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3. EIN ÖKONOMETRISCHES MODELL DER GEWERKSCHAFTLICHEN MIT- MIT-GLIEDERENTWICKLUNG IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

3.1. Die Spezifikation des Modells 1. Die Wahl der abhängigen Variablen

3.1.2. Mögliche erklärende Variablen

Aus den im vorigen Kapitel vorgestellten Erklärungsansätzen lassen sich eine Reihe von Hypothesen bzw. Determinanten der Veränderungen der Mitglie-derzahl der Gewerkschaften herausarbeiten, die - soweit quantitativ faßbar-als mögliche erklärende Variablen für das ökonometrische Modell betrachtet werden müssen.

Dem ökonomischen bzw. konjunkturellen Erklärungsansatz zugerechnet werden können folgende Hypothesen, wobei hier gewerkschaftliche Mitgliedsänderun-gen sowohl als Ausfluß individueller Kosten-Nutzen-Analysen als auch als Folge von Veränderungen der Neigung ("propensity") und Gelegenheit ("oppor-tunity") zum Gewerkschaftsbeitritt gesehen werden können: l)

1) steigende Preise (ßP) erhöhen durch einen von B & E (1976, S.63) so ge-nannten "threat effect" die Organisationsbereitschaft der Arbeitnehmer, da diese in der Inflation eine Bedrohung ihres Lebensstandards sehen, der sie durch Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft entgegentreten wol-len. Diese Überlegung findet sich in den meisten Erklärungsversuchen der gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung, wie z.B. bei A & P (1969),

B & E (1976), Streeck (1979), Stepina & Fiorito (1986) sowie Carruth &

Disney ( 1988).

Darüber hinaus sehen vor allem ältere Ausprägungen der konjunkturellen These steigende Preise oft noch als Ausdruck der Prosperität im Konjunk-turzyklus, in der sich aufgrund des relativ knappen Arbeitsangebots und der Möglichkeit zur Kostenüberwälzung der Widerstand der Arbeitgeber vermindert und die Möglichkeit einer gewerkschaftlichen Organisierunger-leichtert wird. Allerdings erscheint es im lichte von Stagflationserfah-rungen mehr als zweifelhaft, daß PreissteigeStagflationserfah-rungen tatsächlich auch im-1) Vgl. A & P (1969), B & E (1976) und Brauckmann (1972).

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mer einen "prosperity effect" widerspiegeln. l)

2) Steigende Nominallöhne (ÄW) werden von den Arbeitnehmern - berechtigter-oder unberechtigterweise - den Gewerkschaften als deren Verdienstzuge-rechnet und wirken sich damit positiv auf deren Ansehen und Mitglieder-stärke aus. B & E (1976) prägten dafür den Begriff "credit effect", doch ist eine solche Argumentation auch in den Arbeiten von Friedman (1951), Hines (1964), Haberler (1972) und Streissler (1979) zu finden und über-dies mit von Nickel (1974, S.82,154) veröffentlichten Umfrageergebnissen des DGB sowie mit Korrelationsrechnungen von Moore (1981) vereinbar. 2) Darüber hinaus läßt auch die von Pencavel (1971) vertretene Interpreta-tion der gewerkschaftlichen Organisierung als eines normalen Gutes einen positiven Einfluß der Lohn- und Einkommensentwicklung auf die Mitglieder-stärke erwarten.

3) Arbeitslosigkeit bzw. die Arbeitslosenrate U kann in verschiedener Weise die gewerkschaftliche Mitgliedschaft beeinflussen.

Einerseits führt eine hohe oder steigende Arbeitslosenrate zu einer Ver-besserung der Position der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt und damit zu erhöhtem Widerstand gegen gewerkschaftliche Organisierungsbemühungen, Lohnforderungen etc. Sie vermindert damit etwaige Vorteile einer gewerk-schaftlichen Mitgliedschaft sowohl für beschäftigte Arbeitnehmer, die oft mit geringeren Lohnerhöhungen zufrieden sein und wegen ihrer Mit-gliedschaft mit beruflichen Nachteilen bis hin zum Arbeitsplatzverlust 1) Vgl. B & E (1976, S.62f.), Burkitt & Bowers (1978) sowie Brauckmannn betrags-mäßig gleich erweisen sollten und ein entsprechender statistischer Test einer solchen Restriktion nicht widerspricht, sollte deshalb die Real-lohnveränderung Ä(W/P) als erklärende Variable benutzt werden. Aus ähn-lichen Gründen erscheint auch die Nichtberücksichtigung von ÄW durch

A & P (1969) äußerst bedenklich, da ÄP allein sicher nicht als Proxy

für die Veränderung der realen Löhne gesehen werden kann und da sich durch diese Nichtberücksichtigung einer eventuell relevanten Variablen ein Spezifikationsfehler mit Verzerrung und Inkonsistenz der Schätzko-effizienten ergeben kann; vgl. B & E (1976, S.63ff.).

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rechnen müssen, als auch für arbeitslose Arbeitnehmer, für die eine Mit-gliedschaft vorwiegend mit Kosten und mit Problemen bei der Arbeitsplatz-suche verbunden ist. All dies läßt auf einen auch von Heinze (1984) und Hemmer (1985) vermuteten negativen Zusammenhang zwischen U und ßT schließen.

Andererseits bieten in der Bundesrepublik Deutschland die Gewerkschaften zwar keine Arbeitslosenunterstützung, aber doch andere selektive Dienste wie Rechtsvertretung, persönliche Beratung, Vergünstigungen aufgrund

langjähriger Mitgliedschaft, Clubs (z.B. ACE) und Versicherungen, ver-billigter Eintritt zu kulturellen Veranstaltungen sowie die Möglichkeit einer Beitragsermäßigung, die trotz Arbeitslosigkeit eine gewerkschaft-liche Mitgliedschaft vorteilhaft erscheinen lassen. Neben diesen ökono-mischen Gründen gibt es auch noch offensichtliche soziale, psychologi-sche und politipsychologi-sche Gründe für die Beibehaltung oder nur zögernde Auf-gabe der Mitgliedschaft wie z.B. Klassenbewußtsein, persönliche Bindun-gen, Tradition und Unterstützung der politischen Forderungen der Ge-werkschaften.

Aufgrund einer ähnlichen Abwägung unterschiedlicher Einflüsse kommen auch B & E (1976, S.66) zu dem Schluß, "that union growth and unemploy-ment will be negatively related, but that the relationship is likely to be relatively weak and tobe characterized by a lag". Der entscheidende Einfluß geht dabei nach Ansicht von Stepina & Fiorito (1986, S.251) nicht von der Veränderung, sondern von der Höhe der Arbeitslosenrate aus: "Theoretically, the use of the unemployment level appears tobe appropriate. lt is the level of unemployment that makes workers hesi-tant to unionize". l)

1) Interessanterweise beziehen A & P (1969), und damit auch Brauckmann (1972), Arbeitslosigkeit als solche gar nicht in ihr Modell ein. Sie benutzen eine Stufenfunktion der höchsten Arbeitslosigkeit in der letzten Depres-sion (UP) vielmehr als Ausdruck der Arbeitnehmerunzufriedenheit. Auf ei-ne solche Verwendung der Arbeitslosenrate als soziopolitischer Variable soll hier verzichtet werden, nicht nur weil ihre Ergebnisse in verschie-denen Studien laut Fiorito & Greer (1982) nicht eindeutig ausfallen, son-dern auch weil ihre Verwendung ad-hoc-Annahmen (z.B.über Konjunkturtiefs) mit sich bringt und theoretisch weit weniger gesichert erscheint als die der oben diskutierten normalen Arbeitslosenrate. So meinen aui;h B & E (1976, S.40): "In short, as specified by Ashenfelter and Pencavel, U is simply a rag bag which may contain everything or nothing. As such, its effect

is extremely difficult to interpret".

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4) Gestützt auf Kaldor (1959, S.293f.) wird gelegentlich argumentiert, Ge-winne seien, besser noch als Preise, ein guter Indikator für die wirt-schaftliche Entwicklung und sollten deshalb als Ausdruck der "prosperity of industry" in ein konjunkturelles Erklärungsmodell gewerkschaftlicher Mitgliederschwankungen aufgenommen werden.

Dies vermögen Burkitt & Bowers (1978) sowie - bei einer Modifizierung ihres eigenen B&E-Grundmodells - Elsheikh & Bain (1979) für britische und Sapsford (1986) für irische Daten zu bestätigen, doch finden Hines (1964) nur einen unbedeutenden und A & P (1969) überhaupt keinen signi-fikanten Erklärungswert der Gewinne. Obwohl die in der Volkswirtschaft-lichen Gesamtrechnung ausgewiesenen Daten für das Einkommen aus Unter-nehmertätigkeit und Vermögen Gewinne nur unzulänglich widerzuspiegeln vermögen, soll mit ihnen die Möglichkeit eines positiven Erklärungs-zusammenhanges zwischen prozentualen Veränderungen der realen Gewinne (6RG) und der gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung überprüft werden.

5) Betrachten die Arbeitnehmer den Beitritt zu bzw. Austritt aus einer Ge-werkschaft vorwiegend als einen z.B. mit einer Kapitalanlage vergleich-baren wirtschaftlichen Akt, so dürfte bei ihrer Abwägung von Kosten und Nutzen der Preis gewerkschaftlicher Leistungen, d.h. der Mitgliedsbei-trag, eine wichtige Rolle spielen. Dieser von Pencavel (1971) postulier-te und mit britischen Dapostulier-ten empirisch bestätigpostulier-te negative Zusammenhang zwischen Beitragshöhe und gewerkschaftlicher Mitgliederentwicklung kann für die Bundesrepublik Deutschland mangels besserer Daten nur durch die Verwendung der prozentualen Veränderungsrate der durchschnittlichen re-alen Beitragseinnahmen des DGB pro Kopf und Monat (6RB) zu überprüfen versucht werden.

6) Je höher der schon bestehende Organisationsgrad Ot-l ist, desto geringer dürften die weiteren Organisierungserfolge der Gewerkschaften ausfallen, da diese mehr und mehr auf solche Arbeitnehmer treffen, die den Gewerk-schaften fern stehen oder lieber als "free rider" von den in der Bundes-republik Deutschland allen Arbeitnehmern zugute kommenden Tarifvereinba-rungen der Gewerkschaften profitieren. Wie A & P (1969) ist daher auch Brauckmann (1972, S.95) der Meinung, "daß die Organisationsmöglichkeiten mit wachsendem Organisationsgrad zurückgehen".

Neben diesem Sättigungseffekt gibt es, vor allem bei einem relativ

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deren Organisationsgrad wie in der Bundesrepublik, allerdings auch noch die Möglichkeit eines Selbstverstärkungseffekts aufgrund der Vorteile und Wirkungen einer wachsenden gewerkschaftlichen Organisierung, worauf auch B & E ( 1976, S. 68), die von einem "enforcement effect" sprechen, Teichman (1977) und Mancke (1971) hinweisen. Somit läßt sich, im Gegen-satz zu den bisher erwähnten Variablen, das Vorzeichen des Schätzkoeffi-zienten von

t-l nicht vorhersagen.

7) Beschäftigungszuwächse 68 führen bei größerem Spielraum für gewerkschaft-liche Aktivitäten und geringerem Arbeitgeberwiderstand im Aufschwung zu einer Zunahme der gewerkschaftlichen Mitgliederzahlen. Der tatsächliche Erklärungsgehalt dieser von A & P (1969) sowie von Brauckmann (1972) fa-vorisierten Determinanten wird allerdings von Mancke (1971, S.188f.) be-zweifelt: "it is nearly definitional that if the percentage rate of Change of total employment rises, ceteris paribus, the percentage rate of change of total union membership rises".

8) Der Strukturwandel in der Wirtschaft, der in einer Abnahme des Anteils der Beschäftigten im traditionell gewerkschaftlich stark organisierten sekundären Sektor zugunsten des tertiären Sektors zum Ausdruck kommt, hemmt die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung. Dieser von Himmelmann (1977), Streeck (1979), Fiorito & Greer (1982), Neumann & Rissman (1984), Freeman & Medoff (1984), Hemmer (1985), Stepina & Fiorito (1986) sowie Müller-Jentsch (1986, 1987) angesprochene Einfluß der Beschäftigungs-struktur kann durch die Einbeziehung der prozentualen Veränderungsrate des Anteils der im warenproduzierenden Gewerbe Beschäftigten an der ge-samten Arbeitnehmerschaft (6BS) überprüft werden.

ökonometrisch überprüfbare Hypothesen aus dem soziologisch-politischen Be-reich sind:

9) Je größer der Anteil eher gewerkschaftsferner Gruppen wie ausländische Arbeitnehmer, Angestellte, Beamte und Frauen an der Arbeitnehmerschaft, desto geringer fallen gewerkschaftliche Organisierungserfolge aus. Die-sen, mit der Beschäftigungsstrukturhypothese 8) teilweise verwandten, negativen Einfluß der Beschäftigtenstruktur auf die Mitgliederstärke der Gewerkschaften betonen Beyme (1977), Hauff (1979), Streeck (1979, 1981), Kleinhenz (1981), Hemmer (1985), Stepina & Fiorito (1986) und Müller-Jentsch (1986, 1987) wie auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (1987).

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10) Je höher das tarifpolitische Konfliktniveau, desto größer ist die Nei-gung der Arbeitnehmer, die Schutz- und Versicherungsfunktion der Ge-werkschaften in Anspruch zu nehmen. Auf diesen positiven Zusammenhang zwischen Streikbewegungen und Mitgliederwachstum weisen Purdy & Zis

(1974), Streeck (1979), Brandt, Jacobi & Müller-Jentsch (1982) sowie Bergmann (1985, S.104) hin, der meint, in diesem (Streik-) Falle müsse

"schon aus ökonomischem Selbstinteresse (Streikunterstützung) ... der Gewerkschaftsbeitritt für Nichtmitglieder rational sein".

11) wachsende staatliche Sozialausgaben, gemessen als Anteil am Bruttoso-zialprodukt, wirken sich laut Neumann & Rissman (1984) negativ auf die Organisierungsbereitschaft der Arbeitnehmer aus. Diese Substitutions-these wird auch von Streeck (1979; 1981, S.318) vertreten: "Je mehr Aufgaben der Staat im Bereich der sozialen Sicherung im laufe der Zeit übernahm, desto mehr wurde auch soziale Sicherheit zu einem 'öffent-lichen Gut', und desto weniger war es notwendig, um ihretwillen Gewerk-schaftsmitglied zu werden. Unvermeidliche Folge des Ausbaus der staat-lichen Daseinsvorsorge war deshalb, daß die Attraktivität der Gewerk-schaften als Versicherungsvereine zurückging - zumal ja die traditio-nelle Struktur der von ihnen angebotenen Unterstützungen, mit Ausnahme der Streik- und Gemaßregeltenunterstützung, weithin der des sich ent-faltenden staatlichen Sicherungssystems entsprach."

12) Je stärker der sich in den Wahlergebnissen und vor allem in der Regie-rungsführerschaft ab 1969 widerspiegelnde Einfluß der SPD auf das ge-sellschaftspolitische Klima, desto höher sind nach Treu (1978) und Streeck (1979, 1981) die öffentliche Anerkennung und die Rekrutierungs-möglichkeiten der Gewerkschaften. Eine etwaige empirische Bestätigung dieser Hypothese wäre jedoch auch vereinbar mit der beobachtungsglei-chen Interpretation, daß sowohl die Wahlerfolge der SPD als auch die Mitgliederzuwächse der Gewerkschaften das Ergebnis der gleichen (auto-nomen) gesellschaftspolitischen Veränderungen sind.

Weitere mögliche, in Kapitel 2 erwähnte Determinanten der gewerkschaftli-chen Mitgliederentwicklung und des Organisationsgrades wie Altersaufbau, Bildungsniveau und gewerkschaftliches Bewußtsein der Arbeitsbevölkerung, Betriebsgrößenstruktur, organisatorische Reformen bei den Gewerkschaften und Distanzierungsprozeß der Jugendlichen entziehen sich leider wegen

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lender Quantifizierbarkeit oder mangels ausreichender Daten einer ökonome-trischen Überprüfung im Rahmen einer Längsschnittanalyse.

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