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2 Theoretische Grundlagen

2.4 Kontrafaktische Gedanken

2.4.4 Kognitive Effekte kontrafaktischer Gedanken

2.4.4.1 Kausale Inferenzen und Strategiebildung

Wenn kontrafaktische Gedanken die Form eines Konditionalsatzes annehmen, also ein Antezedens mit einem Ergebnis in Verbindung setzen, beinhalten sie kausale Schlussfolge-rungen (vgl. Abschnitt 2.4) (Roese, 1997; Roese & Olson, 1997). Wenn beispielsweise eine Studentin eine Prüfung nicht besteht und realisiert, dass sie bestanden hätte, wenn sie

re-gelmäßig die Vorlesung besucht hätte, hat sie die Teilnahme an Vorlesungen als eine ur-sächliche Vorbedingung für das Bestehen von Prüfungen erkannt.

Der Effekt kausaler Schlussfolgerungen kontrafaktischer Gedanken auf Verhalten und Leistungen beruht darauf, dass kausale Schlussfolgerungen helfen, ursächliche Verbindun-gen zwischen den HandlunVerbindun-gen im Antezedenz und der Konsequenz zu identifizieren.

Dadurch entstehen Erwartungen darüber, welche Konsequenzen das Ergreifen solcher Handlungen in der Zukunft haben wird. Diese Erwartungen erlauben es Personen, spezifi-sche Verhaltensabsichten und Strategien darüber zu entwickeln, welche Handlungen ergrif-fen oder lieber nicht ergrifergrif-fen werden sollten (Roese, 1997; Wells & Gavanski, 1989). Späte-re Leistungen in ähnlichen Situationen werden in dem Ausmaß gesteigert, in dem die kausa-len Schlussfolgerungen zumindest teilweise korrekt sind (Roese & Olson, 1997; Wells & Ga-vanski, 1989). Die kausalen Schlussfolgerungen können also genutzt werden, um sich auf zukünftige Situationen vorzubereiten und mit diesen angemessener umzugehen. Deshalb wird der Effekt kausaler Schlussfolgerungen mit einer preparativen Funktion kontrafaktischer Gedanken in Verbindung gebracht (Roese, 1994, 1997).

Obwohl alle Typen kontrafaktischer Gedanken kausale Schlussfolgerungen beinhalten (Markman & McMullen, 2003; Morris & Moore, 2000; Roese & Olson, 1997; Segura & Morris, 2005), haben sich bestimmte Ausprägungen in Richtung, Struktur und Fokus als besonders leistungsförderlich erwiesen (Epstude & Roese, 2008; Roese, 1994).

Bezüglich der Richtung kontrafaktischer Gedanken haben aufwärtsgerichtete kontra-faktische Gedanken eine stärkere preparative Funktion als abwärtsgerichtete. Schon früh entstand die theoretische Vorstellung, dass die mentale Simulation besserer Alternativen eine Lernmöglichkeit darstellt, zukünftige Ergebnisse zu verbessern (Johnson & Sherman, 1990; Karniol & Ross, 1996). Konkret beschreibt Roese (1994) den Nutzen aufwärtsgerichteter kontrafaktischer Gedanken: „Upward alternatives may be taken as schemata for future action, making salient those scripts that are necessary to facilitate suc-cess” (S. 806). Zum Beispiel kann ein Assistenzarzt denken “Wenn ich meinen Oberarzt um Rat gefragt hätte, würde es dem Patienten jetzt besser gehen“. Daraus kann er relativ direkt

die Lehre ziehen „Wenn ich unsicher bin, frage ich in Zukunft einen erfahrene Kollegen um Rat“.

Während aufwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken auf Verbesserungen gegen-über der gegenwärtigen Situation hinweisen, sind aus abwärtsgerichteten kontrafaktischen Gedanken nicht direkt Strategien für Verbesserungen des Status quo abzuleiten (Markman &

McMullen, 2003; Morris & Moore, 2000; Roese, 1997; Roese & Olson, 1997). Abwärtsgerich-tete kontrafaktische Gedanken identifizieren, was man tun oder unterlassen sollte, um ein negativeres Ergebnis in der Zukunft zu verhindern. Wenn ein Student eine Prüfung eben gerade noch besteht und denkt „Wenn ich weniger gelernt hätte, wäre ich durchgefallen“

kann er ableiten, dass ein gewisses Maß an Lernen wichtig ist, um Prüfungen zu bestehen.

Der abwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanke beinhaltet zwar den Hinweis, dass er bei der nächsten Prüfung genauso viel lernen sollte, um nicht durchzufallen, gibt aber im Gegensatz zu aufwärtsgerichteten kontrafaktischen Gedanken keinen Hinweis, was der Student tun soll-te, um eine gute Prüfungsleistung zu erzielen. Dass eine Person nach abwärtsgerichteten Gedanken intensiv über kausale Einflüsse nachdenkt und schließlich auch leistungsförderli-che Lehren zieht, ist nach Morris und Moore (2000) zwar nicht auszuschließen, aber viel aufwändiger und unsicherer als nach aufwärtsgerichteten kontrafaktischen Gedanken. Ob-wohl abwärtsgerichtete Gedanken also helfen können, Strategien zu entwickeln, um einen Status quo beizubehalten und ungünstigere Ergebnisse zu verhindern, erlauben sie nicht direkt, Strategien zur Leistungssteigerung abzuleiten (Morris & Moore, 2000; Roese, 1994, 1997).

Die Bedeutung der Richtung kontrafaktischer Gedanken wurde auch von Segura und Morris (2005) im Rahmen ihrer Arbeit zu erfahrungsbasiertem Lernen hervorgehoben (vgl.

Abschnitt 2.1.2). Wenn nach einer Evaluation der erlebten Konsequenzen neue Handlungs-regeln für wiederkehrende Situationen entwickelt werden, kann dieser Prozess durch kontra-faktische Gedanken unterstützt werden, wobei allerdings gilt: „The key is the premise that the agent seeks lessons for improvement from the current level: upward counterfactuals spotlight

springboards for improvement whereas downward counterfactuals spotlight pitfalls to be avoided“ (S. 101).

Untersuchungen unterstützen die postulierten Unterschiede bezüglich der Leistungs-förderlichkeit abwärts- und aufwärtsgerichteter kontrafaktischer Gedanken empirisch. In einer frühen Studie von Markman et al. (1993) spielten Versuchsteilnehmer Black Jack gegen ei-nen Computer. Einer Gruppe von Teilnehmern wurde mitgeteilt, dass sie im Anschluss noch drei weitere Runden Black Jack spielten, während die anderen Teilnehmer davon ausgingen, keine weiteren Runden zu spielen. Die Teilnehmer, die davon ausgingen, erneut zu spielen, generierten im Anschluss an die erste Runde mehr aufwärtsgerichtete kontrafaktische Ge-danken als die andere Gruppe. Dieses Ergebnis wurde von den Autoren so interpretiert, dass diejenigen, die annahmen, erneut zu spielen, aufwärtsgerichtet kontrafaktische Gedan-ken bildeten, weil sie die preparativen Informationen benötigten, um in den folgenden Run-den bessere Ergebnisse zu erzielen. Ohne die Wiederholbarkeit waren diese Informationen für die anderen Teilnehmer nicht notwendig und negative Emotionen nach aufwärtsgerichte-ten kontrafaktischen Gedanken wurden vermieden.

Nasco und Marsh (1999) untersuchten den Einfluss kontrafaktischer Gedanken in einer einmonatigen Studie mit Studenten. Nachdem die Studienteilnehmer ihre Note in einem Test rückgemeldet bekommen hatte, wurden sie gebeten, Dinge aufzuschreiben, die hätten sein können und die zu einem anderen als dem erreichten Ergebnis geführt hätten. Insgesamt wurden mehr aufwärtsgerichtete als abwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken bezüglich der akademischen Leistung generiert. Einen Monat später wurde erfasst, ob die Studenten irgendwelche Dinge unternommen hatten, um die Leistung aus dem letzten Test bei einem nachfolgenden Test zu verändern. Je mehr aufwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken die Studenten gebildet hatten, desto mehr unternahmen sie anschließend, um ihre Situation zu verbessern, indem sie beispielsweise ihre Lerngewohnheiten veränderten. Die eingeleiteten Veränderungen führten zu einem stärker ausgeprägten Gefühl persönlicher Kontrolle, was wiederum mit besseren Leistungen bei dem nächsten Test korrespondierte.

In ähnlicher Weise konnte Roese (1994, Experiment 2) zeigen, dass Studenten, die sich an eine schlechte reale Testleistung erinnern sollten und angeleitet wurden, aufwärtsge-richtete kontrafaktische Gedanken zu bilden, mehr Verhaltensintentionen für leistungsförder-liche Verhaltensweisen zeigten als Studenten, die nach der Erinnerung der Testleistung ab-wärtsgerichtete oder keine spezifischen Gedanken bilden sollten.

Noch deutlicher wurde die Leistungsförderlichkeit aufwärtsgerichteter kontrafaktischer Gedanken von Roese (1994, Experiment 3) mit Hilfe von Anagrammaufgaben gezeigt. Ver-suchsteilnehmer bearbeiteten einen ersten Block Anagrammaufgaben und wurden dann in-struiert, entweder aufwärts- oder abwärtsgerichtete und entweder additive oder subtraktive kontrafaktische Gedanken bezüglich der absolvierten Buchstabenrätsel zu generieren. Per-sonen, die aufwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken gebildet hatten, zeigten bei einem zweiten Block Anagrammaufgaben eine signifikant höhere Leistung als Personen, die ab-wärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken gebildet hatten. Dieses Ergebnis konnte für den gleichen Aufgabentyp von Reichert und Slate (2000) mit älteren Schülern repliziert werden.

Markman et al. (2008) konnten in ihrer bereits in Abschnitt 2.4.3 dargestellten Studie durch Pfadanalysen zeigen, dass bessere Leistungen nach aufwärtsgerichteten kontrafakti-schen Gedanken nicht nur durch gesteigerte Persistenz, sondern auch durch Bildung förder-licher Bearbeitungsstrategien zustande kamen.

Neben der Richtung kontrafaktischer Gedanken hat auch deren Struktur einen Einfluss auf spätere Leistungen. Additive kontrafaktische Gedanken besitzen eine stärkere preparati-ve Funktion als subtraktipreparati-ve kontrafaktische Gedanken. Zum einen liegt dies daran, dass ad-ditive Gedanken spezifischer sind. Im Rahmen von Aufwärtsvergleichen wird in ihnen eine Handlungsoption hervorgehoben, die zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Bei subtrak-tiven Gedanken wird dagegen nur eine Handlung als Option für zukünftige Situationen aus-geschlossen. Zum anderen sind additive kontrafaktische Gedanken allgemein kreativer als subtraktive. Bei subtraktiven Gedanken wird eine gezeigte Handlung mental rückgängig ge-macht. Additive Gedanken gehen dagegen über das Erlebte hinaus und können zur Entwick-lung neuartiger Optionen führen. Die größere Spezifität und Kreativität trägt zu relativ

größe-ren Leistungsverbesserungen bei (Epstude & Roese, 2008; Roese, 1994; Sirois, Monforton

& Simpson, 2010).

Kray et al. (2009) betrachten in einer aktuellen Studie den Einfluss der Struktur auf Leistungen in Verhandlungssituationen. Sie ließen ihre studentischen Teilnehmer nach einer Gehaltsverhandlung aufwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken bilden. Eine Gruppe wur-de angeleitet, additive Gedanken zu bilwur-den und die anwur-dere subtraktive. Bei einer anschlie-ßenden zweiten Verhandlung erreichten die Teilnehmer der additiven Bedingung bessere Ergebnisse als die Teilnehmer der subtraktiven Bedingung.

Schließlich weisen Morris und Moore (2000) auch auf den Fokus kontrafaktischer Ge-danken hin. Auf die eigene Person bezogene kontrafaktische GeGe-danken führen zu leistungs-förderlichen Schlüssen. Auf Basis dieser Gedanken lassen sich Verhaltensintentionen ablei-ten und Verhalablei-tensweisen verändern. Wenn sich kontrafaktische Gedanken jedoch damit beschäftigen, was andere Personen hätten anders machen können, beinhalten sie keine Strategien für das eigene Verhalten. Hier wird vielmehr die Aufmerksamkeit auf Faktoren außerhalb der eigenen Kontrolle gelenkt. Bei der Betrachtung von freiwilligen Zwischen- und Unfallberichten aus der zivilen Luftfahrt fanden Morris und Moore (2000) dies bestätigt.

Wenn die Berichte aufwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken enthielten, zogen die ten, die diese Berichte verfasst hatten, mehr Lehren und Absichten für die Zukunft als Pilo-ten, deren Gedanken sich auf andere Faktoren, wie zum Beispiel das Verhalten der Flugsi-cherung, konzentrierten.