetzt von Angelika Königseder.

2 Donald Quataert, The Ottoman Empire. 1700–1922, Cambridge 2005, S. 127.

3 Halil Inalcik, The Ottoman Empire. The Classical Age 1300–1600, Phoenix 2001, S. 140.

schen Identität in jedem Bereich des sozialen Lebens von der Sprache, die die Menschen auf der Straße sprechen, zur Sprache, die in den Schulen gelehrt wird, von der Erziehung zum industriellen Bereich, vom Handel bis zu den offiziellen staatlichen Stellen, vom Zivilrecht bis zur Ansiedlung von Bürgern in bestimmten Regionen“.4

Der Prozess der Zwangs-Türkifizierung setzte sich in der Türkischen Repu-blik unter veränderten politischen Bedingungen fort. Der Antisemitismus hatte in dieser Zeit seine wesentliche Ursache in der ökonomischen Ungleichheit von jüdischen und muslimischen Türken. Ein Vorhaben der kemalistischen Eliten war die Verstaatlichung der Wirtschaft. Im Rahmen dieses Prozesses wurden die Juden des Landes, ebenso wie die übrige nichtmuslimische Bevölkerung (Armenier und Griechen), diskriminiert und deportiert.5 Das Pogrom in Thrakien 1934, die Ein-führung der Kapitalsteuer 1942 und die Pogrome in Istanbul im Jahr 1955 resul-tierten aus dieser Geisteshaltung.6

Die wohlhabenden Bürger der Türkei wurden 1942 mit einer Steuer belegt, um im Fall eines Eintritts in den Zweiten Weltkrieg über Mittel zur Verteidigung des Landes zu verfügen. Unter dieser Abgabe litten besonders die Nicht-Muslime wie Juden, Griechen, Armenier und Levantiner, die die Wirtschaft zu großen Teilen kontrollierten. Die Steuer sollte die Verstaatlichung der türkischen Wirtschaft be-fördern, indem Einfluss und Kontrolle der Minderheiten über Handel, Finanzen und Industrie des Landes zurückgedrängt wurden. Viele Menschen, die diese Kapitalsteuer nicht zahlen konnten, wurden in Arbeitslager verschickt.

Heute können wir von einem neuen und zunehmenden Antisemitismus sprechen. Dieser Wandel der letzten Jahre wurde durch verschiedene interne und externe Faktoren ausgelöst. Zum einen hängt er mit dem Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi; AKP) im Jahr 2002 zusammen. Dies war der Beginn eines noch andauernden Social-Engineering-Projekts, in dem muslimische und konservative Werte nach und 4 Carter Vaughn Findley, Turkey, Islam, Nationalism, and Modernity. A History, 1789–2007,

New Haven 2010, S. 56.

5 Ayhan Aktar, Cumhuriyet’in ilk Yıllarında Uygulanan „Türklestirme“ Politikaları, in:

Varlık Vergisi ve „Türklestirme“ Politikaları, 2. Aufl., Istanbul 2002, S. 101.

6 Dilek Güven, Nationalismus und Minderheiten. Die Ausschreitungen gegen die Christen und Juden der Türkei vom September 1955, München 2012.

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nach andere ersetzen. Man kann diese Entwicklung auch in der muslimischen Presse und bei Nichtregierungsorganisationen (NGO) beobachten. Der Sieg der AKP verschaffte der muslimischen Presse, die für ihre antisemitische Rhetorik bekannt ist, einen gewaltigen Aufschwung an Selbstvertrauen und Aggressivität.7 Die Zeitung „Anadolu Vakit“ zum Beispiel befördert antisemitische Propaganda in der Türkei – einschließlich der Leugnung des Holocaust. Reporter dieser Zeitung begleiten Erdoğan regelmäßig auf seinen Reisen. Die Regierung legitimiert und zeichnet auf diese Weise die Zeitung und deren Journalisten aus.8

Die gleiche Veränderung kann bei muslimischen Nichtregierungsorganisati-onen beobachtet werden. Nach dem Mavi-Marmara-Vorfall9 mobilisierten NGOs ihre Anhänger und organisierten Proteste vor der israelischen Botschaft sowie dem Privathaus des Botschafters und bedrängten die Botschaftsangehörigen bzw.

die Bewohner mehrere Tage und Nächte lang – eine in der Türkei bislang unübli-che Form des Protestes gegen Israel.10

Seit der Invasion im Irak 2003 – der externe Faktor – kursieren in den türkischen Medien und unter Intellektuellen unzählige Verschwörungstheorien.

Die Hauptrolle spielen dabei der „Mossad“ und der „zionistische“ Staat Israel;

beide Begriffe sind in der Türkei deutlich negativ besetzt. Großen Zuspruchs erfreut sich die Theorie, dass die neue Regierung der Autonomen Region Kur-distan im Nordirak von Israel unterstützt werde und deren Präsident, Mesud Barzani, Jude sei.

7 Rıfat N. Bali, Antisemitism and Conspiracy Theories in Turkey, Istanbul 2013, S. 356.

8 http://www.bianet.org/biamag/diger/119223-buyuklere-masallar-1-turkiye-de- antisemitizm-yoktur (15. 9. 2013).

9 Im Mai 2010 brach ein Konvoi von sechs Schiffen mit 10 000 Tonnen Hilfsgütern und 700 Personen am Bord nach Gaza auf, um die israelische Seeblockade zu durchbrechen.

Die Fahrt wurde außer von mehreren internationalen Organisationen vor allem von der türkischen IHH (Insan Hak ve Hürritetleri ve Insani Yardım Vakfı/Stiftung für Men-schenrechte, Freiheiten und Humanitäre Hilfe) und der griechischen Initiative „Boat for Gaza“ organisiert. Am 31. Mai wurde das Schiff von der israelischen Marine aufgehalten, bei der Auseinandersetzung auf internationalen Gewässern sind neun Aktivisten getötet und über 40 Aktivisten sowie sieben israelische Soldaten verletzt worden. Bei den Getöte-ten handelte es sich um türkisch-stämmige Personen.

10 http://www.milliyet.com.tr/israil-buyukelcisi-levi-nin-rezidansi-onundeki-eylem- durdu/siyaset/sondakika/05.06.2010/1246681/default.htm (15. 9. 2013).

Ministerpräsident Erdoğan und seine Rhetorik

Auch die Rolle der flammenden Reden von Premierminister Erdoğan zum Zeit-punkt der Krise in der Region sollte nicht unterschätzt werden; indirekt beför-dern sie den Antisemitismus in der Türkei und verleihen ihm Auftrieb.11 Erdoğan hat die islamistischen Aktivisten und Protestierer zwar wiederholt ermahnt, bei Demonstrationen gegen Israel zwischen dem israelischen Volk und der israeli-schen Regierung zu unterscheiden, indem er behauptet, nur der Regierung Israels kritisch gegenüberzustehen, nicht jedoch dem israelischen Volk. Ebenso bestand er darauf, zwischen dem Staat Israel und den türkischen Juden zu differenzie-ren, und betonte, dass Letztere türkische Bürger unter dem Schutz des türkischen Staates seien.

Während er jedoch an die Öffentlichkeit appellierte, diese Unterscheidungen zu beachten, spornte er weiterhin die antijüdischen Aktivisten an, indem er anti-semitische Stereotype wiederholte. Vor seinem rhetorischen Ausbruch vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2009 gab es Signale, die die bevorste-hende Krise ankündigten. Zwölf Tage vor Davos äußerte Erdoğan sich folgender-maßen: „Es gibt eine Weltpresse unter israelischer Kontrolle. Das muss explizit betont werden. Tatsächlich würde der Konflikt in einem ganz anderen Licht er-scheinen, wenn die Medien objektiv wären, aber niemand erhebt seine Stimme.

Niemand sagt stopp zu dieser Unmenschlichkeit.“12

In einem anderen Statement nahm Erdoğan erneut Bezug auf die Juden.

Eigentlich wollte er ihnen ein Kompliment machen, tatsächlich aber handelte es sich um ein weiteres antisemitisches Stereotyp. In seiner Eröffnungsansprache an der Technischen Universität Yıldız im Oktober 2009 ließ er Folgendes verlauten:

„Meiner Meinung nach gibt es drei wichtige Kriterien für Erfolg: Menschen steu-ern, Wissen steusteu-ern, Finanzen steuern. Wenn wir dies erfolgreich bewerkstelligen, werden wir Wohlstand erlangen, gute Wissenschaftler hervorbringen und unsere Finanzen erfolgreich verwalten. Die Juden zum Beispiel sind sehr erfindungsreich.

Sie drucken Geld, wo immer sie sich befinden. Man kann das an der Geschichte 11 http://www.timesofisrael.com/turkish-mp-erdogans-anti-semitism-difficult-to-reverse/

(15. 9. 2013).

12 Rıfat N. Bali, Antisemitism and Conspiracy Theories in Turkey, Istanbul 2013, S. 356.

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des Telefons und der Glühbirne sehen. Sie ziehen daraus noch immer Gewinn.

Als Bürgermeister von Istanbul habe ich die jüdischen Bürger der Stadt studiert.

Die meisten besitzen keine eigenen Gebäude, sondern mieten in den besten Lagen, weil Immobilienbesitz das Geld an einem Ort bindet, während man als Mieter mit seinen liquiden Mitteln Geld verdienen kann.“13

Die AKP und Erdoğans ideologische Wurzeln

Um zu verstehen, weshalb Erdoğans Äußerungen Israel und Juden betreffend eine Wiederholung antisemitischer Stereotype sind, hilft ein Blick auf die ideologischen Wurzeln von Erdoğan und seiner Partei, die in der Bewegung der Nationalen Sicht (Millî Görüş) liegen. Deren Rhetorik ist reich an antisemitischen Themen und Theo rien, darunter die These, das Osmanische Reich sei infolge einer Verschwö-rung von Zionisten und Dönme, Mitglieder einer krypto-jüdischen kabbalisti-schen Religionsgruppe in der Türkei, zusammengebrochen. Dieser Imagination zufolge bildeten die Dönme oder Krypto-Juden in den Anfangsjahren der Türki-schen Republik die Regierungselite und übten noch heute einen dominierenden Einfluss aus. Sie werden als glühende Anwälte und Wächter eines militanten Säku-larismus und folglich als größtes Hindernis für die Islamisierung der Türkischen Republik angesehen.14

Weitere populäre und häufig angesprochene Themen sind:

– Der Zionismus ist eine rassistische und imperialistische Ideologie, die sogar eine Expansion nach Anatolien vorsieht.

– Israel ist ein illegitimer Staat.

– Die Juden beherrschen die Medien und Hollywood.

Andere Ursachen sind der linke Antizionismus (Israel als Instrument des US-Imperialismus im Mittleren Osten) und die nationalistische Rechte mit viel Empathie für die Nationalsozialisten.

13 Ebenda.

14 Jacob M. Landau, Politics and Islam. The National Salvation Party in Turkey, Salt Lake City 1976, S. 76.

Ursachen für den zunehmenden Antisemitismus in der Türkei

Antisemitische Publikationen und Verschwörungstheorien, die seit Jahrzehnten in der türkischen Gesellschaft zirkulieren und während der AKP-Regierung sowie nach dem Einmarsch in den Irak an Bedeutung gewonnen haben, heizen die Stim-mung an. Journalisten und Autoren, die antisemitische Verschwörungstheorien und Rhetorik verbreiten, finden in der türkischen Gesellschaft als Wissenschaftler und Intellektuelle Anerkennung. Durch die tolerante und nachsichtige Haltung der Regierung gegenüber dem Antisemitismus wird solchen Tendenzen kein Ein-halt geboten. Einen gewissen, wenn auch nur geringen Anteil zumindest an der un-widersprochenen Verbreitung antisemitischer Stereotypen hat die lange verfolgte Politik der offiziellen wie auch der inoffiziellen Führung der jüdischen Gemein-den, eine Existenz des Antisemitismus öffentlich zu leugnen, im privaten Raum aber gleichzeitig darüber zu klagen und die höchsten Regierungsstellen in Ankara um Hilfe zu bitten. Die Logik hinter dieser Strategie war folgende: Die türkische jüdische Gemeinde sollte die Aktivitäten der Türkischen Republik für ein besse-res Image des Landes, besonders in den USA, unterstützen.15 Zum Beispiel waren und sind die Funktionäre der türkischen Juden in politische Verhandlungen ein-gebunden, die den amerikanischen Kongress davon überzeugen wollen, dass er die alljährlich eingebrachten Resolutionen zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nicht verabschiedet. Sie propagieren fortlaufend die Botschaft, dass sowohl das Osmanische Reich als auch die Türkische Republik immer ein Hort der Toleranz für seine Minderheiten waren. Infolge dieser Politik eines öffentlichen Leugnens des Antisemitismus rückten die wenigen Menschenrechtsaktivisten, die sensibel für den Antisemitismus sind, von der jüdischen Gemeinde ab. Sie isolierte sich außerdem von den anderen Minderheiten wie den Griechen, Armeniern und Kurden, die für ihre Rechte kämpften und die vergangenen und gegenwärtigen türkischen Regierungen öffentlich kritisieren.16

Seit 2009 wurde ein Rückgang der jüdischen Bevölkerung registriert; im Sep-tember 2010 fiel ihre Zahl auf 17 000. Vor der Gründung des Staates Israel 1948 lag die Zahl bei 120 000; 2005 waren es noch 23 000. Die meisten Juden, die die Türkei 15 Bali, Antisemitism and Conspiracy Theories, S. 96.

16 Ebenda, S. 97.

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verlassen, emigrieren nach Israel. Als Gründe werden Sorgen um die eigene Sicher-heit wegen des Anstiegs antisemitischer Ressentiments nach Ereignissen wie dem Libanonkrieg 2006, dem Krieg in Gaza 2008/2009 und dem Mavi-Marmara-Vor-fall im Mai 2010 genannt.17

Antisemitismus ist ein weltweites Phänomen. Aber im Unterschied zu anderen Staaten, in denen die großen meinungsbildenden Institutionen und Regierungen den Antisemitismus aktiv bekämpfen, verhalten sich jene in der Türkei passiv.

17 http://www.hasturktv.com/israilde_gundem/6427.htm (15. 9. 2013).

Gedenken an den Holocaust und