• Keine Ergebnisse gefunden

IV. 1. Kognitivismus, Formalismus und Universalismus der Diskursethik und ihre Nähe zu Kant

Die Diskursethik kennzeichnet sich als eine formalistische Ethik, deren Anliegen darin besteht, ein Verfahren zur Lösung moralischer Konflikte anzugeben. Der moralische Gesichtspunkt, der damit erreicht werden soll, zielt dahin, den moralisch Argumentierenden eine Prozedur zur Verfügung zu stellen, die zur Begründung moralischer Normen dienen kann. Die Begründung konkreter moralischer Prinzipien ist infolgedessen kein geradewegs angestrebtes Ziel der prozeduralistisch angelegten Diskursethik, welche sich vielmehr um die Rechtfertigung moralisch relevanter Argumentationsprinzipien bekümmert; erst diesen fällt die Aufgabe zu, die moralische Richtigkeit der argumentativ ergründeten Normen zu gewährleisten. Das anerkannte Vorbild ist Kants kategorischer Imperativ, nicht als Handlungsmaxime, sondern als Begründungsprinzip verstanden.53 Mit dem Kantischen Ansatz ist die Diskursethik in der Tat durch Formalismus (1), Kognitivismus (2) und Universalismus (3) vereinigt.

IV. 1. 1. Formalismus. Formalistisch soll sie genannt werden durch ihre Eigenschaft, “keine inhaltlichen Orientierungen”, sondern eine Prozedur zu bieten: Sie begründet diejenigen Prinzipien, die im praktischen Diskurs, also in derjenigen diskursiven Veranstaltung, welche zur Entscheidung über Richtigkeitsansprüche herbeigerufen wird, die Richtigkeit der Ergebnisse absichern. Solcher Formalismus kennzeichnet sich durch ein weiteres Merkmal, das an späterer Stelle tiefere Aufmerksamkeit erheischen wird: Ähnlich der Funktion des Kantischen kategorischen Imperativs werden im praktischen Diskurs keine Normen erzeugt, sondern von außen, sc. aus dem lebensweltlichen Kontext eingebrachte moralische Ansprüche und hypothetische Normen geprüft. Der praktische Diskurs knüpft an Handlungskonflikte an, denen die alltagsbewährten Schlichtungsmechanismen versagen. Wo die Konfliktbeseitigung die Suspension konsensuellen Handelns und den Übergang in den praktischen Diskurs erfordert, da setzt das diskursethische Prüfverfahren an. Das Vorhandensein ausscherender

53 Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über ‘‘Stufe 6’’.

In: ED, 49-76; hier S. 54.

Moralvorstellungen, schließlich die Vorgabe von zur Verhandlung stehenden Inhalten, ist die empirische Voraussetzungen dafür, daß die diskursive Prozedur in die Wege geleitet werden kann (MKH, 113).

IV. 2. 2. Kognitivismus. Als kognitivistisch kennzeichnet sich die Diskursethik dadurch, daß sie auf der These beruht, über Richtigkeitsansprüche lasse sich argumentativ, durch Gründe, entscheiden. Moralische Urteile brächten demzufolge “nicht nur die kontingenten Gefühlseinstellungen, Präferenzen oder Entscheidungen des jeweiligen Sprechers oder Aktors zum Ausdruck”54, sie besäßen vielmehr den Status eines “Erfahrungsgegenstands” oder einer

“Tatsache”! Normen gibt es. Die Parallelisierung vom Status der Richtigkeitsansprüche mit demjenigen der Erfahrungsgegenstände, auf die der Sprechende durch konstative Sprechakte Bezug nimmt, wird von Habermas, dem naheliegenden Verdacht des moralischen Platonismus zum Trotz, bewußt durchgeführt. Die Richtigkeit des moralischen Gebots ist demnach genau dann gegeben, wenn es durch die diskursethische Prozedur als ‘existierend’ erkannt wird:

Der modale Operator ‘es ist geboten’ spielt für das Mitglied sozialer Systeme eine ähnliche Rolle wie für den Beobachter der Natur das Existenzquantor ‘es gibt’; beide bringen eine Existenzweise zum Ausdruck (VE, 146f.).

Sollenssätze seien ‘wahrheitsanalog’ (ED, 11). Der diskursethische Kognitivismus setzt demzufolge die durchgängige, universelle Geschiedenheit von Wahrheit und Falschheit der moralischen Urteile.

IV. 1. 3. Universalismus. Der Universalismus der Diskursethik ist schließlich eine Folge des kognitivistischen Ansatzes. Die prozeduralen Prinzipien des diskursethischen Prüfungsverfahrens sollen gewährleisten, daß jeder Beteiligte schlechthin zu einem endgültigen Urteil über die normative Richtigkeit eines Sollensgebots gelangen kann.

Die Prozedur erfüllt die Funktion, die Schere möglicher Urteile in einer verallgemeinbaren Erkenntnis zu schließen, welche der Beseitigung aller erdenklichen Meinungsverschiedenheiten zugunsten der Richtigkeit eines Urteils gleichkommt. Die Anbindung moralischer Vorstellungen an die Besonderheit bestimmter Kulturen und Lebensformen verwirft die Diskursethik als ethischen Relativismus (MKH, 132). Moralische Autorität gebührt demnach lediglich denjenigen Normen, die berechtigterweise einen Anspruch auf allgemeine Geltung erheben können; sie sind keineswegs Ausdruck eines kulturgebundenen Partikularismus. Dies tritt Habermas zufolge bereits in der unpersönlichen Form zu Tage, in die Sollensgebote auf dem Niveau der Sprechakte gekleidet sind. Sie liefern eine Antwort auf die Frage: ‘was soll ich tun?’, wobei Habermas diese Frage weder im Sinne des Empiristen als ein ‘was will ich tun?’ und ‘wie kann ich es tun?’ noch im

54 Habermas, Jürgen: Moralbewuβtsein und kommunikatives Handeln. In: Ders.:

MKH, 127-206; hier S. 131.

Sinne des Utilitaristen als Frage nach der technischen Herbeiführung des Wünschenswerten mißverstanden wissen will (MKH, 59). Solche Mißdeutungen verfehlten den kognitiven Gehalt praktischer Gebote, welcher dagegen in der Frage nach der durch Gründe aufzuweisenden Rechtfertigung praktischen Handelns seinen Sinn erhält. ‘Etwas tun sollen’ impliziert demzufolge ‘gute Gründe haben, etwas zu tun’, doch sind universalisierbare Gründe gemeint, d.h.

Gründe, deren Richtigkeit sich allgemeingültig feststellen lassen muß. In diesem Zusammenhang formuliert Habermas die These, daß gültige Normen den sie ausdrückenden Sprechakten vorgelagert sind: Die besondere Form der Verkündung, ja überhaupt die Tatsache, ob die Norm zum Ausdruck gebracht wird, verschlage nichts an deren

‘Existenz’ (MKH, 70). Diese Ablösung von Ausdruck durch Sprechakte und Objektivität der Norm zielt anscheinend dahin, die Selbständigkeit der Norm gegenüber der Kontextgebundenheit der illokutiven Kräfte zu unterstreichen. Die Bezugnahme auf die Norm besteht im Durchgreifen auf eine andere normative Ebene als diejenige der wandelbaren Kontexte, in welche Sprechakte eingebettet sind. Ein Sprechakt an sich beansprucht noch keine Allgemeingültigkeit. Dessen illokutionäre Rolle ist von der Bezugnahme auf eine richtige Norm zu betrachten; der ausgedrückte Geltungsanspruch ‘residiert’ nicht in der Form des Ausdrucks oder in dessen illokutionärem Wert im Kontext der Äußerung, sondern in der Norm selbst (ebenda).

Was impliziert aber diese Sichtweise über die Gültigkeit von Normen in Bezug auf deren diskursive Anerkennung? Läuft man dabei nicht Gefahr, die Diskursethik der praktischen Irrelevanz preiszugeben, verankert man die normative Richtigkeit in eine ‘moralische Sonderwelt’

jenseits der sprachpragmatischen Dimension? Bleibt die Anerkennung, oder, nach Habermas, die Erkenntnis der Norm an entsprechende diskursive Akte gebunden, die immerhin in einem faktischen Diskurs vorgetragen werden müssen, so ist nicht einzusehen, welcher theoretischer und vor allem praktischer Gewinn mit der Versicherung, Normen käme ‘Existenz’ zu, erbracht sein müsse.

Der Sinn einer solchen Hypostasierung einer ‘Welt der Normen’

besteht nach Habermas wohl darin, daß die Objektivierung der normativen Richtigkeit eine derjenigen notwendigen Antizipationen des ideellen Sich-verständigt-Habens über Normen darstellt, die eine notwendige Bedingung der Möglichkeit praktischer Diskurse ausmachen. Der Vorgriff auf endgültige normative Richtigkeit, den die Sprechenden bei der Aufstellung entsprechender Geltungsansprüche Habermas zufolge vollziehen, ist erst vor dem Hintergrund eines normativen Ideals zu verstehen, das als Antizipation letzter Gültigkeit im Schoße des faktischen Diskurses stets präsent sei. Die Antizipation eines solchen Ideals sei ein unabdingbarer Bestandteil der Verständigung über praktische Geltungsansprüche. Darin besteht der transzendentale Stellenwert, den Habermas den Grundvoraussetzungen des praktischen Diskurses zuschreibt. Sofern Berechtigung und Zweckmäßigkeit eines

solchen Transzendentalitätsanspruchs bereits abgewogen worden sind, werden sie hier nicht weiter behandelt.

Die rationale Nachkonstruktion der zu antizipierenden Voraussetzungen des praktischen Diskurses liefert jedenfalls - Habermas zufolge - eine Begründung derjenigen Grundnormen, welche die Richtigkeit der Diskursführung verbürgen sollen. Die Idealität des universellen Konsenses spiegelt sich im korrekt durchgeführten praktischen Diskurs in dem Ziel, den Partikularismus besonderer kultureller Bezüge in Richtung eines Allgemeinheit anstrebenden moralischen Gesichtspunktes (moral point of view) zu überwinden.

Dieses Ziel, welches zugleich den diskursiven Normen als Argumentationsregeln die Grundlage verleiht, konkretisiert in der diskursiven Praxis die Antizipationen jenes transzendentalen, in der geschichtlichen Wirklichkeit nie gänzlich einzuholenden Ideals der normativen Gewißheit. Die Notwendigkeit einer diskursiven Verarbeitung und Prüfung von Richtigkeitsansprüchen wird von Habermas gleichsam anhand des Partikularismus, dem der einzelne Diskursteilnehmer verhaftet bleibt, aufgezeigt. Die Erlangung des übergeordneten moralischen Standpunkts kann keine monologisch in Angriff zu nehmende Aufgabe sein, denn der Formalismus der Argumentationsregeln gestattet per se noch keine Erzeugung gültiger Normen. Diejenige radikale Kritik von Geltungsansprüchen (als Konkretisierung der allgemeinen Sprachkritik), in welcher der Kern der formalistischen Wahrheitstheorie Habermasens identifiziert worden war, erfordert das Zutun der möglichen Diskursteilnehmer, und zwar, im praktischen Bereich, aller von den Folgen der Normanwendung virtuell Betroffenen.

Der Standpunkt der Allgemeinheit wird nach Habermas dadurch erreicht, daß diejenigen Normen als gültig erkannt werden, welche die Zustimmung aller Betroffenen verdienen. Die Prüfung seitens Einzelner,

ob sie das Inkrafttreten einer strittigen Norm in Ansehung der Folgen und Nebenwirkungen, die einträten, wenn alle sie befolgen würden, wollen können; oder ob jeder, der sich in ihrer Lage befände, das Inkrafttreten einer solchen Norm wollen könnte (MKH, 75)

reicht indes nicht, die besondere Perspektive des einsamen Subjektes zu überwinden. Habermas nimmt daher eine Revision des Kantischen Kategorischen Imperativs im Sinne einer diskursiven Erweiterung der Richtigkeitsprüfung vor, um zu folgendem Universalisierungsgrundsatz (U) zu gelangen:

Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen,

daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können (ebenda).

IV. 2.

Universalisierungsgrundsatz und diskursethische