• Keine Ergebnisse gefunden

I. 8. Zur Argumentationstheorie hin

1.9. Konsensus und Konsenstheorie

Habermas unterschiedet drei Klassen gleichursprünglicher Geltungsansprüche. Diese charakterisiert er als universal: Jeder Sprecher kann nicht umhin, durch seine Rede den Anspruch zu erheben, daß er etwas zu verstehen gibt und insofern einen wahren propositionalen Gehalt mitteilt, sich dabei verständlich macht und sich insofern auf seine innere Welt von Absichten, Gefühlen usf. bezieht; sich mit jemandem verständigen will und insofern durch seine Rede auf Einverständnissuche ausgerichtete, normativ geregelte interpersonelle Beziehungen mit Kommunikationspartnern anknüpft. Schließlich muß die Notwendigkeit erwähnt werden, semantisch und sintaktisch verständliche Ausdrücke zu wählen. Zur Veranschaulichung dient folgende tabellarische Darstellung (VE, 140):

35 Siehe z. B.: Habermas, Jürgen: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik [fortan: ED], Ffm:

Suhrkamp 21992; S. 9-30; hier S. 11.

Die vier grundlegenden Geltungsansprüche stellen Habermas zufolge einen Zusammenhang dar, der Vernünftigkeit genannt werden darf (VE, 137) - Habermas definiert sie auch als die Geltungsbasis der Rede -: Sie repräsentieren - mit Ausnahme der jedenfalls thematisierungsfähigen Wahrhaftigkeit - die Gesamtheit dessen, was einer diskursiven Überprüfung, d.h. dem diskursiven Verfahren von Kritik und Verteidigung bzw. Begründung zugänglich ist. Habermas hält die Geltungsbasis der Rede für einen Apparat unausweichlicher Voraussetzungen, die jeder Sprecher implizit unterstellt und unterstellen muß, wenn er sprachlich vermittelte Interaktionen eingeht. Nicht nur muß der Sprecher die dargestellten Typen von Geltungsanspüchen implizit voraussetzen, er kann ebensosehr nicht umhin, deren Einlösbarkeit anzunehmen. Habermas glaubt diese These durch jenes rekonstruktive Verfahren belegen zu können, das bereits Gegenstand unserer Aufmerksamkeit gewesen ist. Insbesondere vertritt er die Ansicht, daß die Erhebung von Geltungsansprüchen, die zweifelsohne einen zentralen Bestandteil unserer sprachlichen Kommunikation ausmacht, auf die hermeneutische Notwendigkeit einer gemeinsam geteilten normativen Grundlage der Rede verweist. Dem Phänomen der Sprache kann man nur dann gerecht werden, wenn man eine intrinsiche pragmatische Struktur einräumt, die dem Austauch kommunikativer

Akte zugrundeliegt. Das implizite Wissen der Kommunikationsteilnehmer um eine ‘kommunikative Handlungsweise’, die den Umgang mit Geltungsansprüchen und illokutionären Äußerungen steuert, ist eine sinn-notwendige Unterstellung zur Erklärung der Sprachlichkeit.36

Die unter der Bezeichnung “Geltungsbasis der Rede” eingeführte analytische Aufschlüsselung sprachlicher Akte ist nach Habermas zureichend, um die Natur eines kommunikativ erzielten Konsensus zu beleuchten. Habermas unterscheidet allerdings zwischen einem Hintergrundkonsensus, der dem ungestörten Verlaufen der Alltagskommunikation und der alltäglichen Handlungskoordinierung zwischen Aktoren unterliegt, und demjenigen Konsensus, der sich infolge der Thematisierung problematischer Geltungsansprüche sich einstellen soll. Habermas vertritt die These, daß ein jeder Sprechakt alle vier Geltungsansprüche gleichzeitig enthält. Die alltägliche Handlungskoordinierung und der ihr zu Grunde liegende Hintergrundkonsensus setzt daher die implizite Anerkennung sowohl der Wahrheit des propositionalen Bestandteils, als auch der Richtigkeit des performativen Bestandteils (sowie der hintergründigen normativen Grundlage), der Wahrhaftigkeit der im Geäußerten mitenthaltenen Sprecherintention, schließlich der Verständlichkeit des Ausgedrückten voraus.

Eine (nicht strategische, d.h. auf Verständigung angelegte) Kommunikation verläuft nur dann (auf der Grundlage eines

‘eingespieten’ Konsensus) ungestört, wenn die sprechenden/

handelnden Subjekte a) den pragmatischen Sinn der interpersonalen Beziehung [...] sowie den Sinn des propositionalen Gehaltes ihrer Äußerung verständlich machen; b) die Wahrheit der mit dem Sprechakt gemachten Aussage [...] anerkennen; c) die Richtigkeit der Norm, als deren Erfüllung der ausgeführte Sprechakt jeweils gelten darf, anerkennen; d) die Wahrhaftigkeit der beteiligten Subjekte nicht in Zweifel ziehen (VE, 138).

Von zentralem Interesse an diesem Ort ist der Fall der Thematisierung problematischer Geltungsansprüche und des diskursiv zu erzielenden Konsensus. Konsensus darf in diesem Betreff nicht “jede zufällig zustande gekommene Übereinstimmung” (VE, 160) genannt werden. Der Begriff der diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen besitzt dagegen einen normativen Sinn, denn er zielt darauf ab, einen qualifizierten Modus des Konsensus, und zwar den begründeten Konsensus, auszuzeichnen. Konsenstheorie der Wahrheit (und der normativen Richtigkeit) darf Habermasens Ansatz ebendeshalb genannt werden, weil der begründete Konsensus ein Kriterium für die Identifizierung beider ist:

[...] der Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, daß überhaupt ein Konsensus erreicht wird, sondern: daß jederzeit und überall,

36 Über den Versuch, die Grundsätze der kommunikativen Kompetenz präsuppositionsanalytisch zu ergründen, wird im Abschnitt IV. 5. berichtet.

wenn wir in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die diesen als begründeten Konsensus ausweisen (VE, 160).

An dieser Stelle wird der Sinn der universalpragmatischen Analyse von den Bedingungen der Sprechakterzeugung am klarsten: Sie soll durch Untersuchung der formalen Diskursbedingungen den pragmatischen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen die Konsensstiftung als Wahrheitskriterium dienen kann.

Die Konsenstheorie, beobachtet nun Habermas, läuft aber Gefahr, sich in einen Widerspruch zu verwickeln:

Die Bedingungen, unter denen ein Konsensus als ein wirklicher oder vernünftiger, jedenfalls wahrheitsverbürgender Konsensus gelten kann, dürfen nicht wiederum von einem Konsensus abhängig gemacht werden.37

Die Auszeichnung der diskursiv erzielten Übereinstimmung darf nicht selbst durch Übereinstimmung verliehen werden, sondern sie muß aus einer Erklärung der intrinsichen “konsenserzielenden Kraft des Arguments” sowie aus der Beschreibung derjenigen Diskursbedingungen, unter denen sich jene am besten entfalten kann, ergehen. Die formalen Eigenschaften von Diskursen sowie die Einlösungsbedingungen von Geltungsansprüchen müssen die objektive Basis für die Lösung dieser Aufgabe liefern. Was erklärt werden soll, ist das, was Habermas den eigentümlichen “zwanglosen Zwang des besseren Arguments” nennt (s. z. B.: VE, 144, 161). Dieser Zwang wurzelt in der faktischen Einlösung von erhobenen Geltungsansprüchen durch diskursive Begründung.