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Teil I: Zur Historisierung des Nationalsozialismus

2. Der historische Kontext

2.2 Intentionalismus und Funktionalismus

Die traditionellen Erklärungsversuche für den Holocaust gingen davon aus, dass Hitler von Beginn seiner politischen Laufbahn an die Vernichtung der von ihm als minderwertig qualifizierten Menschen verfolgte und dies schrittweise verwirklichte. Im Falle der jüdischen Bevölkerung führte dieser Prozess von der Entrechtung zur erzwungenen Aus-wanderung, über Deportation und „Vernichtung durch Arbeit“ in Ghettos und Konzentrationslager zur Erschiessung oder zum industriellem Massenmord in den

damals noch nicht so hiess) gewidmet. Ihre Werke stiessen in der Bundesrepublik jedoch auf wenig Resonanz. Raoul Hilberg schrieb sein Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden bereits 1961, ins Deutsche übersetzt wurde es erst 1982.

8Peter Novick [1999] zeigt für die amerikanisch-jüdische Öffentlichkeit, dass der Holocaust als Erinnerungsinhalt erst in den 60er Jahren entstand und zum zentralen Inhalt einer neuen jüdischen Identität wurde. Später wurde er zu einer

„amerikanischen Erfahrung“ und zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses nicht nur der amerikanischen Juden und Jüdinnen, sondern aller AmerikanerInnen. Während „der Holocaust“ in den 50er Jahren weder als Begriff noch als Konnotation für bestimmte historische Ereignisse existiert hatte, wurde er in den 60er Jahren, v.a. nach den Nah-Ost-Kriegen 1967 (6Tage-Krieg) und 1973 (Yom-Kippur-Krieg/Oktober-Krieg) zu einem zentralen Topos in den USA.

Novicks Hauptthese ist, dass sich die Produktion von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses nach den gegenwärtigen Bedürfnissen und Interessen (von Eliten) richtet. Er kritisiert den zentralen und sakralen Ort, den der Holocaust heute in den USA einnimmt; diese Allgegenwärtigkeit führe zu einer De-Sensitivierung anderen Ungerechtigkeiten gegenüber.

9 Zur TV-Serie u.a. Broszat [1988a:102-118], zu Holocaust als Medienereignis siehe Levy/Sznaider [2001:131ff]

10 Ulrich Herbert schreibt dazu: »Nicht die Kenntnisse über den Genozid nahmen zu, sondern nur die Zahl derer, die darüber redeten.«[2001:19]

Gaskammern der Vernichtungslager.11 Hitler galt dabei als zentrale Figur und seine Weltanschauung – in erster Linie sein Antisemitismus und sein Lebensraum-Konzept – als Hauptantriebskraft und Motor der Vernichtungspolitik. Der jeglichen Widerstand mit Gewalt unterdrückende Staat war das Mittel, diese in der Weltgeschichte als einzigartig empfundene Politik durchzusetzen. Für dieses Erklärungsmodell spricht die frühe Propa-ganda Hitlers und der NSDAP gegen die jüdische Bevölkerung und deren fortlaufende Dämonisierung und Entmenschlichung seit der Machtergreifung. Weltanschaulich kann tatsächlich eine Kontinuität in der Haltung Hitlers von den 20er Jahren bis zur Massenver-nichtung festgestellt werden. Dieses Erklärungsmodell wird als „Intentionalismus“

bezeichnet; es bezieht sich auf die Intentionalität der Hauptakteure, insbesondere Hitlers, und betont die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus, der nicht mit anderen faschistischen Regimes verglichen werden könne.

Dem Intentionalismus gegenüber steht eine andere geschichtsphilosophische Hal-tung, der seit den 70er Jahren aufkommende, so genannte „Funktionalismus“ (oder auch:

„Strukturalismus“). Die als funktionalistisch bezeichneten HistorikerInnen hatten herausgefunden, dass der Herrschaftsapparat des NS nicht monolithisch, sondern polykra-tisch war, dass der Prozess der Verschärfung der „Judenpolitik“ durch innere Konkurrenz der verschiedenen Partei-, Verwaltungs- und Militärbehörden eine erhebliche Eigen-dynamik erfuhr und dass ad-hoc Entscheidungen zur „kumulativen Radikalisierung“

[Mommsen 1983:399] und schliesslich zur „Endlösung“ führten. Während die Intentionali-stInnen das Führungschaos im NS als von Hitler absichtlich herbeigeführte Situation inter-pretierten, glaubten die FunktionalistInnen, dass »die symbolische Führerautorität […]

wichtiger gewesen [ist] als der direkte Regierungswille der Person Hitler, und [dass] die Fixpunkte seiner persönlichen Weltanschauung […] daher grösstenteils eine funktionale Rolle erfüllt [haben].[Kershaw 1999:122] Die FunktionalistInnen betonten die Zufälligkei-ten und situativen Verstrickungen, die dazu führZufälligkei-ten, dass ein einmal eingeschlagener Weg nicht mehr aufgegeben werden konnte. Für sie war Hitler ein „schwacher Diktator“, der in der Regel bereits in die Wege geleitete Massnahmen im Nachhinein billigte und der

11Raoul Hilberg beschreibt die Verfolgung der Jüdinnen und Juden im „Dritten Reich“ mit den folgenden Phasen:

Definition, Enteignung, Konzentration, Vernichtung. Diese Darstellung einer Abfolge der Ereignisse wurde zur Vorla-ge und Folie der weiteren Forschung.[Hilberg 1994]

stärksten unter den rivalisierenden Parteien jeweils Recht gab.12 Für das funktionalistische Erklärungsmodell spricht die Tatsache, dass aussenpolitische Ereignisse die Situation der Verfolgten erheblich beeinflussten13, sowie die nachweisbare Rivalität zwischen ver-schiedenen NS-Behörden und der Druck von der Strasse, der zur Verschärfung der „Juden-politik“ beitrug. Zentrale Untersuchungsgegenstände der funktionalistischen Geschichtsschreibung sind die gesellschaftlichen Strukturen und die innere Dynamik des NS-Systems.

Der Gegensatz zwischen IntentionalistInnen und FunktionalistInnen gewann das schärfste Profil in der Frage der Entscheidung zur „Endlösung der Judenfrage“.[vgl.

Jaeckel/Rohwer 1985] Wurde sie von Hitler befohlen oder wurde der Mordprozess durch lokale Initiativen in Gang gebracht und erst im Nachhinein vom „Führer“ gebilligt?14 Die intentionalistische Position deckt sich in der Regel mit der Vorstellung eines deutschen Sonderwegs aufgrund einer spezifisch deutschen völkischen und antisemitischen Ideologie sowie mit dem Konzept eines totalitären Regimes, in dessen Rahmen diese Ideologie durchgesetzt wurde. Auch viele VertreterInnen der funktionalistischen Position sehen im Nationalsozialismus eine deutsche Sonderentwicklung, führen diese aber auf eine unvoll-ständige Modernisierung des deutschen Reiches zurück und sehen im NS eine spezifisch deutsche Spielart des Faschismus. Der Streit zwischen den unterschiedlichen Positionen wurde nie beigelegt; die neuere Forschung hat gezeigt, dass sowohl Struktur als auch Intention wichtige Elemente in der Erklärung des Nationalsozialismus sind und die ent-sprechende Dichotomie falsch ist. Ulrich Herbert zieht das Fazit: »Die Schübe zur Verschärfung der Situation, zur Radikalisierung der antijüdischen Politik entsprangen keinen selbsttätigen Entwicklungen, sondern waren willentlich initiiert. Die

„nützlichkeitsbezogenen“ Begründungen für scharfe, radikale Massnahmen gegen die Juden erweisen sich insofern weder als „rationale“ Begründungen, denen der

12 Selbst falls diese Analyse zutrifft, muss Hitler allerdings kein „schwacher Diktator“ gewesen sein. Charismatische Herrschaft beruht nach Max Weber immer auf der Vorstellung der Ausseralltäglichkeit und Einzigartigkeit des Trägers des Charisma. Dieser muss, um sein Charisma zu behalten, seine Ausseralltäglichkeit aufrecht erhalten können; darf sich also nicht in die Niederungen der Politik begeben und vor allem keine Niederlagen erleiden. In diesem Sinne könnte die Entscheidungsunlust Hitlers mit dem Versuch zusammenhängen, das Charisma nicht zu verlieren. Dieses Charisma besteht übrigens nicht aus einer Eigenschaft des Trägers, sondern in der Resonanz, die er hat: »Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus „objektiv“ richtig zu bewerten sein w ü r d e , ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den „A n h ä n g e r n “, bewertet w i r d , kommt es an.«[Weber 1972:140. Hervorh.i.O.]

13 Wie zum Beispiel die Einführung des J-Stempels in den Pässen der deutschen Juden und Jüdinnen auf Drängen der Schweizer Behörden.[vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg 1999:75-88]

14Für detaillierte Stellungnahmen zum Führerbefehl siehe Friedländer [1985], Browning [1985], Broszat [1988a:45-91], Kershaw [1999:148-244], Mommsen [1983]. Eine neuere Einschätzung bietet Gerlach [1998:85-166].

Antisemitismus nur aufgesetzt war [wie im Paradigma der Faschismus- und der Totalitaris-mustheorie angenommen. ShB], noch als blosse Verhüllung des vermeintlich Eigentlichen, nämlich des Judenhasses. Sie erweisen sich vielmehr als praktische Anwendung, als situativer Ausdruck einer antisemitischen Grundhaltung.«[Herbert 2001:60] Weltanschau-ung und ModernisierWeltanschau-ung sind keine sich ausschliessende Gegensätze, sondern machen in ihrer Verknüpfung genau das Spezifische des Nationalsozialismus aus.