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Teil I: Zur Historisierung des Nationalsozialismus

4. Der Briefwechsel zwischen Broszat und Friedländer

4.1 Die Streitpunkte

4.1.4 Geschichte erzählen

Martin Broszat plädiert für, Saul Friedländer warnt vor der überwiegend narrativen Dar-stellung der Epoche des Nationalsozialismus. Broszat ist Funktionalist der ersten Stunde und man kann ihm schwerlich den Vorwurf machen, er würde politische und soziale Strukturen in seinen Werken vernachlässigen. Seine Hinwendung zur Alltagsgeschichte und der damit verbundenen narrativen Geschichtsschreibung entspricht dem Wiederaufle-ben der Narration in den frühen 80er Jahren und der durch die Neuen Sozialen Bewegungen initiierten Hinwendung zur „Geschichte von unten“. Saul Friedländer richtet sich nicht gegen narrative Geschichtsschreibung als solche, ist jedoch der Meinung, sie sei für ein Gesamtbild des NS nicht ausreichend. Broszat hingegen bescheinigt den bisherigen Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus mangelnde Erzählkunst. Sie seien

oft mehr Schwarz-Weiss-Konstrukt aus der Retrospektive als genetisch entfaltete multidi-mensionale Geschichte, bevölkert weniger mit plastischen, psychologisch stimmigen Figuren

Für die heutige Diskussion erachte ich die Begriff Einzigartigkeit oder Singularität als nicht sehr glücklich gewählt. Je-des historische Ereignis ist einzigartig und eben diese Einzigartigkeit kann jeweils nur durch Vergleiche festgestellt werden. Die Frage ist ja immer: Was will man mit einem Vergleich herausfinden? Sollen die spezifischen, sich un-terscheidenden Merkmale verschiedener Ereignisse oder ihre Gemeinsamkeiten betont werden? Es gibt der NS-„Ju-denpolitik“ und anderen Völkermorden und Verfolgungspolitiken gemeinsame und es gibt spezifische Aspekte. Wenn man den Nationalsozialismus erforscht, so ist die „Judenpolitik“ ein zentraler und insofern einzigartiger Aspekt, weil er in Ausmass, Art der Durchführung und möglicherweise in der empathischen Zustimmung durch die

„Normbevölkerung“ sich von den Verbrechen anderer Regimes unterscheidet. Wenn man allerdings Genozide und ethnische „Säuberungen“ als Mittel der Sozialtechnologie im 20. Jahrhundert untersucht, so gibt es keinen Grund, eine Einzigartigkeit der Shoah zu postulieren.

Einzigartigkeit und Singularität werden heutzutage, wenn man sie auf das historische Ereignis des Holocaust bezieht, oft missbraucht – in der Instrumentalisierung der Shoah für politische Zwecke – und noch öfter missverstanden, als sollten der Holocaust als ausgezeichnetes Ereignis, die Juden und Jüdinnen als besondere Opfer dargestellt werden. Im Rahmen der Verfolgungen von Juden und Jüdinnen in Europa war der Holocaust ein singuläres Ereignis. Im Rahmen der Verbrechen faschistischer und anderer totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert gilt er – aufgrund seiner Ausmasse – als negativer Fix- und Höhepunkt staatlicher Verfolgungen. Im kollektiven Gedächtnis westlicher Gesellschaften nimmt die Shoah daher einen einzigartigen Stellenwert ein. Diese Gesellschaften betrachten sie als Schlüsselereignis für ihr Selbstverständnis, dies nicht zuletzt aufgrund der schuldbeladenen christlichen anti-jüdischen Geschichte.

als mit Typen und Stereotypen aus dem politikwissenschaftlichen Begriffs-Vokabular, präsentiert mehr durch einen moralisch-didaktischen Kommentar als durch einen histori-schen Bericht, formuliert in mehr oder weniger pathetihistori-schen oder dozierenden Worten von Historikern deren Verlegenheit der Geschichte des Nationalsozialismus gegenüber sich auch darin äussert, dass sie ihr das eigentliche Transportmittel geschichtlicher Darstellung, die erzählerische Sprache, vorenthalten. [B 349]

Historisierung würde demnach bedeuten, mithilfe einer plastischen Sprache aus schemen-haften, stereotypen Tätern Subjekte »emphatischen (und das kann auch heissen: zornigen) Nacherlebens« [B 363] zu machen. Die geschichtliche Erzählung solle anschaulich und nachvollziehbar die Wirklichkeit darstellen und damit Authentizität produzieren. Eine solche Narration führe zur „historischen Einsicht“, die für Broszat – anders als das traditionelle historistische Verstehen –

»einerseits […] distanzierende, analytisch zu gewinnende Erklärung und Objektivierung, andererseits aber auch […] begreifende subjektive Aneignung und […] Nachvollzug vergangener Taten, Betroffenheiten und Verfehlungen ist.« [B 339]

Es geht ihm also nicht darum, ausschliesslich narrative Geschichte zu schreiben, sondern dies auch im Zusammenhang mit dem NS zu tun. Allerdings ist Broszat diesbezüglich am-bivalent. Als Friedländer in einem Nebensatz Broszats »Insistieren auf dem erzählerischen Element als des einzig möglichen Ansatzes für eine Gesamtdarstellung« [F 354; Hervorh.

ShB] festhält, dementiert der Andere diese ihm unterstellte Auffassung nicht. Wir können also annehmen, dass Broszat trotz des Einverständnisses, dass gewisse Elemente des Nationalsozialismus nicht narrativ beschreibbar sind, dennoch davon ausgeht, dass in einer Gesamtsicht die Narration des (deutschen) Alltags im Zentrum stehen sollte. Friedländer seinerseits fragt nach den Grenzen des „empathischen Nacherlebens“ und warnt vor einer

möglichen Wiederkehr einer Form von Historismus«. [F 355] Es gäbe eine »Stufe des Horrors, [auf der] meiner Auffassung nach keine Beschreibungen möglich [sind].[F 371]

Hier stimmt ihm sein Kontrahent zu. Gänzlich unerträglich bei der Beschreibung des All-tags ist für Friedländer aber

nicht nur die kriminelle Dimension des NS-Regimes, sondern auch die widerliche Vor-stellung nationalistischer Exaltation, frenetischer Selbstglorifizierung, die so rapide praktisch alle Bereiche des öffentlichen und auch grosse Teile des privaten Lebens durch-drang.[F 354].

Hierzu schweigt Broszat.

Andreas Hillgruber hat 1986 zwei mittlerweile notorische Essays unter dem Titel Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäi-schen Judentums geschrieben. Das erste Stück ist eine Erzählung über die »verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres«[Hillgruber 1986:24]bei der Verteidigung der deutschen Bevölkerung gegen die Sowjetarmee im Winter 1944/45,

ex-plizit aus der Perspektive der deutschen Soldaten und der deutschen Bevölkerung ge-schrieben.49 Hillgruber zeigt damit eindrücklich, wenn auch unbeabsichtigt, wohin „histo-risches Verstehen“ und einfühlsame, plastische Beschreibung führen können: nämlich zur völligen Ausblendung der grösseren Zusammenhänge, i.e. der Tatsache, dass der „he-roische Abwehrkampf“ die Leiden der Opfer des NS verlängerte und dazu beitrug, die Ein-heit der Volksgenossen aufrechtzuerhalten. Der zweite Essay ist eine trockene, nicht-nar-rative Dokumentation über die „Endlösung der Judenfrage“.50 Friedländer führt im Brief-wechsel die Essays Hillgrubers als Beispiel für die Problematik der Grenzen des Verste-hens an und fordert Broszat heraus:

…es wäre sehr hilfreich, wenn Sie bereit wären, hierzu Ihre Meinung zu sagen, da es fast so etwas wie ein Lackmus-Text für die Anwendbarkeit der erweiterten „historischen Einsicht“

ist, die Sie offenbar im Sinne haben. [F 345]

Auf diese Herausforderung gibt Broszat keine inhaltliche Antwort, sondern wehrt die Frage ab, in dem er sie als Befangenheit produzierend abwertet:

Einige Absätze zuvor fordern Sie mich in diesem ersten Brief auf, den von mir in Anspruch genommenen Begriff des »kritischen Verstehens“ anzuwenden auf das Andreas-Hillgruber-Exempel der „deutschen Wehrmachteinheiten, die 1944/45 die Ostfront hielten“ (und damit auch die KZs aufrechterhielten). Das sei, so schrieben Sie wörtlich, „so etwas wie ein Lackmus-Test“, und Sie glaubten mir diesen Test nicht ersparen zu sollen. In Ihrem zweiten Brief kamen Sie erneut auf Hillgrubers Ostfront-Identifikation zurück und fragten nach, ob meine „Lust am geschichtlichen Erzählen“ sich etwa auch an diesem Thema oder wo denn sonst festmachen wolle. Glauben Sie, lieber Herr Friedländer, wirklich, dass solche Fragen nicht „pressend“, sondern nur nachdenklich sind, dass sie der Offenheit unseres Gesprächs dienen - und nicht Befangenheit produzieren? [B 360].

An dieser Stelle (es ist der dritte und letzte Brief Broszats an Friedländer) kreist das schriftliche Gespräch nicht mehr um inhaltliche Streitpunkte, sondern um die Art des

49Das ganze Zitat lautet: »Schaut der Historiker auf die Winter-Katastrophe 1944/45, so bleibt nur eine Position, auch wenn sie im Einzelfall oft schwer einzulösen ist: er muss sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren, die die Bevölkerung des deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren und in der allerletzten Phase den Ostdeutschen den Fluchtweg zu Lande oder über See nach Westen freizuhalten suchten.«[Hillgruber 1986:24]

50Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass bereits die Titelgebung Hillgrubers seine Identifikation verrät: »Der in der Rhetorik von Kriegsheften beschworenen „Zerschlagung des Deutschen Reiches“ […] steht das nüchtern registrierte „Ende des europäischen Judentums“ gegenüber. Die „Zerschlagung“ verlangt einen aggressiven Gegner, ein „Ende“ stellt sich gleichsam von selber ein.« [Habermas 1995a:66].

gangs miteinander. Diesem Umgang wenden wir uns jetzt zu. Zuvor sollen aber noch ganz kurz die wichtigsten inhaltlichen Punkte rekapituliert werden:

Alltagsgeschichtliche Methoden oder nicht, Betonung von Kontinuität, Normalität oder von Einzigartigkeit und der Verbrechen, Dokumentation oder plastische Erzählung – dies sind die wichtigsten Streitpunkte der Kontrahenten. Es zeigt sich deutlich, dass die alltagsgeschichtliche Methode eng mit der Perspektive, aus der Ereignisse erzählt werden und mit der Form der Darstellung zusammenhängt. Broszat will der Gesellschaft der BRD die Identifikation – nicht nur die positive Identifikation, sondern auch die belastende, schuldige und leidvolle – mit der NS-Gesellschaft ermöglichen. Er will aufzeigen, dass der Nationalsozialismus „eigene“ Geschichte ist. Dafür wählt er alltagsgeschichtliche Darstellung, welche die Normalität aus der Perspektive der handelnden Subjekte heraus darstellt. Diese Subjekte sind nicht Opfer der NS-Vernichtungspolitik geworden und haben demgemäss diese auch nicht als zentral erlebt. Die narrative Geschichtsschreibung ermöglicht den Nachvollzug ihres Alltags, weil Erzählungen immer ein „vorher“ und ein

„nachher“ miteinander verbinden und so Kontinuität schaffen. Saul Friedländer geht mit Broszat in vielen Einzelheiten einig, aber nicht im Gesamteindruck. Er sieht die Wichtigkeit von Alltagsgeschichte – aber für eine Gesamtsicht des Nationalsozialismus ist sie seines Erachtens nicht geeignet. Die Kontinuitätslinien, die von den Jahren vor 1933 bis in die BRD führen, leugnet er nicht – er sieht sie jedoch nicht als wesentlich für die Geschichte des Nationalsozialismus an. Und schliesslich warnt er vor der narrativen Geschichtsschreibung als einzige Darstellungsform für die Zeit des NS; der Bruch, den die Nazis mit der Vernichtung des von ihnen definierten „unwerten Lebens“ vollzogen haben, verunmöglicht seines Erachtens die narrative Darstellung der Ereignisse.

Nachdem die wichtigsten inhaltlichen Differenzen der Briefpartner vorgestellt wur-den, sollen im folgenden die Interaktion zwischen den zwei Historikern und die gegenseiti-gen Zuordnungegenseiti-gen im Briefwechsel näher beleuchtet werden.