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Antizionismus und Antisemitismus in Großbritannien

Wie in vielen anderen Ländern wird Kritikern Israels mitunter auch in Groß-bri tannien in der Debatte über den jüdischen Staat, seine Existenz und Politik Anti semitismus vorgeworfen. Der folgende Beitrag thematisiert nicht nur diese Vorwürfe, sondern auch die Art und Weise, wie sie dementiert werden. Der Fokus richtet sich dabei auf die Auseinandersetzung zwischen Akademikern und Intellektuellen, die sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden.1

Beginnen wir den knappen Überblick mit der Broschüre „From Blood Libel to Boycott: Changing Faces of British Antisemitism“ des überaus produktiven und renommierten Historikers Robert Wistrich. Er kommt darin zu folgendem Schluss: „Angeführt von seinen liberalen linken Eliten sank Großbritannien während des letzten Jahrzehnts wie ein Schlafwandler in einen Morast aus anti-israelischer und antijüdischer Bigotterie, stellt diese Verfehlung aber vehement in Abrede.“2 An anderer Stelle bemüht Wistrich einen längeren historischen Prozess. In seinem 2010 erschienenen 1200-Seiten-Werk „A Lethal Obsession:

Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad“ schreibt er: „Seit 1967 hat der Antisemitismus den linken Diskurs [in Großbritannien] wieder erreicht, nicht nur wegen seines obsessiven Fokus auf die Sünden Israels, sondern weil er – ideologisch gesteuert – Juden, Judaismus und Zionismus als ärgstes Hindernis für den revolutionären Fortschritt herausgreift.“ Seit 1980 „wurde die radikale Linke Großbritanniens explizit oder implizit antisemitisch in ihrer Dämonisierung von Juden, ihrer Gleichsetzung von Zionismus mit Rassismus oder Nazismus und ihrem böswillige Aushöhlen jeglicher moralischen Grundlage für die Existenz Israels“, aber „ganze Schwaden der meinungsbildenden Medien, der britischen Politik und der akademischen Welt […] schenken dieser Dämonisierung Israels 1 Aus dem Englischen übersetzt von Angelika Königseder.

2 Robert Wistrich, From Blood Libel to Boycott. Changing Faces of British Antisemitism, Jerusalem 2011, S. 22.

und Amerikas starken Glauben“.3 Der berühmte Rechtsanwalt und angesehene Schriftsteller Anthony Julius stimmt dem zu. In seinem Werk „Trials of the Diaspora: A History of Anti-Semitism in England“ erklärt er: „Ein antisemitischer Antizionismus entstand in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren als Folge des Sechs-Tage-Krieges, seit den 1990er- und 2000er-Jahren ist er dominant.“4

Doch trotz größter Mühen von Wistrich, Julius sowie weiteren Gelehrten und Journalisten, Intellektuellen und Polemikern gibt es kein Einvernehmen darüber, ob die Feindschaft gegenüber Israel eng mit dem Antisemitismus verbunden ist.

Das Verhältnis von Antizionismus oder scharfer Kritik an Israel zum Antisemi-tismus ist weiterhin Gegenstand intensiver Debatten. Brian Klug räumte in einem 2003 veröffentlichten Aufsatz ein, dass Israel manchmal mit ausgesprochen an-tisemitischen Begriffen attackiert wird. Dennoch zieht er den Schluss, dass „die empirischen Beweise überwiegend die Position stützen, dass Feindschaft gegen-über Israel im Grunde keine neue Form des Antisemitismus darstellt, sondern in Zusammenhang mit einem tiefen und erbittert geführten politischen Konflikt steht“.5 Ganz ähnlich argumentiert Jonathan Judaken mit Blick auf die Situati-on in Europa: „die Formel, ‚AntiziSituati-onismus ist antisemitisch‘“, vereinfache allzu sehr. Er ist der Meinung, dass im Falle solcher Anschuldigungen anstelle von Wissenschaft eine Doktrin oder mindestens beides zugleich im Spiel sei. „Wir müssen die politische Agenda jener betrachten, die glauben, dass eine unheilige Allianz von Roten, Grünen und Djihadisten einen neuen Antisemitismus för-dert“,6 mahnt Judaken.

Typischerweise werden Interventionen in diesen Debatten als globale politi-sche Einmischung verstanden, ebenso wie wissenschaftliche Einwände als Ein-mischung in intellektuelle Anstrengungen gesehen werden. Deshalb wird diese Diskussion so leidenschaftlich geführt und nimmt gelegentlich auch hässliche 3 Robert S. Wistrich, A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global

Jihad, New York 2010, S. 383, 386.

4 Anthony Julius, Trials of the Diaspora. A History of Anti-Semitism in England, Oxford 2010, S. 441.

5 Brian Klug, The collective Jew: Israel and the new antisemitism, in: Patterns of Prejudice 37 (2003) 2, S. 133 f.

6 Jonathan Judaken, So what’s new? Rethinking the „new antisemitism“ in a global age, in:

Patterns of Prejudice 42 (2008) 4–5, S. 533.

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Formen an. Wistrich prangert die „nihilistische Torheit […] progressiver Juden“

an, „die von einem selbstgefälligen Narzissmus ebenso wie von Selbsthass ange-trieben werden“. Von der Gegenseite hagelt es „Paranoia“-Vorwürfe.7 Wenn aller-dings ein derartiger Schlagabtausch zur Folge hat, dass einem Diskutanten Arglist oder Geisteskrankheit vorgeworfen wird, ist das ein hoher Preis. Damit ist näm-lich eine Voraussetzung für einen intellektuellen Austausch nicht erfüllt, und zwar dass sich die Teilnehmer als Gesprächspartner respektieren und sich aufrichtig um Wissen und Einsicht bemühen. Polemik hat ihren Platz und ihre Zeit, aber wir sollten begreifen, dass Polemiker, wenigstens rhetorisch, danach trachten, ihre Gegner zu vernichten. Wer sich in der momentanen Situation in diese Ausein-andersetzung begibt und davon ausgeht, die Diskussion argumentativ so been-den zu können, dass sie für die eine Seite siegreich verläuft und für die andere in einer kläglichen politischen und intellektuellen Niederlage mündet, lässt beide enttäuscht und missbraucht zurück.

Es geht hier nicht darum, zu den Waffen zu greifen und als direkter Kombattant in die Schlacht zu ziehen, sondern einen Denkprozess anzustoßen. Dabei stellen sich folgende Fragen: Ist die britische Linke tatsächlich antizionistisch geworden?

Wie wird Antisemitismus definiert und in diesen Debatten verstanden? Was steht auf dem Spiel, wenn Menschen sich über die Rolle, die der Antisemitismus im Diskurs über Israel spielt, uneins sind? Diese Fragen gehen ein wenig über die Inhalte hinaus, an die wir uns in der Kontroverse gewöhnt haben.

Jegliche Beurteilung der Positionen der britischen Linken gegenüber dem Zionismus muss sich auf die Labour Party konzentrieren; sie dominiert seit mehr als einem Jahrhundert die linke Politik in Großbritannien. In den 50 Jahren, die auf die Balfour-Deklaration folgten, befürwortete die Labour Party den Zionismus nicht deshalb, weil sie anerkannte, dass dieser für die Juden notwendig sei. Die Unterstützung resultierte vielmehr daraus, dass die Zionisten, so eine verbreitete Meinung, als europäische Siedler einem Teil der Welt, der in Bezug auf die ökonomische Entwicklung, die politische und soziale Organisationsform sowie die religiösen Praktiken noch in mittelalterlicher Rückständigkeit verharrte, eine höhere Stufe der Zivilisation brachten. Die Kombination von technologischem 7 Wistrich, From Blood Libel, S. 22; Steven Beller, In Zion’s Hall of Mirrors: a comment on

Neuer Antisemitismus, in: Patterns of Prejudice 41 (2007) 2, S. 217.

Fortschritt und sozialistischer Organisation – sowohl in den Kibbuzim wie in den Gewerk schaften – machte sie zu besonders begehrten Bündnispartnern bei der globalen Mission Großbritanniens.8

Bei der marxistischen, revolutionären und radikalen Linken war die Kritik an Israel als illegitimer, kolonialistischer und inhärent rassistischer Staat seit den 1960er-Jahren in der Tat ein Argument. Aber diese kategorisch antizionistische Behauptung war damals nicht Bestandteil der Israel-Kritik vonseiten der Labour Party – nicht einmal ihres linken Flügels. In welchem Maße die Labour-Linken von der Legitimität Israels überzeugt waren, wurde in einem Interview mit Tony Benn deutlich, das 1984 während der Kampagne der Arbeiterbewegung für Paläs-tina im Newsletter der Partei erschien. Tony Benn war damals die Führungsfigur der Labour-Linken im Parlament und versuchte, die Labour Party davon zu über-zeugen, dass sie sich der außerparlamentarischen Opposition gegen die konser-vative Regierung unter Margaret Thatcher anschloss. Das brachte ihn zwangsläufig in engen Kontakt mit der revolutionären Linken. Die Interviewer, die diesem Spek-trum angehörten, versuchten, Benn davon zu überzeugen, dass Israel und der Zio-nismus „immer als Verbündete des Imperialismus agierten“. Benn weigerte sich, einer Nicht-Anerkennung des Staates Israel zuzustimmen: „Ich bin für einen jüdi-schen Staat und glaube, dass es den Juden zusteht, in Israel in Sicherheit zu leben.

Ich bin nicht der Meinung, dass Kritik an einzelnen politischen Punkten benutzt werden kann, um Israel zu zerstören.“ Die Idee eines bi-nationalen Staates lehnte er ab. Er glaubte fest daran, „dass den Juden ihr eigenes Land zusteht“.9 Nach Benns Überzeugung hatten sowohl die Palästinenser als auch die Juden Anspruch auf Selbstbestimmung und ein Heimatland. In der Tat entsprach dies der Position der Labour Party seit den 1980er-Jahren weit mehr als ein prinzipientreuer und durch-gängiger Antizionismus. Ein Antrag, der jeweils auf den Parteitagen 1988 und 1989 gestellt wurde, forderte im Kontext der Intifada die Anerkennung des Selbst-bestimmungsrechts für das palästinensische und das israelische Volk. Bis zum heu-tigen Tag hat kein Parlamentsmitglied von Labour öffentlich die Ein-Staat-Lösung unterstützt. Alle bejahen das Existenzrecht Israels in zu verteidigenden Grenzen.

8 Auf diese Frage werde ich in meinem Artikel „The Labour Party and Zionism“ eingehen, der in „Jewish History After the Imperial Turn: French and Comparative Perspectives“

erscheinen wird.

9 Labour Party Campaign for Palestine, in: Newsletter 1 (1984), S. 3.

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Je nach politischer Einstellung kann man diese Position begrüßen oder ablehnen, aber man kann sie gewiss nicht als antizionistisch beschreiben, jedenfalls nicht bei einer sinnvollen Verwendung des Begriffs. Wistrich und Julius sind insofern, als sie ein Bild zeichnen, nach dem die britischen liberalen und linken Eliten einem antisemitischen Antizionismus anhingen, keine zuverlässigen Ratgeber.

Auch wenn kein prinzipientreuer Antizionismus befürwortet wird, kann die Kritik an Israel dennoch einen antisemitischen Charakter aufweisen: Zum Beispiel, wenn an das Land doppelte Standards angelegt werden, es dämonisiert wird oder antisemitische Themen und Bilder (etwa Bilder von Juden, die angeblich im Verbor-genen einen sinisteren Einfluss ausüben) im Diskurs über Israel auftauchen. Kritik an Israel ist häufig gegen Juden im Allgemeinen gerichtet, und einige Kampagnen, vor allem die Boykottbewegung gegen Israel, sind per definitionem antisemitisch.

Am Beispiel der Boykottbewegung gegen Israel lassen sich die auch hier in-teressanterweise vertretenen unterschiedlichen Positionen deutlich machen. Die eine Seite betrachtet die Bewegung als jüngstes Glied einer langen schändlichen Reihe antisemitischer Boykotte, deren historische Präzedenzfälle im Rahmen nationalistischer Bewegungen in Ost- und Mitteleuropa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegen Juden stattfanden und im nationalsozialistischen Boykott gegen jüdische Geschäfte gipfelten. Die meisten Anhänger der heutigen Boykott-bewegung wollen sich jedoch nicht als antisemitisch verstanden wissen. Im Ge-genteil – bezeichnenderweise führen sie als Motiv an, dass dieser Boykott der letzte Schritt in einer langen und verdienstvollen Geschichte von Boykottbewegungen für die Sache der Menschenrechte sei. In der Regel vergleichen sie den Boykott gegen Israel mit Kampagnen gegen die Apartheid und verweisen darauf, dass es im 20. Jahrhundert auch Boykotte in der Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staa-ten als Protest gegen die Verfolgung der Juden durch die NationalsozialisStaa-ten sowie als eine Form von Widerstand und Mobilisierung gegen den Kolonialismus gab.10

Offensichtlich ist, dass die voneinander abweichenden Beurteilungen, ob etwas antisemitisch ist oder nicht, eng mit unterschiedlichen Positionen zur zionistischen Idee, zu Politik und Vorgehensweise des israelischen Staates, über die Rechte (und 10 Vgl. zur Charakterisierung der Boykottbewegung gegen Israel als per definitionem

anti-semitisch: Julius, Trials of the Diaspora, S. 483. Ein breiterer Zugang zur Geschichte von Boykotten wurde auf der Konferenz „Boycotts: Past and Present“ in Birkbeck, University of London, vom 19.–21. Juni 2013 diskutiert.

Fehler) der Palästinenser sowie über die Rechte und Fehler der israelischen Besat-zung und Siedlungspolitik seit 1967 zusammenhängen. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt, der zwar weniger Beachtung in diesen Diskussionen findet, aber genauso wichtig ist, und zwar die weitverbreitete, aber nicht eingestandene Un-einigkeit über die Natur und den Charakter des Antisemitismus.

Im Vereinigten Königreich zum Beispiel wird der Begriff Antisemitismus in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Erstens steht er für die traditionelle Verwendung des Begriffs und fokussiert sich auf die Feindschaft ge-genüber Juden als Juden.11 Danach ist jeder Angriff auf Juden, als Juden, per defini-tionem antisemitisch. Diese Engführung birgt allerdings Schwierigkeiten. Was geschieht, wenn Juden bei Handlungen, die als jüdisch begriffen werden, mit einer weithin akzeptierten Verhaltensnorm brechen? Ist der Angriff auf sie in diesem Fall dann zwangsläufig antisemitisch? Deshalb konzentriert sich der britische Philo-soph Brian Klug in seinem Beitrag „The collective Jew“ aus dem Jahr 2003 nicht nur auf die Feindschaft gegenüber Juden, sondern auf Feindseligkeiten, die ihre Ursache in der vorurteilsbehafteten Haltung der Täter haben. Folglich definiert er Antisemitismus als „eine Form von Feindschaft gegenüber Juden als Juden, in der Juden als etwas anders begriffen werden als sie sind. […] Die Überzeugung, dass Juden als ‚Juden‘ wahrgenommen werden, ist das Kernstück des Antisemitismus.“12

Die zweite Verwendung des Begriffs Antisemitismus, die in Großbritannien kursiert, ist im Gegensatz zur ersten neu und hängt eng mit der Diskussion zu-sammen, die Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger während der vergangenen zwei Jahrzehnte über Rassismus und den „racial disadvantage“ führ-ten. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt nicht auf der Absicht des Täters, sondern auf dem Handlungsresultat. Daraus ging der Begriff institutioneller (auch: struk-tureller) Rassismus hervor. Demzufolge ist die überproportional hohe Zahl an jungen schwarzen Männern in britischen Gefängnissen institutionell rassistisch, unabhängig von den Auffassungen und Absichten irgendeines Amtsträgers bei der Polizei, Justiz und beim Gefängnispersonal. Dieses Konzept des „institutionellen Rassismus“ wird zum Beispiel im Zusammenhang mit der Boykottkampagne der 11 Vgl. dazu Tony Kushner, The persistence of prejudice. Antisemitism in British society

during the Second World War, Manchester 1989, S. 2–13.

12 Klug, The collective Jew, S. 124 f.

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Gewerkschaft „University and College Union“ (UCU)13 in Großbritannien gegen Israel deutlich. Mehrere jüdisch-britische Funktionäre, unterstützt von Eric Pickles, einem Minister der konservativen Regierung, warfen der UCU darauf-hin im Jahr 2011 institutionellen Rassismus vor. Der Soziologe und Aktivist David Hirsh griff dies auf und kommentierte: „Niemand in der Union hasst Juden; es handelt sich nicht um diese Art von Antisemitismus. Institutioneller Antisemitis-mus […] schafft ein Milieu innerhalb der Union, das Juden gegenüber feindlich ist, selbst wenn niemand ein solches Milieu zu schaffen beabsichtigt.“14

Schließlich kursiert noch ein dritter Antisemitismusbegriff. Er ist ebenfalls im breiteren Kontext des Rassismus verortet, rückt aber die Emotionen des Opfers eines rassistischen oder antisemitischen Angriffs ins Zentrum. Im Zusammenhang mit der Debatte in der UCU intervenierte zum Beispiel im Jahr 2011 der Vorsitzende der

„Equality and Human Rights Commission“, Trevor Phillips. Er griff einen Gedan-ken des sogenannten Macpherson-Berichts – eine 1999 vorgelegte Untersuchung über die Polizei in Großbritannien – auf und konstatierte: „Wenn das Objekt einer Belästigung oder eines Angriffs seine Behandlung als antisemitisch empfindet […], dann ist die Vermutung, dass die Wahrnehmung der Opfer den Vorfall definiert.“15

Es gibt also mindestens drei ziemlich unterschiedliche Antisemitismus-begriffe: Sind die Vorstellungen des Täters zentral? Oder die Ergebnisse der Tat, die unabhängig von Vorstellungen und Sprache entstehen? Oder die Wahrnehmung des Opfers? Weil wir uns in den meisten Fällen dieser Meinungsvielfalt gar nicht bewusst sind, verläuft die Diskussion über Antisemitismus häufig ziemlich konfus.

Der gleiche Begriff – Antisemitismus – umfasst eine Vielzahl von Bedeutun-gen, die aber nicht in jedem Fall unbedingt kompatibel sind. Folglich ist es nicht überraschend, dass Menschen in gutem Glauben unterschiedlicher Meinung sind, ob etwas antisemitisch ist oder nicht. Die Auseinandersetzung zwischen Befürwor-tern und Gegnern eines Boykotts gegen Israel in Großbritannien ist unter anderem ein Konflikt konkurrierender Antisemitismus-Definitionen. Die Boykott-Befür-13 Gewerkschaft und Berufsverband für Akademiker, Hochschullehrer, Ausbilder, Forscher

und sonstiges akademisches Personal.

14 Jewish Chronicle, 2. und 30. 6. 2011; David Hirsh, Tories target UCU’s weakspot, 1. 7.

2011, http://engageonline.wordpress.com/2011/07/01/this-is-embarassing-tories-come- for-ucus-weakspot/ (15. 7. 2014).

15 Jewish Chronicle, 27. 5. 2011.

worter stützen sich auf eine traditionelle Definition des Begriffs, ihre Gegner eher auf neuere Konzepte. Wenn Menschen uneins über Antisemitismus sind, liegt die Ursache häufig darin, dass sie über unterschiedliche Phänomene und Prozesse sprechen, die aber nichtsdestotrotz mit dem gleichen Begriff belegt werden.

Diese Unschärfe wird nicht nur bei Themen deutlich, die Israel betreffen. Ähn-liche Diskussionen über die Existenz bzw. Nicht-Existenz von Antisemitismus finden wir auch in Debatten zur Beschneidung, zum rituellen Schächten und bei den Fans des Fußballclubs „Tottenham Hotspur“, die sich selbst die „yid army“

nennen.16 Zudem sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass die Bedeutung des Be-griffs Antisemitismus nicht nur umstritten ist, sondern sich über die Zeit auch verändert hat. Hier sei nur daran erinnert, dass der Begriff Antisemitismus in Großbritannien vor 1914 in der Regel nicht im Zusammenhang mit Pogromen verwendet wurde. Mit dem Begriff Antisemitismus wurde den britischen Juden in modernen Gesellschaften eine doppelte Loyalität vorgeworfen: die Idee, dass Juden keine patriotischen Gefühle für die Staaten entwickeln könnten, in denen sie for-mal die bürgerliche und politische Gleichberechtigung erlangt hatten.17

Die Bedeutung des Begriffs Antisemitismus kann nicht losgelöst von Ge-schichte oder aktueller Politik betrachtet werden. Daraus resultiert die Frage, wie Wissenschaftler und Intellektuelle vorgehen sollen, wenn sie sich dem Gegenstand nähern. Ich für mich bin der Überzeugung, dass ich – statt mich in einer uner-giebigen und erbitterten Diskussion über die endgültige Bedeutung des Begriffs Antisemitismus zu verzetteln – sinnvoller damit beschäftigt bin zu erforschen, wer den Begriff mit welcher Bedeutung und zu welchem Zweck benutzt. Das Konzept des Antisemitismus ist so sehr Teil der Geschichte wie das Phänomen, nach dem er trachtet. Karl Marx schrieb bekanntlich in „Die Deutsche Ideologie“: Die Philo-sophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Bei den Antisemitismusforschern mag der Fall umgekehrt liegen. Wir haben versucht, die Welt zu verändern, aber vielleicht sollten wir sie besser zu-nächst interpretieren.

16 Ethnicity should have nothing to do with football identity, in: Left Foot Forward, 18. 9. 2013, http://www.leftfootforward.org/2013/09/spurs-yid-antisemitism (15. 7. 2014).

17 Michel Miller, Conference Report: „Antisemitism: A Useful Category of Analysis?“ (Je-rusalem, July 29, 2013) http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=H- Anti semitism&month=1308&week&msg=3GM7p14gUH4lAiYU5rO9Fw (15. 7. 2014).