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Die Leerstelle als Trauma oder als Gedächtnislücke

Teil II: Zwischen Geschichte und Gedächtnis

8. Broszat, Friedländer und ihr Forschungsobjekt

8.3 Die Leerstelle als Trauma oder als Gedächtnislücke

Für die Kluft zwischen dem Erlebten und der Möglichkeit, es in Worte zu fassen, hat sich seit den 90er Jahren in den Sozial- und Kulturwissenschaften der aus der Psychoanalyse entlehnte Begriff „Trauma“ eingebürgert.Was laut der Literaturwissenschaftlerin Cathy Caruth ein Trauma zu einem solchen macht, ist eine bestimmte Struktur der Erfahrung, nicht ein bestimmtes Ereignis.102 Trauma ist demnach eine seelische Verletzung, die wäh-rend sie geschieht, nicht eigentlich wahrgenommen werden kann. Durch die Plötzlichkeit, die Heftigkeit und die Unerklärlichkeit eines Ereignisses entzieht es sich dem Bewusstsein.

Weil das so ist, sind traumatisierte Menschen nicht im Besitz des Ereignisses, sondern sind vielmehr von ihm besessen: Die Verletzung wiederholt sich immer wieder, unkontrol-lierbar und bedrohlich, an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Diese Wiederholungen weisen nun nicht auf das wirkliche Ereignis hin, welches nicht bewusst wahrgenommen werden konnte, sondern auf eine dem Ereignis inhärente Latenz, auf eine Leerstelle, auf die Nicht-Erfahrung des Bedrohlichen. Die Codierung dieser Leerstelle als Trauma, die Kommunikation über die Leerstelle ermöglicht die nachträgliche Wahrnehmung und Integration des Geschehenen, die nachträgliche Konstruktion von Sinn.

Die „Leerstelle“ der Opfer sollte allerdings nicht mit der „Leerstelle“ der Täter in Bezug auf den Holocaust verwechselt werden. Der Holocaust blieb für Überlebende eine

überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden.

Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen.«[Levi 1991:70]

101Jan Reemtsma hat auf den Titel Ein springender Brunnen hingewiesen und ihn mit weiter leben von Ruth Klüger kontrastiert. Während im ersten Titel die Kindheit als Quelle erscheint, aus dem Walser fürs weitere Leben schöpft, geht es im zweiten Titel um ein Weiterleben nach dem Überleben der Kindheit.[vgl. Reemtsma 1999:75]

102Im folgenden Abschnitt beziehe ich mich auf Caruth 1995, 1996, 2000.

Leerstelle, weil die zur Verfügung stehende Sprache nicht ausreichte, um das Ereignis zu integrieren. Das Opfertrauma besteht darin, dass trotz der vielen Versuche, das Erlebte in ein Narrativ zu fassen (davon zeugen die unzähligen schriftlichen Berichte und Autobio-graphien), die Leerstelle nie völlig gefüllt, nie ganz erklärt, integriert und verstanden werden kann. Unter der Tätergeneration gab es nur wenige Versuche, den Holocaust in ein Narrativ zu fassen. Die Leerstelle, das Nicht-Erfahrene des Holocaust, zu füllen, hätte geheissen, die Taten der Einzelnen, die Verstrickungen, Ahnungen, Schuldgefühle, Hilf-losigkeiten, die grossen und kleinen Hilfeleistungen und Bosheiten des Alltags zu be-schreiben und dadurch erfahrbar zu machen. Das war sicherlich eines der Anliegen Broszats – dadurch, dass er jedoch Auschwitz und den Holocaust aus seinem Plädoyer ausschloss, war die Gefahr, dass seine Erzählung schliesslich zur geschlossenen Norma-lisierungs-Geschichte werden würde, gross.

Das Problem der Repräsentation des Holocaust ist, wie Friedländer in der Einlei-tung zum Band Probing the Limits of Represenation [1992] festhält, einerseits ein Problem der Negierung von Fakten, aber noch viel mehr ein Problem der Angemessenheit einer Erzählung. Ob eine Repräsentation “richtig” im Sinne von angemessen ist, sei nur sehr schwer mit einem greifbaren Kriterium zu fassen. In Anlehnung an Christopher Browning schreibt Friedländer, oft könne er nicht genau definieren, was an einer bestimmten Repräsentation der Ereignisse nicht richtig sei, und doch habe er das sichere Gefühl, dass etwas dran falsch sei.[1992:4] Müssen wir also mit dem “sicheren Gefühl” Vorlieb nehmen und können kein Kriterium für Angemessenheit anwenden? Im Artikel Trauma, Transference and „Working through [1992a] schlägt er als mögliches Kriterium das Mass vor, in welchem eine Repräsentation des Holocaust „deep memory“ beinhaltet. Deep memory meint die Erinnerungen der Opfer. Dieser tiefen Erinnerung steht die allgemeine Erinnerung gegenüber. Als Beispiel für tiefe Erinnerung führt Friedländer die letzte Szene von Art Spiegelmans zweibändigem Comics an, wo der sterbende Vater sich von seinem Sohn Art verabschiedet und ihn mit dem Namen Richieu anspricht; dem Namen seines ersten Sohnes, der als Kleinkind im Warschauer Ghetto gestorben ist, lange vor Arts Geburt. Tiefe Erinnerungen sind nicht repräsentierbar, nicht artikulierbar; sie sind die Spuren des Traumas, die sich nicht in eine Geschichte integrieren lassen, es sind Erinne-rungen, die immer wieder auftauchen, unverarbeitet und störend. Demgegenüber steht die allgemeine Erinnerung, die versucht, eine abgeschlossene Geschichte zu erzählen, die dazu tendiert, Kohärenz herzustellen. Man könnte sagen, eine “wahre“ Geschichte des Natio-nalsozialismus – und aller Ereignisse, die traumatische Aspekte haben – ist jene, in der sowohl die tiefen als auch die allgemeinen Erinnerungen berücksichtigt sind. Das Zulassen der tiefen Erinnerungen »…erlegt dem Historiker die Pflicht auf, seinen Bericht so wahrheitsgetreu zu gestalten, wie es Dokumente und Zeugenaussagen ermöglichen, ohne der Versuchung nach Abgeschlossenheit nachzugeben. Ein Abschliessen mit dem Thema

würde in diesem Fall eine offenkundige Vermeidung dessen darstellen, was unbestimmt, nicht greifbar und undurchsichtig bleibt.«[Friedländer zit. in Young 1997:163, Her-vorh.i.O.] Eine angemessene Erzählung über traumatische Ereignisse, so lässt sich folgern, kann nur schreiben, wer die Erfahrungsberichte der überlebenden Opfer wahrnimmt und sie in Bezug setzt zu anderen Quellen. Martin Broszat plädierte dafür, Widersprüche und Ambivalenzen von historischen Ereignissen wahrzunehmen und keine „absolute“, widerspruchsfreie, geschlossene‚ Wahrheit‘ festzulegen. Sein Plädoyer verfehlt jedoch dadurch sein Ziel, dass die Stimmen der Opfer in ihm nicht zu hören sind.