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Klinische Problematik: Weichteildefekte und chirurgische Strategie zur Behebung

Die plastisch-rekonstruktive Chirurgie ist definiert als die wiederherstellende Chirurgie der angeborenen und erworbenen Defekte von Form und Funktion. Daher werden zumeist Eingriffe durchgeführt, welche die funktionelle und/oder ästhetische Einheit der Körperform und -funktion wiederherstellen und verbessern sollen. Dabei werden die Folgen von Krank-heit, Trauma und angeborenen Anomalien sowie Veränderungen, die durch altersbedingte Vorgänge des äußeren Erscheinungsbildes entstanden sind, behandelt. Dieses Bestreben ist eines der ältesten Konzepte der Chirurgie überhaupt. Bereits 600 vor Christus wurde eine Nasenplastik in der ayurvedisch-chirurgischen Textsammlung „Sushruta Samhita“ des indi-schen Arztes Sushruta beschrieben, die später als „indische Methode“ bezeichnet wurde, bei der aus einem medialen Stirnlappen mit dem blutversorgenden Gefäßstiel aus dem Nasen-Augenwinkel eine neue Nase geformt wurde (Abb. 1 A; Hessler 1855, Bhishagratna 2006).

Schon damals wurde sowohl die Bedeutung der Stigmatisierung durch die fehlende Nase als auch der Gewinn an Lebensqualität durch die Rekonstruktion betont.

Im weiteren historischen Verlauf entstanden verschiedenste Techniken der Defekt-deckung, denen gemein ist, dass körpereigenes Gewebe an einer Stelle entnommen wird, um an einer anderen Stelle einen Defekt zu decken. Besonders hervorzuheben sind hier die Arbeiten des deutschen Wundarztes Heinrich von Pfalzpaint, der in der ersten Hälfte des 15.

Jahrhunderts vermutlich als Erster zur Defektdeckung von Nasendefekten Gewebe aus dem Oberarm im Sinne einer Fernlappenplastik verwandte (Weißer 1994). Diese später als

„italienische Methode“ bezeichnete Technik wurde von den Brüdern Antonio und Gustavo Branca aus Sizilien und der Vianeo-Familie aus Tropea (Kalabrien) so meisterhaft eingesetzt, dass sie 1570 in Fioravantis umfassendem Buch „Il tesoro della vita umana” in einem eigenen Kapitel beschrieben wurde („Capitolo 27: Del modo che tenevano quei due fratelli nel fare i nasi“; Übersetzung: Von der Art, die diese zwei Brüder hatten, Nasen zu machen. Micali 1993).

- 2 - Abbildung 1: Historische Darstellung verschiedener Lappenplastiken zur Nasen-rekonstruktion. A: „Indische Methode“ mit Hebung eines Lappens aus der medialen Stirn-region [aus Carpue 1816]; B: „Italienische Methode“ mit der Hebung des Lappens aus der Oberarmregion [aus Tagliacozzi 1597]

Gasparo Tagliacozzi war der erste wissenschaftliche Arzt, der in seinem Werk „De curatorum chirurgia per insitionem“ (Übersetzung: Über die chirurgische Behandlung durch Ersatz) diese Methode untersuchte und beschrieb (Abb. 1 B; Burian 1961, Micali 1993).

Leider gerieten diese Techniken in Europa später in Vergessenheit und es sollte bis ins beginnende 19. Jahrhundert dauern, bis Berichte über während des Mittelalters in Indien fortgeführte Operationen sowie die Erfolge der indischen Ärzte in der Nasenrekonstruktion in England veröffentlich wurden (Longmate 1794, Carpue 1816).

Essenzielle Beiträge zur plastisch-rekonstruktiven Chirurgie wurden in Deutschland von Johann Friedrich Dieffenbach, Erich Lexer und Jacques Joseph geleistet, letzterer hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fibula-Transpositionen als osteokutane Lappen zur

„chirurgischen Modellierung und Knocheneinführung“ von vollständig oder nahezu vollständig entfernten Nasen verwendet (Dieffenbach 1829, 1845, Lexer 1920, 1925, 1931, Joseph 1907, 1912, 1931). Ebenfalls sollten hier noch die Arbeiten von Igninio Tansini aus

- 3 - Padua erwähnt werden, der als Erstbeschreiber der Latissimus-dorsi-Lappenplastik gelten kann. Er schwenkte einen an der Arteria thoracodorsalis gestielten Hautmuskellappen aus dem M. latissimus dorsi und der darüber liegenden Hautinsel zur Defektdeckung nach der ebenfalls von ihm beschriebenen radikalen Mastektomie nach ventral, ein Verfahren, dass erst 80 Jahre später von Neven Olivari „wiederentdeckt“ wurde (Tansini 1896, 1906, Olivari 1976, Bostwick et al. 1978, Bostwick et al. 1979, Maxwell 1980, Bianchi et al. 1983, Olivari 2004). Schließlich führte Holmström 1979 erstmalig eine Defektdeckung mittels eines freien myokutanen Musculus-rectus-abdominis-Lappens durch, bei dem der versorgende Pedikel durchtrennt und durch eine arterio-arterielle Anastomose mit einem dem Defekt nahen Blutgefäß (A. mammaria interna) mikrochirurgisch verbunden wurde (Holmström 1979). Er nannte diese Technik „freie Lappenplastik“, da kein räumlicher Bezug des Spender- zum Empfängerareal mehr vonnöten war. Bekannt wurde diese Technik auch durch die Arbeiten von Pennigton und Hartrampf (Hartrampf 1982, Pennigton 1991). Nach Entwicklung dieser Technik wurden die freien Lappen immer häufiger angewandt, da nun für jeden Defekt eine

„maßgeschneiderte“ Deckung möglich war und nicht, wie zuvor, die Deckung vom lokal verfügbaren Gewebe abhängig war.

Als neueste Entwicklung der freien Lappen kam es aufgrund von Verbesserungen der mikrochirurgischen Technik zur Entwicklung der sogenannten „Perforator“-Lappen, bei der die superfisziale Faszie perforierende Blutgefäße als versorgende Pedikel genutzt werden, hier sollen insbesondere die Pionierarbeiten von Koshima genannt werden (Koshima und Soeda 1989, Koshima et al. 1991, 1992, Itoh und Arai 1993, Allen und Treece 1994, Allen 1998).

Aufgrund der Diversität der verfügbaren Lappenplastiken ist es jedoch schwierig, eine einheitliche Einteilung vorzunehmen. Daher existieren unterschiedliche Einteilungen parallel, wobei sich jedoch bestimmte Einteilungen aufgrund ihrer klinischen Bedeutung bewährt haben. Diese sind in Tabelle 1 dargestellt (Granzow 2010, Gohritz 2011, Weyand 2011).

Diese unterschiedlichen Arten der plastisch-chirurgischen Defektdeckung brachten 1982 Matthes und Nahai dazu, als Systematik für die Deckung von Weichteilgeweben das Konzept der „rekonstruktiven Leiter“ zu propagieren, welches die Schwierigkeit der jeweiligen Operation als Stufe einer gedachten Leiter darstellt, angefangen beim einfachen primären Wundverschluss bis hin zum operativ schwierigsten freien mikrovaskulären Lappen (Abb. 2, Matthes und Nahai 1982). Gemäß des klassischen Paradigmas der rekonstruktiven Leiter sollte jede nächste Stufe erst erklommen werden, wenn alle Möglichkeiten der vorherigen ausgeschöpft sind.

- 4 - Einteilung nach: Arten der Lappen:

Blutgefäßversorgung Random pattern flaps

Tabelle 1: Darstellung verschiedener Einteilungssysteme von Lappenplastiken. [Nach Wey-and 2011, Gohritz 2011 und Granzow 2010]

Zu dieser Zeit, in der die ersten freien Lappenplastiken populär wurden und eine solche mikrochirurgische Operation daher noch eine außerordentliche technische Schwierigkeit darstellte und mit einer hohen Rate an Lappenuntergängen begleitet war, war ein solches Konzept durchaus sinnvoll.

- 5 - Abbildung 2: Prinzip der „Rekonstruktiven Leiter“ als Richtlinie zur Defektdeckung

In neuerer Zeit aber, in der in plastisch-chirurgischen Spezialkliniken beinahe täglich freie Lappentransplantationen durchgeführt werden, ist dieses Konzept nicht mehr zeitgemäß.

Aufgrund der besseren funktionellen und ästhetischen Ergebnisse wird häufig schon „höher“

auf der rekonstruktiven Leiter begonnen, d.h. mit den freien Lappen, sodass die Frage, warum man nicht auf jeder beliebigen Stufe „hochfahren“ kann, zum Konzept des “rekonstruktiven Fahrstuhls“ führte (Gottlieb und Krieger 1994, Bennett und Choudhary 2000).

Heute erfolgt üblicherweise eine gründliche Evaluation des geplanten Verfahrens vorrangig anhand der Patientenpräferenzen, des Patientenalters und -allgemeinzustandes (und damit der Frage, inwiefern ein komplexer Eingriff mit entsprechend langer Narkosedauer vom Patienten verkraftet wird), des Gefäßstatus insbesondere in der Empfängerregion und der zur Transplantation zur Verfügung stehenden Gewebe.

Jedoch ist den heute zur Verfügung stehenden Eingriffen und den freien Lappenplastiken im Besonderen gemein, dass an einer anderen Körperregion Gewebe entnommen und somit ein Hebedefekt gesetzt werden muss. Daher sollte ein solcher rekonstruktiver Eingriff stets wohlüberlegt geplant und sorgfältig durchgeführt werden, da im Falle eines Untergangs des transplantierten Gewebes nichts gewonnen, jedoch an einer anderen Körperregion ein Verlust

- 6 - entstanden ist. Dieses Prinzip wird im englischsprachigen Raum als „robbing Peter to pay Paul“ bezeichnet (nach dem englischen Brauch, nach Abspaltung der anglikanischen von der römisch-katholischen Kirche den Kirchenzehnten für die anglikanische Kirche (und damit der St. Paul’s Cathedral in London als Mutterkirche, „Paul“) vom zurückgelegten Geld für die römisch-katholische Kirche (und damit dem Petersdom in Rom als Mutterkirche, „Peter“) zu nehmen).

Aus diesem Grund erscheinen insbesondere in der rekonstruktiven Chirurgie Verfahren, die ohne Hebedefekt durchführbar sind, attraktiv, wobei in der experimentellen Forschung zum einen die Transplantation von Leichengeweben (Composite Tissue Allotransplantation, CTA), zum anderen das Tissue engineering, d.h. die Züchtung von Geweben auf Biomaterialien mithilfe körpereigener Zellen, verheißungsvoll erscheinen. Bei der CTA ist eine massive Immunsuppression mit den damit verbundenen erhöhten Risiken zur Neubildung von Malignomen und von lebensgefährlichen Infektionen erforderlich, häufig sind auch die psychischen Auswirkungen bedeutend (Hettiaratchy et al. 2001, Piza-Kazer 2008). So wurde bei der weltweit ersten Handtransplantation nach einem halben Jahr eine Re-Amputation der transplantierten Hand auf Patientenwunsch durchgeführt; hier waren sowohl die psychische (durch die Tatsache, die Hände eines Toten zu haben) als auch die physische Belastung durch die Immunsuppression entscheidend.

Daher erscheint insbesondere das Tissue engineering eine in der zukünftigen rekonstruktiven Chirurgie bedeutende Alternative.

1.2 Biomaterialien als Matrizes zum Tissue engineering in der