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Die "konjunkturelle" Hypothese und ihre internationale empirische Oberprüfung

2.4. Erklärungsansätze der gewerkschaftlichen Entwicklung Eine Untersuchung der Determinanten dieser beobachteten Entwicklung der

2.4.3. Die "konjunkturelle" Hypothese und ihre internationale empirische Oberprüfung

Neben den bisher erwähnten, vorwiegend soziologisch-psychologisch oder po-litisch ausgerichteten Erklärungshypothesen zur gewerkschaftlichen Mitglie-derentwicklung gibt es auch einen wichtigen ökonomischen Ansatz, den man kurz als "konjunkturelle" Hypothese bezeichnen kann. Diese These besagt, daß die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung in hohem Maße vom Konjunk-turverlauf abhängig ist. 2)

Dabei wird im allgemeinen von dem folgenden Kausalzusarrrnenhang ausgegangen:

Wenn bei gesamtwirtschaftlichem Nachfrageüberschuß und Vollbeschäftigung das Preisniveau steigt, dann führen die erhöhten Lebenshaltungskosten zu höheren Lohnforderungen der Arbeitnehmer, die sich gewerkschaftlich organi-sieren, um ihren Lebensstandard zu verteidigen. Die Arbeitgeber können sich der zunehmenden Organisierung und den Lohnforderungen kaum widersetzen, da in Zeiten eines Nachfrageüberschusses auch für Arbeit ihre Verhandlungs-macht geschmälert ist und da sie die zusätzlichen Kosten relativ leicht überwälzen können. Anders ausgedrückt, steigende Preise erhöhen durch einen 1) Für den DGB und dessen Landesbezirke zeigt Löhrlein (1985), daß sich

durch die ungünstigere Altersstruktur der Gewerkschaftsmitgliederschaft im Vergleich zu allen Beschäftigten beträchtliche "Organisationslücken"

ergeben und daß der Organisationsgrad bei den Jugendlichen im Jahr 1983 um durchschnittlich fast 14 Prozentpunkte unter dem allgemeinen Organi-sationsgrad lag.

2) Ausführliche Darstellungen dieser These, ihrer Hintergründe und ihrer Entwicklung in der Literatur finden sich bei Brauckmann (1972), Bain &

Elsheikh (1976) und Booth (1983).

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"threat effect" und steigende Nominallöhne durch einen "credit effect"

(Bain & Elsheikh, 1976, S.64) die Organisationsbereitschaft der abhängig Beschäftigten, während in einer Depression, bei einem Überangebot an Ar-beit und Gütern, wachsendem Widerstand der ArAr-beitgeber sowie fallenden Preisen und Löhnen, das Gegenteil der Fall ist.

Diese These eines positiven Kausalzusammenhanges zwischen Konjunkturver-lauf einerseits, der durch makroökonomische Größen wie Preise, Löhne, Ar-beitslosenrate etc. ausgedrückt werden kann, und der Entwicklung der ge-werkschaftlichen Mitgliederzahlen bzw. des Organisationsgrades anderer-seits, ist - ganz im Gegensatz zu den meisten politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungshypothesen - einer empirischen Überprüfung zugänglich, wie sie vor allem im angelsächsischen Raum unter Verwendung statistisch-ökonometrischer Methoden schon häufig erfolgte. Wenn auch be-reits Hines (1964) im Rahmen seiner in Kapitel 4 diskutierten empirischen Studie über gewerkschaftliche Militanz und Lohninflation in Großbritannien Veränderungen des Organisationsgrades in statistisch signifikanter Abhän-gigkeit vom Organisationsniveau der Vorperiode, von der Inflationsrate und von der Höhe der Gewinne ausdrückt, so gehen doch die meisten ökonometri-schen Studien auf die grundlegende Arbeit von Ashenfelter & Pencavel (1969) sowie auf die breiter angelegte Analyse von Bain & Elsheikh (1976) zurück.

Ashenfelter & Pencavel (1969), im folgenden kurz A & P genannt, untersuchen das gewerkschaftliche Mitgliederwachstum in den USA für den Zeitraum von 1900 bis 1960, wobei sie aus statistisch-methodischen Gründen statt des Organisationsgrades als abhängige Variable ihrer multiplen Regressionsana-lyse die jährliche prozentuale Änderung der Mitgliederzahlen (~Tt) wählen.1) Nach A & P (1969) hängt die Entscheidung, einer Gewerkschaft beizutreten, von den erwarteten Nutzen (höhere Löhne, größere Arbeitsplatzsicherheit, bessere Arbeitsbedingungen) und Kosten (Organisationskosten, Arbeitgeber-1) Eine Erörterung dieser statistisch-methodischen Fragen sowie die Wahl

derselben abhängigen Variablen für eine ökonometrische Untersuchung der bundesdeutschen Gewerkschaftsentwicklung erfolgt im nächsten Kapitel.

Um eine konsistente Verwendung von Symbolen (wie T, 0 etc.) sowohl zwi-schen als auch innerhalb von Kapiteln zu ermöglichen, werden bei der Präsentation anderer Studien die dort verwendeten Symbole nötigenfalls durch die im Rahmen dieser Arbeit durchgehend verwendeten und im Anhang verzeichneten Symbole ersetzt.

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pressionen) ab, was sich in der Verwendung der prozentualen Preisände-rungsrate (6Pt) und der (verzögerten) prozentualen Veränderung der Be-schäftigung (6Bt .) als erklärenden Variablen widerspiegeln soll. Da Ge--1 werkschaften auch Träger des Arbeitnehmerprotestes sind, berücksichtigen A & P (1969) als weitere Erklärungsvariable die Unzufriedenheit der Ar-beitnehmer, deren Ausmaß als Stufenfunktion der größten Höhe der Arbeits-losigkeit in der jeweils vorausgegangenen Depression (Upt' t-e) ausge-drückt wird. Eine weitere Determinante des Gewerkschaftswachstums sei der bereits in der Vorperiode erreichte Organisationsgrad (Ot_ 1), der durch einen Sättigungseffekt eine weitere Ausdehnung der Gewerkschaft erschwere.

Schließlich berücksichtigen A & P (1969) noch als nichtökonomische Ein-flußgröße das politische Klima, das durch den Anteil der (eher gewerk-schaftsfreundlichen) demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus (Dt) dargestellt wird.

Damit spezifizieren A & P (1969) die folgende Gleichung:

6\ = b0 + b16Pt +

~

b2;6Bt-i + b,g(Upt' t-e) + b40t_1 + b,Dt + et (2.1) Dabei stellt t den jeweiligen Zeitraum und et eine zufallsverteilte Stör-größe mit den für Kleinstquadratschätzungen üblichen Eigenschaften dar, und es wird davon ausgegangen, daß b1 , b,;, b3 , b, > 0 und b4 < 0. Obwohl sich A & P's Hypothesen bestätigen ließen und ihr Modell, gemessen an üb-lichen statistischen Kriterien, das amerikanische Gewerkschaftswachstum von 1900-1960 gut erklärt1), wurde es von mehreren Seiten wegen mangelnder Vorhersagefähigkeit, struktureller Instabilität sowie der Verwendung und Bedeutung einzelner Variablen kritisiert. 2)

Zu diesen Kritikern gehören auch Bain & Elsheikh (1976), im folgenden kurz B & E genannt, die ein alternatives Modell der Form 6T = f(6P, 6W, U, 0, e) postulieren und es für Großbritannien, die USA, Schweden und Australien ökonometrisch schätzen. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Spezifika-1) Deshalb diente das A&P-Modell auch als Grundlage für die Arbeiten von

Sharpe (1971) für Australien und von Brauckmann (1972) für die Bundes-republik Deutschland.

2) Beispiele für solche Kritik sind Mancke (1971), Moore & Pearce (1976), Elsheikh & Bain (1978) sowie Sheflin, Troy & Koeller (1981).

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tionen je nach Land und gewählter Lag-Struktur, doch sehen B & E (1976) allgemein die prozentuale Mitgliederänderung (6T) in Abhängigkeit von pro-zentualen Veränderungen der Preise (6P) und der Nominallöhne (6W), von der Höhe und/oder der Veränderung der Arbeitslosenrate U und vom Organisations-grad der Vorperiode 0, wobei e eine zufallsverteilte Störgröße mit den üb-lichen Eigenschaften darstellt. Dabei reflektieren, wie bereits oben ange-sprochen, 6P und 6W einen "threat effect" und einen "credit effect", wäh-rend Arbeitslosigkeit und bestehender Organisationsgrad jeweils verschie-dene Auswirkungen auf gewerkschaftliche Mitgliederbewegungen haben können.

Obwohl die Schätzergebnisse für alle vier untersuchten Länder ihre theore-tischen Überlegungen bestätigen, stoßen B & E (1976) auf ähnliche Kritik wie A & P (1969), d.h. die Auswahl ihrer Variablen, ihre Spezifikationen sowie die Stabilität und Vorhersagekraft ihres Modells werden angezweifelt und ihre Vernachlässigung des Simultanitätsproblems (z.B. zwischen 6T, 6W und 6P) wird bemängelt. l)

Neben den dominierenden Modellen von A & P (1969) und B & E (1976) gibt es noch eine Vielzahl anderer Arbeiten, die zum Teil auch Querschnittsdaten sowie völlig unterschiedliche abhängige und erklärende Variablen benutzen.

In ihrem überblick über solche Studien für die USA erwähnen Fiorito & Greer (1982) als mögliche (vorwiegend positiv bzw. negativ korrelierte) Determi-nanten der Entwicklung der Mitgliederzahlen und des Organisationsgrades unter anderem Veränderungen der Preise (+), der Nominallöhne(+), der Be-schäftigung(+) und der Arbeitslosenrate(+/-), den bestehenden Organisa-tionsgrad(-), ein vorteilhaftes politisches Klima(+) sowie die Stärke der vorangegangenen Rezession (+). Neben diesen in Längsschnittanalysen sig-nifikanten Bestimmungsgrößen weisen die von Fiorito & Greer (1982) sowie Hirsch & Addison (1986, Kap.3) betrachteten Querschnittsanalysen noch auf die Bedeutung der in einem Industriezweig bestehenden Konzentrationsrate (+), der staatlichen Gesetzgebung sowie bevölkerungsspezifischer Einfluß-faktoren wie Alter(+/-), Geschlecht (m+) und Bildung (-) hin. Fernerbe-stätigen Neumann & Rissman (1984) in einer Längs- und Querschnittsanalyse 1) Vgl. Richardson (1977), Pedersen (1978), Sheflin, Troy & Koeller (1981),

Fiorito (1982) sowie Carruth & Disney (1988); allerdings kommt Booth (1983) trotz unterschiedlicher Spezifikation ihres Modells für briti-sche Daten zu ähnlichen Ergebnissen wie B & E (1976).

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für die USA die Substitutionsthese, daß wachsende staatliche Sozialausgaben sich langfristig negativ auf die Organisationsbereitschaft der abhängig Be-schäftigten auswirken •.

Angesichts dieser Vielzahl von britischen und vor allem von amerikanischen Studien überrascht das weitgehende Fehlen entsprechender empirischer Erklä-rungsversuche für die Entwicklung der in ihrem Selbstverständnis und ihrer Situation mit den ausländischen Arbeitnehmerorganisationen nicht unbedingt gleichzusetzenden Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Während sich Hagelstange (1979) zur Bestätigung seines marxistisch-politökonomi-schen Ansatzes auf die Betrachtung von Schaubildern der Entwicklung der Mitgliederzahlen bzw. des Organisationsgrades des DGB und verschiedener Konjunkturindikatoren beschränkt, stellt zumindest Brauckmann (1972) öko-nometrische Überprüfungen der konjunkturellen Hypothese an1l, die jedoch nur den Zeitraum der stagnierenden Mitgliederentwicklung von 1950 bis 1969 umfassen und methodisch noch wenig ausgereift erscheinen.

Brauckmann (1972, S.116) stützt sich "im wesentlichen auf die von Ashen-felter und Pencavel benutzten Erklärungsfaktoren", nämlich die Preis- und Beschäftigungsentwicklung, das Ausmaß der Unterbeschäftigung der letzten Rezession, den Organisationsgrad der Vorperiode und "nach Bedarf die Ein-kommensentwicklung" ( !), wobei er deren Wahl, wie auch den Verzicht auf andere mögliche Determinanten wie z.B. Gewinne, nur unzureichend diskutiert und auf etwaige Besonderheiten der bundesdeutschen Entwicklung kaum ein-geht. Nach einer Reihe isolierter Einfachregressionen zwischen den einzel-nen Faktoren und der Mitgliederänderung des DGB, deren statistische und ökonomische Aussagekraft bezweifelt werden muß, geht Brauckmann (1972) schließlich zu einer multiplen Regressionsanalyse sämtlicher Faktoren über, 1) Zwar verwenden auch Fautz (1980) und Gärtner {1985b) Schätzgleichungen

mit Veränderungen der gewerkschaftlichen Mitgliederzahlen bzw. des Or-ganisationsgrades als abhängigen Variablen, doch geht es in ihren öko-nometrischen Untersuchungen hauptsächlich um die Interdependenz zwischen der so definierten gewerkschaftlichen Militanz und der Lohnentwicklung;

vgl. Kapitel 4. Ferner schätzen Fitzroy & Kraft {1985b) im Rahmen ihrer in Kapitel 8 diskutierten Produktivitätsuntersuchung bundesdeutscher Me-tallbetriebe eine Querschnittsgleichung des gewerkschaftlichen Organisa-tionsgrades, die als signifikante Einflußfaktoren jedoch ausschließlich betriebsbezogene Größen wie Existenz eines Betriebsrates, Mitarbeiterbe-teiligung, Durchschnittsverdienst, sowie Profitabilität und Marktmacht des Unternehmens enthält.

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deren Erklärungswert sich dabei jedoch zum Teil als statistisch wenig gesi-chert erweist. 1) Dennoch ist Brauckmann (1972, S.161) der Meinung: "Die vorausgegangenen multiplen Schätzfunktionen stützen weitgehend die Hypothe-se, daß die konjunkturelle Entwicklung in der BRD die Mitgliederbewegung des DGB beeinflußt". Trotz Datenproblemen wagt er sich auch an eine disag-gregative Betrachtung von fünf Gewerkschaften und glaubt feststellen zu können (S.222), "daß der Zusammenhang zwischen Konjunktur- und Mitglieder-bewegung zumeist etwas geringer als bei der gesamtwirtschaftlichen Betrach-tung ausfällt, aber dennoch zureichend ist, um von einem bedeutsamen Ein-fluß des Wirtschaftsablaufs für die Mitgliederänderungen ausgehen zu können'~

Dieser überblick über die wichtigste Literatur und die bestehenden Erklä-rungsansätze zur gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung macht deutlich, daß es von Interesse und Nutzen sein dürfte, aufbauend auf diesen Erfahrun-gen und Einsichten eine statistisc~-ökonometrische Untersuchung durchzu-führen, die diese Hypothesen soweit als möglich einer empirischen Überprü-fung unterzieht und dabei die wichtigsten Determinanten der Mitgliederent-wicklung in der Bundesrepublik Deutschland herauszukristallisieren versucht.

Ein solcher Versuch der Erklärung gewerkschaftlicher Mitgliederschwankungen soll im folgenden Kapitel unternommen werden.

1) Eine typische Schätzfunktion von Brauckmann (1972, S.154f.) ist z.B.

LI\

= 0, 223 + 1 , 042llP t + 0, 369l1Bt - 0, 356l1Bt-l + 0, 502U t - 0, 115 0 t l , p

( 5, 132) ( 1 , 540) ( 1 , 936) ( 1 ,798) ( 0, 338) -wobei das Bestimmtheitsmaß R'=0,8376 und die Durbin-Watson-Statistik 2,266 betragen und die Zahlen in Klammern t-Werte darstellen. Hier er-weist sich bei einem üblichen zweiseitigen Signifikanztest mit 5% Irr-tumswahrscheinlichkeit nur der Schätzkoeffizient der Preisänderungsvari-ablen llP als statistisch signifikant verschieden von Null, was Brauck-mann jedoch zum Teil mit Multikollinearitätsproblemen erklären kann.

Eine scharfe, und teilweise wohl auch überzogene, Kritik des Ansatzes von Brauckmann (1972) erfolgt auch durch Hagelstange (1979).

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3. EIN ÖKONOMETRISCHES MODELL DER GEWERKSCHAFTLICHEN

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