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3 Krankheit und Schmerzen im kulturellen Kontext

3.5 Kulturvergleichende Studien zu Schmerzschwelle und Schmerzintensität

3.5.2 Klinische Schmerzforschung

Anders als die Laborforschung bezieht sich die klinische Forschung eher auf die klinischen Schmerzen.

Die in der kulturvergleichenden Forschung einbezogenen klinischen Schmerzen umfassen die unterschiedlichsten klinischen Syndrome: Gesichtsschmerzen (z.B. Lipton and Marbach 1984), Geburtsschmerzen (z.B. Flannery et al. 1981, Scheiner et al. 1999), Krebsschmerzen (z.B. Greenwald 1991, Lannin et al. 1998), rheumatoide Polyarthritis (z.B. Aratow 1996, Jordan et al. 1998, Zhang u.

Verhoef 2002), postoperative Schmerzen (z.B. Faucett et al. 1994, Ng et al. 1996a, 1996b),

Rückenschmerzen (z.B. Sanders et al. 1992) usw. Nicht selten werden gemischte klinische Patientengruppen in eine Studie einbezogen, nämlich Schmerzpatienten (z.B. Zborowski 169, Koopman et al. 1984, Nelson, et al. 1996) oder Patienten mit chronischen Schmerzen (z.B. Bates et al.

1993, Edwards et al. 2001b, Riley III, Wade et al. 2002). Klinische Studien befassen sich häufig mit der Schmerzintensität, der Wirksamkeit der Medikamente und der Therapie, dem Einfluss der Schmerzen auf den Alltag und den Bewältigungsstrategien.

Die Untersuchung von Flannery, Sos und McGovern (1981) mit je 15 weiblichen Patienten pro ethnische Gruppe (weiße Amerikaner, d.h. „Old American“, Schwarze, Italiener, Juden und Iren (15 Probanden je ethnische Gruppe) zeigte anhand von 7 semantischen Fragebögen und Verhaltensbeobachtungen, dass die Ethnizität bei der subjektiven Bewertung und Fremdeinschätzung des Schmerzes bei einer Episiotomie (Dt.: Scheidendammschnitt) keine Rolle spielte. Die Studie von Scheiner und seinen Kollegen (1999) mit 225 jüdischen und 192 Beduinenfrauen zeigte, dass sich die durch die VAS (visual analog scale) gemessene Schmerzintensität in der Anfangsphase der Geburt in den beiden Gruppen nicht voneinander unterschied. Der jüdische Arzt und die Hebamme bewerteten den Schmerz bei den Beduinen-Frauen jedoch als weniger stark als die Frauen selbst. Außerdem korrelierte die von Fremden eingeschätzte Schmerzintensität negativ mit der Religiosität der Schwangeren. Riley und Mitarbeiter (2002) kamen in ihrer Studie mit 1084 kaukasisch-amerikanischen und 473 afro-kaukasisch-amerikanischen Patienten mit chronischen Schmerzen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die durch die VAS selbst berichtete Schmerzintensität zwischen den beiden Patientengruppen nicht unterschiedlich war.

Die unterschiedliche Schmerzeinschätzung bei Selbst- und Fremdeinschätzung zeigt sich auch in einer Studie, in der es um die Verschreibungshäufigkeit von Medikamenten geht. Ng et al. (1996b) haben in ihrer Studie über den Verbrauch schmerzstillender Mittel bei postoperativen Schmerzen mit weißen, schwarzen und hispanischen Patienten herausgefunden, dass weiße mehr Schmerzmittel als schwarze Amerikaner bekommen hatten. Die hispanischen Patienten bekamen am wenigsten Schmerzmittel.

Eine andere Studie (Ng et al. 1996a) mit einer sog. „patient-controlled analgesia“ (PCA) zeigte ein ähnliches Ergebnis: Zwischen weißen, schwarzen amerikanischen, hispanischen und asiatischen Patienten gab es keinen statistisch signifikanten Unterschied bezüglich des Bedarfs an Schmerzmitteln.

Aber die Menge der ärztlich verschriebenen Narkotika und Schmerzmittel für die vier ethnischen Gruppen waren signifikant unterschiedlich. Die hispanischen und asiatischen Patienten bekamen weniger als die weißen und schwarzen amerikanischen Patienten.

Während es in den oben genannten Studien keinen Unterschied zwischen der Selbsteinschätzung der Schmerzintensität und dem Bedarf an Analgesie gab, berichteten Faucett und seine Mitarbeiter (1994), dass die latino- und afro-amerikanischen Patienten bei Zahnbehandlungen stärkere postoperative Schmerzen schilderten als die kaukasischen Patienten. Auch die asiatischen Patienten in dieser Studie

beklagten stärkere Schmerzen als die kaukasischen Patienten, aber der Unterschied war nicht signifikant. Um die Einstellung zu lokaler Betäubung zu untersuchen, haben Moore et al. (1998) eine Studie mit 89 Zahnärzten und 251 zahnärztlichen Patienten aus Amerika, Taiwan, China, Dänemark und Schweden durchgeführt. Ihre Ergebnisse zeigten, dass 77% der Amerikaner und 69.5% der Skandinavier mit einer Betäubung beim Bohren einverstanden sind, dagegen nur 34% der Chinesen.

Sheffield et al. (1999) berichteten, dass afro-amerikanische Patienten mit einer Herzkrankheit bei dem

„Treadmill Test“ über mehr Brustschmerzen (Angina) klagten als weiße Amerikaner. Die Studie von Koopman et al. (1984) mit 40 italienischen Amerikanern und 44 Angloamerikanern aus der allgemeinen Arztpraxis zeigte, dass italienische Amerikaner häufiger über Schmerzen berichteten.

Besonders die älteren italienischen Amerikaner (Alter >60) schilderten signifikant häufiger Schmerzen als die Anglo-Amerikaner. In jüngeren Gruppen gab es keine statistischen Unterschiede.

Die Studie von Bates, Edward und Anderson (1993) mit sechs ethnischen Patientengruppen (Anglo-Amerikaner, Hispano-(Anglo-Amerikaner, Italiener, Franko-Kanadier, Iren und Polen), bei denen chronische Schmerzen untersucht wurden, zeigte, dass die durch MPQ („McGill Pain Questionnaires“) gemessene Schmerzintensität nach Berücksichtigung anderer bedeutsamer Variablen (wie Alter, sozialer Status und dem “Locus of Control”) zwischen ethnischen Gruppen unterschiedlich war. Die Hispano-Amerikaner berichteten von stärksten Schmerzen bei der sensorischen und der affektiven Dimension des MPQ. Dagegen klagten die polnischen Amerikaner am wenigsten über Schmerzen.

3.6 Zusammenfassung

Die oben dargestellten Studien weisen darauf hin, dass keine klare Schlussfolgerung bezüglich Schmerzschwelle und Schmerzintensität gezogen werden kann. Einige Forscher (wie Edward et al.

1999, 2001) versuchen die unterschiedlichen Schmerzschwellen zwischen ethnischen Gruppen durch die Niveauveränderung des ß-endorphin zu erklären, das auf Stress reagiert, allerdings mangelt es zur Zeit noch an klaren Beweisen, die diese Erklärung untermauern können. Es wird meistens angenommen, dass das physiologische Substrat der Schmerzwahrnehmung in allen Kulturen ähnlich ist und daher auch die Schmerzschwellen ähnlich sind.

Auffallend sind die Ergebnisse über Selbst-, Fremdeinschätzung und den Medikamenten-gebrauch, besonders die o.g. Studie mit der sog. „patient-controlled analgesia“ (PCA). Der Bedarf an Schmerzmitteln zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen ist statistisch nicht signifikant.

Jedoch ist die Menge der ärztlich verschriebenen Schmerzmittel für die verschiedenen ethnischen Gruppen unterschiedlich. Diese Ergebnisse reflektieren evtl. kulturelle Vorurteile des medizinischen Personals und Stereotype fremder Kulturen in Gesellschaften. Ebenfalls berichten Bates et al. (1997) in einer in Puerto Rico und New England durchgeführten Studie, dass das Pflegepersonal in Puerto Rico den emotionalen Ausdruck ihrer Patienten sehr ernst nimmt, sie sehen ihn sogar als Indikator für den Schmerz. Dagegen hält das Pflegepersonal in New England einen expressiven Schmerzausdruck

von Patienten für Übertreibung. Edwards et al. (2001) weisen darauf hin, dass ein solches Vorurteil Misstrauen zwischen dem medizinischen Personal und den Angehörigen anderer ethnischer Gruppen in einer Gesellschaft verursacht und ebenso die Kommunikation zwischen Arzt und Patient aus verschiedenen ethnischen Gruppen erschwert.

Diese Arbeit geht davon aus, dass sich die unterschiedliche Schmerzreaktionen und das kulturell verschiedene Schmerzverhalten auf unterschiedliche soziale Bedingungen und gesellschaftliche Konventionen zurückführen lässt. Statt die körperliche Wahrnehmung (wie z.B. die Schmerzintensität) zu messen, steht im Mittelpunkt dieser Arbeit der kognitive Teil der Krankheitswahrnehmung und -reaktionen bzw. die Einstellungen und Überzeugungen bezüglich Rückenschmerzen. Wie in diesem Kapitel erläutert, ist das Laienwissen subjektiv und nicht-wissenschaftlich, enthält jedoch eine bestimmte Regelung der Kausalität. Was als kausal angesehen wird, ist häufig von Kultur zu Kultur unterschiedlich. In dieser Arbeit werden nur bestimmte Aspekte des Alltagswissens überprüft, darunter die „Kausal“ und „Kontrollattributionen“.

4 Konzeptueller Rahmen

Im folgenden werden einige Besonderheiten des taiwanischen Gesundheitssystems, die nicht als bekannt vorausgesetzt werden können, aufgeführt. Des weiteren wird genauer erläutert, was unter dem in dieser Arbeit genauer betrachteten Schmerz-Krankheitsbild „Rückenschmerzen“ verstanden wird, um es so für die empirische Erforschung besser handhabbar zu machen. Außerdem werden in diesem Kapitel die Variablen „Schmerz“ und „Alltagswissen“ operationalisiert. Wie kann die Variable

„Schmerz“ mit dem Alltagswissen, hier insbesondere die schmerzbezogenen Einstellungen bzw.

Überzeugungen verbunden werden? In einem weiteren Punkt wird auf eine in dieser Studie angewandte Methode, die sogenannte „Vignetten-Technik“, eingegangen.