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Gedenken an den Holocaust und Antisemitismus in Litauen

Die Kehrseite der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

Lange Zeit oblag die Erinnerung an den Holocaust in Litauen der kleinen litauisch-jüdischen Gemeinde. Sie vertritt eine zahlenmäßig sehr geringe Minderheit, weil 250 000 Juden – 95 Prozent des litauischen Judentums – im Holocaust ermordet wurden.1 Nur etwa 5000 litauische Juden überlebten die Verfolgung; die Mehrheit von ihnen wanderte schließlich aus. Die meisten Juden, die den Krieg überlebt hatten, vor allem jene in den westlichen Besatzungszonen, kehrten nicht nach Litauen zurück. Die emigrierten litauischen Juden gründeten jüdische Organisationen und Landsmannschaften und pflegten ihre Kultur nun in anderen Teilen der Welt. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Lipphardt hat eine transnationale Beziehungsgeschichte der Vilner2 Juden nach dem Holocaust verfasst, eine Geschichte, die New York, Tel Aviv und Vilnius verbindet.3 In meiner Dissertation beschäftige ich mich ebenfalls mit der litauisch-jüdischen Diaspora und betrachte ihre Dokumentarfilme als eine bestimmte Form des Umgangs mit der Vergangenheit.4 Bis heute wird die Erinnerung an den Holocaust in Litauen 1 Aus dem Englischen übersetzt von Angelika Königseder.

2 Der litauische Name lautet Vilnius. Die litauische Hauptstadt hat viele Namen: auf Deutsch Wilna, auf Polnisch Wilno, auf Jiddisch Vilne, auf Weißrussisch Vilnia und auf Russisch Vilna, es gibt auch im Englischen das Toponym Vilna. In diesem Text wird der Name entsprechend der Perioden und Kontexte gebraucht. Wenn von jiddischer Kultur und Identität die Rede ist, wird Vilne verwendet. Wilna hingegen wird dann eingesetzt, wenn die heutige litauische Hauptstadt ein Teil Polens war. In allen anderen Kontexten wird die litauische Name Vilnius benutzt.

3 Anna Lipphardt, Vilne. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte, Paderborn 2006.

4 Vorläufiger Titel: Mediale Erinnerungen an den Holocaust in Litauen nach 1990: zwi-schen nationalen und transnationalen Narrativen, Humboldt-Universität zu Berlin.

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von einer Minderheit getragen und hauptsächlich von Formen des Gedenkens in der Diaspora und der kleinen litauisch-jüdischen Gemeinde geprägt und dabei gelegentlich – besonders bei Gedenkveranstaltungen – vom litauischen Staat unterstützt.

Das Jahr 2013 zum Beispiel stand nicht nur im Zeichen der litauischen Präsidentschaft der Europäischen Union, sondern wurde auch zum Jahr der Erinnerung an das Ghetto Vilnius, damals Ghetto Wilna, ausgerufen.

Anlässlich des 70. Jahrestages der Liquidierung des Ghettos Wilna fanden in verschiedenen staatlichen Institutionen, darunter dem litauischen Parlament und dem Außenministerium, Gedenkveranstaltungen statt. Staatliche Vertreter reisten auch in andere Länder, einschließlich Deutschlands, wo Ende Oktober 2013 eine Konferenz „Wilna–Wilno–Vilnius. Das jiddische Vilne – Eine Topo-grafie zwischen Moderne und Mythos“ stattfand. Es war nicht allein eine akademische Tagung, der litauische Kulturminister und der Bürgermeister von Vilnius äußerten sich in ihren Begrüßungsworten und Reden auch politisch. All dies zeigt ein starkes und zunehmendes Interesse der politischen Institutionen Litauens und ihrer Vertreter am Gedenken an den Holocaust, das zweifelsohne mit der Erinnerungspolitik zusammenhängt. Durch die Ausprägung einer neuen Kultur der Erinnerung an den Holocaust soll das Ansehen Litauens in der westlichen Welt, das in den vergangenen Jahrzehnten infolge des manchmal sogar vom litauischen Staat beförderten Antisemitismus Schaden genommen hatte, verbessert werden.

In diesem Beitrag stelle ich kurz die litauische Erinnerung an den Holocaust vor und konzentriere mich dabei auf die zweifache Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Geschichtsschreibung und die umstrittenen Helden des anti-sowjetischen Widerstands. Dann stelle ich den Fall des Antisemitismus vor, bei dem in Litauen Holocaustopfer zu Tätern gemacht werden. Damit ist auch eines der schwierigsten und komplexesten Themen der litauischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg angesprochen: der jüdische Widerstand. Die De-batte um die Erinnerung an den jüdischen Widerstand ermöglicht es, zwei unterschied liche Erinnerungskulturen – die sowjetische Erinnerung an den Holocaust in Litauen und die neue postsowjetische Erinnerungskultur – in den Blick zu nehmen.

Von antisemitischen „Helden“ zu jüdischen „Tätern“

Geschichtsschreibung, der Prozess des Nation Building und antisemitisches „Heldentum“

Nach der Auflösung der Sowjetunion war die Konstruktion von Erinnerung einer der bedeutsamsten Prozesse in Litauen. Die Idee des Nation Building vereinte unterschiedliche Erinnerungsnarrative. Die Erinnerungen an die sow-jetische Besatzung, die während des Kalten Krieges ausgeblendet worden wa-ren, gewannen an Bedeutung, und es entwickelte sich ein nationales Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Das sowjetische Regime hinterließ jedoch sein Erbe.

Die litauische Geschichte wurde aus der Perspektive einer Nation geschrieben, was neue Formen der Kolonisation heraufbeschwor. Der Holocaust in Litauen wurde marginalisiert.

Nach der litauischen Unabhängigkeit dominierten in vielen Familien die sta-linistischen Deportationen und der Widerstand gegen die sowjetische Gewalt die Erinnerung. Das vereinte nicht nur mehrere Generationen, sondern auch verschie-dene Erinnerungsgemeinschaften wie die politischen Gefangenen, Partisanen und den antikommunistischen Widerstand. Darüber wurden die Gräuel des Holocaust vergessen, weil sie sich nicht in den Rahmen der litauischen Nationalität und seiner neu definierten nationalen Identität einfügen ließen. Persönliche Erinnerungen, die während der Sowjetherrschaft keine Anerkennung erfahren hatten, wurden nun ein Eckpfeiler des Nation-Building-Prozesses. Die „Schicksalsgemeinschaft“5 war geschaffen.

Die Erinnerung an die stalinistische Repression während der Jahre des natio-nalen Widerstands verwandelte sich in ein „staatlich unterstütztes Gedenken an einen ‚sowjetischen Völkermord‘“.6 Litauen nahm als einziges Land eine erweiterte Definition des Völkermordbegriffs in sein Strafgesetzbuch auf und definierte die 5 Dovilė Budrytė, Integration or Exclusion? Historical Memory and State Building in the Baltic States, 3rd EUSTORY Conference, 7–9 March 2003, Budapest, S. 1–5, hier S. 2, in:

eustory.de, http://www.eustory.de/root/img/pool/bilder_fuer_conferences/pdf/ Bydryte_

paper.pdf (10. Mai 2012).

6 Dovilė Budrytė, „We call it genocide“: Soviet Deportations and Repression in the Memo-ry of Lithuanians, in: Robert Seitz Frey (Hrsg.), The Genocidal Temptation: Auschwitz, Hiroshima, Rwanda and Beyond, Lanham 2004, S. 79–100, hier S. 79.

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sowjetischen Verbrechen an litauischen Bürgern als genozidale Gewalt.7 Dovile Budryte, Professor für Politikwissenschaften, konstatierte, dass die Paradigmen Genozid sowie „Kämpfen und Leiden“ während der Jahre des Wiederauflebens des Nationalismus zu den populärsten Erklärungen der Vergangenheit gerieten;

später wurde dies in die institutionalisierte Geschichte des Landes transformiert.8 Zudem thematisierten Dokumentar- und Kinofilme den Partisanenkampf und

„litauisches Leiden“.9

In der litauischen Geschichtsschreibung wurden die Partisanen als idealis-tische Kämpfer, die „am gemeinsamen Kampf für die Ideale von Freiheit und Humanität mitgewirkt hatten“, rezipiert und verklärt.10 Jegliche Debatte über ihre mögliche Täterschaft und Kollaboration blieb aus. Der litauische Historiker Egidi-jus Aleksandravičius beobachtet, dass „die Scham über die Kollaboration häufig in den Preis für die Freiheit eingeschlossen wurde“ und in Litauen stets eine Span-nung zwischen Kollaboration und Widerstand auftrat.11 Diese Interpretation der 7 Justinas Žilinskas, Genocidas – sąvokos traktuotė Lietuvoje ir užsienyje, in: Genocidas

ir Rezistencija 2 (2001) 10, S. 109–115.

8 Budrytė, „We call it genocide“, S. 88.

9 Die bekanntesten litauischen Filme über die sowjetische Besatzung sind folgende: Kino-filme: Mėnulio Lietuva (Lunar Lithuania, LT 1997; dir: Gytis Lukšas); Vienui Vieni (Utter ly Alone, LT 2004; dir: Jonas Vaitkus); Kai aš buvau partizanas (When I Was a Par-tisan, LT 2008; dir: Vytautas V. Landsbergis). Dokumentarfilme (Auswahl): Karlagas – mirties žemė (Karlag Is My Land, LT 1990; dir: Vitalis Gruodis); Šiaurės Golgota (The Golgotha of the North, LT 1991; dir: Romualdas Šliažas); Sibiro Lietuva (The Lithuania of Siberia, LT 1993; dir: Petras Abukevičius /Vytautas Damaševičius); Birželio ledas (The Ice of June, LT 2001; dir: Raimundas Kaminskas); Važiuojam iš ukvatos (We are going from ukvat, LT 2006; dir: Gintautas Alekna); Gyveno senelis ir bobutė (Once Live Grandfather and Grandmother, LT 2007; dir: Giedrė Beinoriūtė); Sibiro testamentas (The Testament of Siberia, LT 2008; dir: Gintaras Makarevičius); Partizanai (Partisans, LT 1993; dir: Ed-mundas Zubavičius); Partizanės (Partisan Women, LT 1995; dir: EdEd-mundas Zubavičius);

Ketvirtasis prezidentas (The Fourth President, LT 1995; dir. Juozas Sabolius, Eugenijus Ignatavičius); Karas po karo (War After War, LT 1998; dir: Edmundas Zubavičius); Gin-kluotas pasipriešinimas (Armed Resistance, LT 1999; dir: Aleksandras Digimas).

10 Dalia Kuodytė/Rokas Tracevskis, The Unknown War: Armed anti-Soviet Resistance in Lithuania in 1944–1953, Vilnius 2006, S. 50.

11 Egidijus Aleksandravičius, Lithuanian collaboration with the Nazis and the Soviets, in:

Joachim Tauber (Hrsg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 174.

Geschichte findet sich auch bei Sužiedėlis, der behauptet, dass die prodeutsche Orientierung Litauens durch den antistalinistischen Widerstand befördert wurde und Teil des neuen litauischen Nationalismus war.12 Dieser neue Nationalismus machte sich einerseits die „christliche Ethik“ zu eigen, unterstützte die Kirche und betonte die Ideale eines friedlichen „Neuen Europa“, in dem die kleinen Natio-nen ein wichtiges Element darstellten.13 Andererseits hing er auch faschistischen, autoritären Ideen an und beförderte antisemitische Einstellungen gegenüber den litauischen Juden.

Die Kollaboration in Litauen hatte auf zwei Ebenen stattgefunden: der diskur-siven, die ihren Ausdruck in den ideologischen Positionen der rechtsextremen Denker, der provisorischen Regierung14 und der Litauischen Aktivistenfront15 fand, und der realen, die sich in der aktiven Beteiligung an der Ermordung der Juden durch litauische Polizeibataillone, paramilitärische Kräfte und einfache Bürger, oft Nachbarn, manifestierte. Historische Ereignisse wie der antisowjeti-sche Aufstand 1941, der sowohl den Sieg über die Sowjets als auch den Beginn des Holocaust markiert, ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der litauischen Geschichte. Einige litauische Weltkriegshelden und antisowjetische

Widerstands-12 Saulius Sužiedėlis, Foreign Saviors, Native Disciples: Perspectives, in: David Gaunt/Paul A. Levine/Laura Palosuo (Hrsg.), Collaboration and Resistance During the Holocaust.

Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Bern u. a. 2004, S. 333.

13 Ebenda, S. 335.

14 Die provisorische Regierung Litauens war eine Übergangsregierung mit dem Ziel, die Unabhängigkeit Litauens wiederherzustellen. Sie wurde aus Mitgliedern der Litauischen Aktivistenfront (lit. Lietuvos Aktyvistų Frontas, LAF) während der letzten Tage der sow-jetischen Besatzung, im Juni 1941, gebildet; Ministerpräsident war Juozas Ambrazevičius.

In der ersten Woche der NS-Besatzung kooperierte die provisorische Regierung mit dem NS-Regime. Die Regierung wurde am 13. August 1941 abgelöst.

15 Die Litauische Aktivistenfront war 1940 in Berlin von litauischen Exilanten und ehema-ligen Diplomaten gegründet worden und wurde von dem litauischen Diplomaten Kazys Škirpa geleitet. Ziel der LAF war die Befreiung Litauens und die Widerherstellung der Unabhängigkeit. Die LAF hat durch die Einführung verschiedener antijüdischer Re-gelungen und die Beeinflussung litauischer Medien litauische Juden diskriminiert. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten hat eine Reihe von LAF-Aktivisten mit dem NS-Regime kollaboriert, insbesondere mit der Einsatzgruppe 3, und war aktiv am Massenmord an den Juden beteiligt.

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kämpfer können jedoch nicht als Freiheitskämpfer verklärt werden, sie waren zu-gleich Antisemiten oder sogar Kollaborateure mit dem NS-Regime.

Das Erbe der sowjetischen Erinnerung, jüdischer Widerstand und „Täterschaft“

Während des Zweiten Weltkriegs gab es nicht nur antisowjetischen, sondern auch Widerstand gegen die Nationalsozialisten, in dem hauptsächlich litauische Juden in den Ghettos und nahe gelegenen Wäldern aktiv waren. Der litauisch-jüdische Widerstand umfasste sowohl den Kampf um Selbstbehauptung als auch bewaffnete Auseinandersetzungen. Berühmte Kämpfer wie Abba Kovner, Itsik Vitenberg oder Yitzhak Arad schlossen sich den sowjetischen Partisanen an – aber auch Frauen, in Kovno16 zum Beispiel Sara Ginaitė-Rubinson und in Vilne Rachel Margolis so-wie Fania Brancovskaya, waren bei den Partisanen aktiv. In sowjetischen Zeiten galten diese Partisanen, die meist keine Zionisten waren, als „Kriegshelden“ und fanden Eingang in sowjetische Bücher zum Partisanenkampf. Doch ihre Ikonen und Narrative wurden nicht als Teil der jüdischen Geschichte und des jüdischen Widerstands begriffen, sondern in die ideologisierte Geschichte des sowjetischen Volkes integriert. Sie galten als Partisanen, die gegen das NS-Regime gekämpft hatten; ihre jüdische Identität wurde schlicht von ihrer sowjetischen überlagert.

In Litauen wurden die Sieger des Zweiten Weltkriegs jedoch auch immer als Besatzer wahrgenommen. Im litauischen historischen Narrativ bedeutet das Kriegsende keinen Sieg, sondern vielmehr den offiziellen Beginn der litauischen Be-satzung durch Sowjetrussland. Das hat zur Folge, dass alle prosowjetischen Helden im litauischen historischen Kontext als Anti-Helden gelten, die mit den Sowjets kol-laborierten und die Besetzung begrüßten. Wie die Historikerin Ruth Leiserowitz anmerkt, „waren die Gruppenbilder der Veteranen und ihr Auftreten zu Jahresta-gen Teil der kollektiven Erinnerung in der litauischen Sowjetrepublik und wurden von den Litauern als Ausdruck der sowjetischen Besatzungskultur betrachtet“.17

16 Jiddischer Name für die litauische Stadt Kaunas.

17 Ruth Leiserowitz, In the Lithuanian Woods. Jewish and Lithuanian Female Partisans, in:

Maren Röger/dies. (Hrsg.), Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück 2012, S. 217.

Diese Erinnerung an die kulturelle Okkupation verschwand nach der Unabhän-gigkeit nicht und hat bis heute Einfluss auf das Gedenken an den Holocaust und seine Opfer.

In den Jahren 2007 und 2008 verdächtigten litauische Staatsanwälte vier einstige litauisch-jüdische Partisanen – Rachel Margolis, Sara Ginaitė-Rubin-son, Fania Brancovskaya und den ehemaligen Direktor von Yad Vashem Yitz-hak Arad –, während ihres Widerstandskampfes Kriegsverbrechen begangen zu haben. Auf diese Weise wurden Holocaustopfer zu Tätern gemacht. Solche Anschuldigungen können auch als eine bestimmte Art der Legitimierung des Antisemitismus, der den Boden für den Holocaust während des Krieges in Litau-en bereitete, betrachtet werdLitau-en. Diese PartisanLitau-en wurdLitau-en beschuldigt, mit dem NKVD zusammengearbeitet zu haben und in Exekutionen litauischer Zivilisten involviert gewesen zu sein. Die Vorwürfe basierten vorwiegend auf den Erinne-rungen von Arad und Margolis.18 Die Anklage wurde später mangels Beweisen fallengelassen. Die litauischen Medien bezeichneten diese Partisanen jedoch als Terroristen und Mörder. Diese Ermittlung weckte die Aufmerksamkeit diverser internationalen Medien. Zum Beispiel veröffentlichte der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown 2011 einen Artikel in „The Independent“, in dem er Rachel Margolis und andere jüdische Partisanen verteidigte, dem litauischen Staat vorwarf, eine antisemitische Kampagne gegen die Holocaustopfer zu führen, und die Feindseligkeit, die die lokale Presse der jüdischen Geschichte des Landes entgegenbrachte,  schilderte.19

Dieser Fall zeigt, wie schwankend die litauische Erinnerungspolitik ist. Zu-nächst hatte der Präsident des nun unabhängigen Litauen Algirdas Brazauskas einige dieser Partisanen für ihre Aktivitäten als antinationalsozialistische Parti-sanen geehrt. Dann wurden sie wegen Kriegsverbrechen angeklagt und fünf Jahre später erneut als Opfer anerkannt. Fania Brancovskaya sprach zum Beispiel im Jahr 2013 auf vielen Gedenkveranstaltungen und wurde abermals vom litauischen Präsidenten ausgezeichnet.

18 Yitzhak Arad, Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, New York, 1982; Rachel Margolis, A Partisan from Vilna, Brighton 2010.

19 Gordon Brown, Women of Courage: Rachel Margolis, in: The Independent, 9. März 2011, http://www.independent.co.uk/news/people/profiles/women-of-courage-rachel- margolis- 2236081.html (10. Mai 2013).

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Fazit

Die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerungskultur in Litauen haben sich verkehrt: Antisemitische Akteure des antisowjetischen Widerstands wurden zu Helden der litauischen Geschichte stilisiert, jüdische Opfer sowie Mit-glieder des Widerstands hingegen, einst legitimiert durch die sowjetische Macht, als mögliche Täter diffamiert. Diese Umkehrung der Erinnerung kann vielleicht dadurch erklärt werden, dass diese Staaten zu Sowjetzeiten, als die Erinnerung an den Holocaust allgemein an Bedeutung gewann, besetzt und sowohl kulturell als auch politisch von der Sowjetunion kolonisiert wurden. Der Holocaust als Erin-nerungsort war vollständig aus der kollektiven Erinnerung getilgt. Nach der Auf-lösung der Sowjetunion wurde die Erinnerung an den Holocaust überschattet von dem Aufkommen der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen und die kom-munistische Vergangenheit. Ein „Opfernarrativ“ schien eine weit angenehmere Version der litauischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, und so blieben die Kolla-boration mit den Nationalsozialisten, die Holocaustopfer und die litauisch-jüdi-sche Geschichte lange ausschließlich Teil der Erinnerung der litauilitauisch-jüdi-schen jüdilitauisch-jüdi-schen Gemeinde und galten nicht als Teil der Geschichte Litauens. Der jüdische Schrift-steller, Publizist und Direktor des Vilna Gaon Jewish State Museum, Markas Zin-geris, erklärte in seiner Schlussrede auf der Konferenz über das jiddische Vilne in Berlin, dass nun in Litauen ein Reparationsgesetz verabschiedet worden sei und das Interesse am Holocaust in Litauen wachse, dass aber trotz aller Fortschritte das jüdische Narrativ weiterhin in der litauischen Geschichtsschreibung fehle.