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Erfassung von Überzeugungen zu Rückenschmerzen durch Vorgaben

5 Fragestellungen und Hypothese

5.1 Erfassung von Überzeugungen zu Rückenschmerzen durch Vorgaben

In diesem Teil der Untersuchung lesen die Teilnehmer der Untersuchung zuerst eine kurze Fallgeschichte, in der es um eine Patientin mit Rückenschmerzen geht, danach wird ihre Meinung zu dieser Geschichte mit einem Fragebogen erhoben. Die im Kap. 4.2 erwähnten zwei schmerzbezogenen Variablen – „Schmerzstatus“ und „Befundstatus“ werden in den Vignetten systematisch variiert (zum genauen Inhalt der Vignetten s.u.). Folgende Fragestellungen sollen untersucht werden:

Fragestellung A1: Sind die Überzeugungen zu Rückenschmerzen bei Taiwanern anders als bei den Deutschen?

A1.1 Es gibt keinen Bewertungsunterschied zwischen Taiwanern und Deutschen bezüglich der biomedizinischen Kausalattributionen zu Rückenschmerzen.

A1.2 Unter der starken Beeinflussung der Schulmedizin bevorzugen Deutsche biomedizinische Kontrollattributionen.

A1.3 Im Vergleich mit Taiwanern akzeptieren Deutsche eher psychosoziale Kausalattributionen.

A1.4 Taiwaner glauben eher an psychosoziale Kontrollmöglichkeiten als Deutsche.

A1.5 Taiwaner tendieren eher als Deutsche dazu, Rückenschmerzen „fatalistisch“ oder

„schicksalhaft“ zu bewerten.

Weil Rückenschmerzen ein relativ klares körperliches Beschwerdebild haben, wird die biomedizinische

Ursachenerklärung in beiden Kulturen in etwa gleich stark akzeptiert. Jedoch kann angenommen werden, dass Deutsche mehr an eine biomedizinische Kontrollmöglichkeit glauben, weil die schulmedizinische Behandlung bei Rückenschmerzen in der deutschen Gesellschaft weithin anerkannt ist und als erfolgreich gilt.

Im taiwanischen medizinischen Alltagswissen ist dagegen die Trennung des Menschen in „Psyche“ und

„Soma“ unüblich (s.o.). Daher ist es wahrscheinlich, dass die taiwanischen Teilnehmer der Studie psychosoziale Faktoren eher nicht zu den vorrangigen Ursachen von Rückenschmerzen zählen. Was die Kontrollattributionen angeht, so hat in Deutschland und anderen westlichen Ländern „psychisch“ bzw.

„psychosomatisch“ oft eine negative Bedeutung und wird auch deswegen eher verneint. Dieses ist in Taiwan wegen der o.g. fehlenden Trennung weniger wahrscheinlich: Die im Fragebogen aufgeführten psychosozialen Kontrollmöglichkeiten betrachten sie eher als eine natürliche Art der Kontrolle, die mit professionalisierten Formen der Psychologie wenig zu tun hat.

Was die hier angenommene überwiegend fatalistische Sichtweise der Taiwaner angeht, so kann man sie einerseits darauf zurückführen, dass sie im Vergleich mit den Deutschen im Fall einer Krankheit wesentlich weniger gesetzlich geregelte Unterstützung erhalten (s.o.). Andererseits betont das von der chinesischen Kultur beeinflusste taiwanische Weltbild die Harmonie zwischen Mensch und Natur. Diese Harmonie bedeutet nicht wie im westlichen Sinne das Wohlergehen des Einzelnen, sondern kann auch die Erkrankung und den Tod einer einzelnen Person einschließen. Infolgedessen tendieren Taiwaner dazu, Rückenschmerzen fatalistisch oder schicksalhaft zu attribuieren.

Fragestellung A2: Unterscheiden sich die Überzeugungen der Patienten mit Rückenschmerzen von denen der Kontrollgruppe, die in den letzten 6 Monaten keine behandlungsbedürftigen Rückenschmerzen hatte?

A2.1 Im Vergleich mit der Kontrollgruppe stimmen die Patienten mit Rückenschmerzen generell eher den biomedizinischen Kausal- und Kontrollattributionen zu.

A2.2 Patienten mit Rückenschmerzen akzeptieren weniger die psychosozialen Kausal- und Kontrollattributionen zu Rückenschmerzen.

A2.3 Die Patienten neigen dazu Rückenschmerzen eher fatalistisch zu interpretieren.

Wegen ihrer eigenen Erfahrung und dem unmittelbaren und häufigen Kontakt zu Professionellen, verfügen Patienten mit Rückenschmerzen oft über mehr und aktuellere medizinische Informationen über Rückenschmerzen als Nicht-Patienten. Wie schon im Kapitel 2 erwähnt, weisen viele Studien darauf hin, dass eine auffallend starke Akzeptanz biomedizinischer Attributionen einer der Risikofaktoren für die Chronifizierung von Rückenschmerzen ist. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe sollte die Patientengruppe daher deutlich mehr ausgeprägte biomedizinische Attributionen zeigen.

Dagegen sollte die Kontrollgruppe stärker die psychosozialen Attributionen akzeptieren. Studien über

„externale Attributionen“ (s. Kap. 3.3.1.1) unterstützen die Annahme, dass die Patientengruppe

wahrscheinlich die Verantwortung für Ursache und Fortgang ihrer Erkrankung eher nicht tragen, sondern an professionelle Behandlung delegieren möchte. Wenn dieses nicht zum Erfolg führt, interpretieren sie ihre Erkrankung schnell als Pech oder Zufall und als Leiden, an niemand etwas ändern kann.

Fragestellung A3: Unterscheiden sich die Überzeugungen zu akuten Rückenschmerzen von denen zu chronischen Rückenschmerzen?

A3.1 In Hinsicht auf die biomedizinischen Kausalattributionen unterscheiden sich die Überzeugungen zur Fallschilderung mit akuten Rückenschmerzen von den Überzeugungen zur Fallschilderung mit chronischen Rückenschmerzen nicht.

A3.2 Biomedizinischen Kontrollattributionen werden bei der Fallschilderung mit akuten Schmerzen stärker zugestimmt als bei der Fallschilderung mit chronischen Rückenschmerzen.

A3.3 Im Vergleich mit den akuten Schmerzen werden, was Ursachenzuschreibung und Kontrollmöglichkeit betrifft, bei chronischen Schmerzen mehr psychosoziale Einflüsse gesehen.

A3.4 Bei der Falldarstellung mit chronischen Rückenschmerzen wird eher fatalistisch attribuiert als bei akuten Rückenschmerzen.

Ein körperliches Symptom fällt dem Betroffenen oft sehr schnell auf, und ist ein entscheidendes Kriterium seiner „Selbst-Diagnose“. Sowohl akute als auch später chronische Rückenschmerzen werden von Laien vor allem als körperliches Leiden wahrgenommen. Die Ursachen, die der Betroffene für akute bzw. chronische Rückenschmerzen annimmt, sollten sich, was die somatischen Ursachen angeht, nicht voneinander unterscheiden. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Behandlungsmöglichkeiten akuter und chronischer Rückenschmerzen unterschiedlich eingeschätzt werden. Bei den akuten Rückenschmerzen wird wahrscheinlich die biomedizinische Behandlung, die in der akuten Phase erfolgreich erscheint, eher als Möglichkeit gesehen, die Krankheit zu kontrollieren.

Eine solche Erfahrung hat vermutlich fast jeder Erwachsene gemacht (bei akutem Kopfschmerz oder Zahnschmerz können Analgetika helfen). Im Gegensatz dazu kann angenommen werden, dass die Wirkung einer biomedizinischen Behandlung bei chronischen Rückenschmerzen als weniger überzeugend wahrgenommen wird.

Ähnlich wie bei anderen chronischen Krankheiten ist der Krankheitsverlauf nicht linear und wird durch Rückkopplungseffekte noch zusätzlich kompliziert: Wer dauerhaft Schmerzen hat, wird sich eher als deprimiert, hilflos und hoffungslos erleben, was die Schmerzen noch quälender macht. Wer durch Schmerzen und Krankheit gereizt ist, neigt evtl. auch dazu, sich gegenüber seiner sozialen Umwelt anders als früher zu verhalten, und erfährt durch sein aggressives oder auch leidend passives Verhalten eine andere Behandlung von Seiten seiner Umwelt. Es ist daher anzunehmen, dass schon allein wegen der Vertrautheit solcher Wirkungsketten auch psychosoziale Faktoren als eine Einflussquelle betrachtet

werden, und dieses wegen der länger andauernden Beeinträchtigung vor allem bei chronischen Rückenschmerzen. Demzufolge spielen die psychosozialen Kontrollattributionen beim Fall mit chronischen Rückenschmerzen eine größere Rolle als beim Fall mit akuten Rückenschmerzen. Ebenso sollten die Vignetten, in denen der Betroffene unter chronischen Rückenschmerzen leidet, wegen der Fragwürdigkeit des Behandlungserfolgs eher schicksalhafte oder fatalistische Attributionen aktivieren.

Fragestellung A4: Unterscheiden sich die Überzeugungen zu Rückenschmerzen mit der Angabe eines klaren somatischen Befundes von den Überzeugungen, wenn ein solcher Befund negiert wird?

A4.1 Rückenschmerzen mit klarem somatischen Befund werden mit biomedizinischer Kausalität und Kontrollmöglichkeit verbunden, während sich Rückenschmerzen ohne klaren somatischen Befund weniger durch das biomedizinische Modell erklären und kontrollieren lassen.

A4.2 Rückenschmerzen ohne klaren medizinischen Befund werden stärker mit psychosozialen Ursachen und Kontrollmöglichkeiten assoziiert.

A4.3 Rückenschmerzen ohne klaren somatischen Befund werden stärker fatalistisch interpretiert.

Eine klare oder unklare somatische Diagnose bzw. medizinischer Befund beeinflussen die Ursachenerklärung und die Wahrnehmung der Kontrollmöglichkeiten des Laien. Gibt es einen klaren somatischen Befund für Rückenschmerzen, akzeptieren die Untersuchungsteilnehmer die biomedizinische Ursachenerklärung stärker und glauben eher an eine biomedizinische Kontrollmöglichkeit. Wenn es keinen körperlichen Befund gibt, werden die psychosozialen Faktoren stärker als Erklärung akzeptiert. Daher wird die psychosoziale Kontrollmöglichkeit eher als geeignete Behandlungsmethode betrachtet. Wenn es keine eindeutige Erklärung und Kontrollmöglichkeit gibt, wird die gesundheitliche Zukunft des Patienten eher fatalistisch beurteilt.

5.2 Befragung zu allgemeinen Einstellungen zu chronische