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5 Fragestellungen und Hypothese

8.2 Die Untersuchung mit Vignette

Das Ergebnis der multivariaten Varianzanalyse zeigt, dass die Unterschiede in den verschiedenen Überzeugungen auf zwei der vier untersuchten Variablen zurückgeführt werden können. Hinsichtlich des Faktors „Kultur“ konnte bestätigt werden, dass die schmerzbezogenen Überzeugungen von Taiwanern und Deutschen sich unterscheiden. Dagegen lässt sich kein unterschiedliches Überzeugungsmuster zwischen Patienten- und Kontrollgruppe feststellen. Nur eine Variable der Vignettenkonstruktion führt zu Unterschieden in den geäußerten Schmerzüberzeugungen, nämlich die Variable „Schmerzstatus“ (akut/chronisch). Dagegen hat der Unterschied zwischen Rückenschmerzen mit oder ohne klaren somatischen Befund keinen Einfluss auf die schmerzbezogenen Überzeugungen.

Der Einfluss der Variable „Kultur“ auf die schmerzbezogenen Überzeugungen: Ergebnisse zu Hypothesen A1.1 bis A1.5

Die univariate Varianzanalyse bestätigt Unterschiede auf den Skalen der biomedizinischen Kausal-, Kontrollattributionen und der fatalistischen Überzeugung. Anders als in den Hypothese A1.1 und A1.2 angenommen, zeigt das Ergebnis, dass Taiwaner biomedizinisch orientierte Ursachenzuschreibungen und Kontrollmöglichkeiten bevorzugen.

Die Hypothese A1.3 und A1.4 können ebenfalls nicht bestätigt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass Taiwaner und Deutsche ähnliche Einstellungen bezüglich der psychosozialen Attributionen haben.

Trotz der Popularität der Psychologie in Deutschland sind die psychosozialen Kausalattributionen bei Deutschen und Taiwanern ähnlich häufig. Taiwaner akzeptieren auch die psychosozialen Kontrollattributionen nicht stärker als Deutsche.

Eine mögliche Erklärung für die nicht bestätigten Hypothesen in bezug auf die biomedizinischen und psychosozialen Attributionen ist die Annahme, dass die Begriffe „Körper“ und „Seele“ bzw. „Psyche und Soma“ psychische und somatische Faktoren in den beiden Kulturen eine andere Versprachlichung erfahren. Wie im Kap.3.4.2.3 erwähnt, wird der körperliche und seelische Zustand in der chinesischen Kultur und der TCM häufig durch metaphorische Konzepte wie „Qi“ oder „Wuxing“ dargestellt, die mit

„Psyche“ und „Soma“ nicht gleichzusetzen sind und vielmehr Mischformen davon zeigen.

Eine weitere mögliche Erklärung für die Ergebnisse bezüglich der Hypothesen A1.1 und A1.2 ist die Tendenz zur Somatisierung in der chinesischen Kultur. Konflikte oder psychosoziale Probleme werden demnach in der chinesischen Gesellschaft häufig nur sehr indirekt ausgesprochen oder gar nicht verbalisiert, vor allem, wenn es sich um subjektive und emotionale Inhalte handelt (White 1982). Wenn es keine geeigneten Begriffe für die psychologischen Prozesse gibt oder die affektbezogenen Störungen als irrelevant oder als nicht kommunizierbar gelten, können die Patienten ihre Beschwerden nur durch die indirekte Metaphorik der körperlichen Symptome beschreiben. Kleinman (1980) zeigt am Beispiel des chinesischen Zeichen „Men“, wie dieser Begriff, der ursprünglich so viel wie „schwül“,

„erstickend“ bedeutet und im weiteren Sinne für Beschwerden beim Atmen oder Beklemmungsgefühlen in der Brust verwendet wird, von Patient und behandelndem Arzt in Taiwan im Kontext einer

„Depression“ verwendet werden.

Ebenso haben die Behandlungsmaßnahmen der TCM und der taiwanischen Volksmedizin, wie Tai-Chi, Akupunktur oder „medikamentöse“ Heilkräuter-Therapien den Einfluss auf die biomedizinisch(körperlichen) Attributionen. Die Behandlungen richten sich oft zuerst eher auf die somatischen Faktoren am Anfangsphase. Die Tendenz zur Somatisierung wird dadurch verstärkt.

Die Hypothese A1.5 konnte dagegen bestätigt werden. Die stärkere Verwendung von fatalistischen Attributionen in der taiwanischen Gruppe lässt sich vor allem durch den schlechteren beruflichen

Gesundheitsschutz, sowie das geringere Angebot des taiwanischen Gesundheitssystems erklären. Die Deutschen erfahren Rückenschmerzen als Krankheit, weil es für sie ein professionelles und differenziertes Behandlungsangebot gibt. In Taiwan, wo es dieses Angebot nicht gibt, werden Rückenschmerzen dagegen als ein alltägliches, mehr oder weniger großes Unglück, „Schicksal“ oder

„Pech“ interpretiert. Weitere Aspekte der unterschiedlichen fatalistischen Einstellungen werden im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit den Patienten- und Kontrollgruppen behandelt.

Der Einfluss der Variable „Gruppenstatus“ auf die schmerzbezogenen Überzeugungen:

Ergebnisse zu Hypothesen A2.1 bis A2.3

Die Unterschiede aller Skalenwerte zwischen Patientengruppe und Kontrollgruppe sind nicht statistisch signifikant. Die Hypothese über die unterschiedlichen schmerzbezogenen Überzeugungen zwischen Patienten- und Kontrollgruppen konnte nicht bestätigt werden. Jedoch müssen hier zusätzlich die Interaktionen zwischen den Faktoren „Kultur“ und „Gruppenstatus“ berücksichtigt werden.

Der Einfluss der Variable „Krankheitsverlauf“ auf die schmerzbezogenen Überzeugungen:

Ergebnisse zu Hypothese A3.1 bis A3.4

Wie in der Hypothese A3.1 vorhergesagt, sind die Überzeugungen in Hinsicht auf somatische bzw.

biomedizinische Ursachen zwischen den Vignetten mit akuten bzw. chronischen Rückenschmerzen sehr ähnlich. Anders als in Hypothese A3.2 angenommen glauben die Untersuchungsteilnehmer allerdings, dass die biomedizinische Behandlung eine gleich gute Wirkung auf die akuten und die chronischen Rückenschmerzen hat.

Die Hypothese A3.3, in der über die unterschiedliche Tendenz bezüglich der psychosozialen Attributionen thematisiert wurde, konnte bestätigt werden. Der Einfluss der psychosozialen Faktoren bei der Ursachenerklärung und den Kontrollmöglichkeiten werden bei der Fallgeschichte mit chronischen Rückenschmerzen stärker bejaht als bei der Fallgeschichte mit akuten Rückenschmerzen.

Chronische Rückenschmerzen werden, wie schon in der Hypothese A3.4 angenommen, häufiger als

„unkontrollierbar“ oder „unberechenbar“ bewertet. Die in der Falldarstellung beschriebenen chronischen Rückenschmerzen werden im Vergleich mit akuten Rückenschmerzen stärker als Schicksal oder Pech interpretiert, und es wird häufiger empfohlen, in diesem Fall die Schmerzen hinzunehmen statt sich gegen sie aufzulehnen.

Der Einfluss der Variable „Befundsstatus“ auf die schmerzbezogenen Überzeugungen:

Ergebnisse zu Hypothese A4.1 bis A4.3

Die Variable „Befundsstatus“ hat nur einen geringen Einfluss auf die schmerzbezogenen Überzeugungen. Die Hypothese A4.1 konnte nur teilweise bestätigt werden.

Die Ergebnisse bestätigen den Zusammenhang zwischen klarem somatischen Befund / somatischer Ursache der Rückenschmerzen und der positiven Bewertung der biomedizinischen Kausalattributionen.

Dagegen bleiben die biomedizinischen Kontrollattributionen konstant, gleich ob es sich um

Rückenschmerzen mit oder ohne einen somatischen Befund handelt. Möglicherweise spielt die Frage der Wirksamkeit der Linderungs- oder Behandlungsmethoden bei den Kontrollattributionen eher eine wichtigere Rolle als die Frage nach den Ursachen der Rückenschmerzen.

Die Hypothesen A4.2 und A4.3 bezüglich psychosozialen Attributionen und der fatalistischen Einstellungen werden durch die Ergebnisse nicht gestützt. Die in dieser Studie dargestellten möglichen Ursachen der Rückenschmerzen werden im Alltag wahrscheinlich eher als medizinisch wichtig, für den Laien aber eher belanglos betrachtet. Vermutlich sehen die Befragten dieser Studie keinen Zusammenhang zwischen „Befundsstatus“, psychosozialen Attributionen und fatalistischen Einstellungen.

Ein andere mögliche Erklärung ist, dass die in den Vignetten vorgegebenen Ursachenbeschreibungen zu knapp sind und daher für die Untersuchungsteilnehmer keine bedeutsamen Informationen liefern.

Interaktionen zwischen den Faktoren „Kultur“ und „Gruppenstatus“

1) Auf die psychosozialen Kontrollattributionen

Obwohl bei den psychosozialen Kontrollattributionen keine unterschiedliche Überzeugungstendenz zwischen den Kulturen (Taiwaner vs. Deutsche) und den Gruppen (Patienten- vs. Kontrollgruppe) bestätigt werden konnte, zeigt sich doch ein Interaktionseffekt zwischen „Kultur“ und „Gruppe“. Der Einfluss der Variablen „Kultur“ und „Gruppe“ kann nicht klar interpretiert werden. Die deutsche Patientengruppe glaubt stärker an die psychosozialen Kontrollattributionen. Dagegen sind die schmerzbezogenen Überzeugungen bezüglich der psychosozialen Kontrollattributionen bei taiwanischen Patienten und Nicht-Patienten und bei der taiwanischen und deutschen Kontrollgruppe ähnlich. Eine Erklärung dafür ist der Kontakt der deutschen Patienten mit aktuellem (popularisiertem) Wissen über die komplexen Wechselwirkungen zwischen somatischen und psychischen Faktoren.

Dieses wurde ihnen in der Schmerzklinik vermittelt, bzw. entspricht auch ihrer eigenen Erfahrung mit ihrer Erkrankung.

2) Auf die Überzeugungen bezüglich Fatalismus

Der Einfluss des Faktors „Kultur“ bleibt interpretierbar, d.h. Taiwaner betrachten Rückenschmerzen stärker fatalistisch als Deutsche. Jedoch ist der Einfluss des Faktors „Gruppenstatus“ unklar. Innerhalb der taiwanischen Stichprobe ergibt sich keine signifikant unterschiedliche Bewertungstendenz zwischen Patientengruppe und Kontrollgruppe. Jedoch tendiert die Kontrollgruppe statistisch signifikant stärker zu einer fatalistischen Bewertung als die Patientengruppe innerhalb der deutschen Stichprobe.

In Deutschland stehen den Patienten vielfältige Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Patienten werden ermutigt, den Schmerzen aktiv zu begegnen. Eine fatalistische Haltung hätte in diesem Zusammenhang eher resignative Züge. Es ist allerdings anzunehmen, dass Patienten, die an einer Studie mitarbeiten, eher zu den Patienten zählen, die ihrer Erkrankung aktiver begegnen und weniger resignieren.

Interaktionen zwischen den Faktoren „Kultur“ und „Krankheitsverlauf“

Auf die psychosozialen Kausalattributionen

Wie bereits schon dargestellt, hat der Faktor „Kultur“ keinen signifikanten Effekt auf die Überzeugung.

Obwohl der Faktor „Krankheitsverlauf“ einen signifikanten Effekt auf die psychosozialen Kausalattributionen hat, trifft dieses nur auf die taiwanische Stichprobe zu. Betrachtet man nur die deutsche Stichprobe, ist der Unterschied zwischen den Annahmen zu akuten und chronischen Schmerzen nicht bedeutsam: Die Rolle der psychosozialen Faktoren bei akuten Rückenschmerzen erscheint den deutschen Untersuchungsteilnehmern genauso wichtig, wie wenn die Person in der Vignette chronische Rückenschmerzen hat. Eine mögliche Erklärung dafür sind die unterschiedlichen Einflüsse der verfügbaren psychologischen bzw. psychosomatischen Theorie auf das Alltagswissen.

Nach Angabe des „Health and National Health Insurance Annual Statistics Information Service“ 1 gab es in Taiwan bis Ende 2005 insgesamt 533 klinische Psychotherapeuten („clinical psychologists“) und 703 in Beratungsstellen arbeitende Psychologen („counseling psychologists“), die eine staatlich anerkannte berufliche Qualifikation hatten, d.h. die Psychologie im westlichen Sinne spielt eine nur geringe Rolle. Dagegen wird das deutsche medizinische Alltagswissen stark von popularisiertem, psychologischem Wissen beeinflusst. Dieses popularisierte Wissen unterscheidet nicht streng zwischen chronisch und akut,

Akute Rückenschmerzen können sich die Taiwaner durch die o.g. metaphorischen Konzepte erklären, chronische Schmerzen benötigen eine zusätzliche Erklärung, die die Taiwaner in ihrem eigenen Wissen über psychosoziale Einflussfaktoren finden.

8.3 Untersuchung der allgemeinen Einstellungen zu chronischen