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Integriertes Modell zu Arbeit, (kreativer) Leistung und Gesundheit

Beanspruchung als subjektive, leistungsbestimmende und gesundheitliche Auswir-kung im Menschen hat trotz Abgrenzung zur Belastung (als objektive EinwirAuswir-kung) eine Doppelfunktion: Einerseits ist sie Voraussetzung für den langfristigen strukturel-len Aufbau bzw. den Erhalt von Funktionen des Arbeitenden (z. B. Muskelaufbau, Gedächtnisschulung, Fertigkeitseinübung). In diesem Sinne werden durch Bean-spruchung Ressourcen mobilisiert bzw. Funktionen aktiviert. Auf der anderen Seite setzt Beanspruchung die Leistungsfähigkeit herab und schwächt damit die aktuell verfügbaren Ressourcen bzw. die Funktionsfähigkeit (Semmer & Udris, 1993). Von Hacker und Richter (1980) wurde daher der Begriff „Fehlbeanspruchung“ geprägt.

Darunter ist die negative Form der Beanspruchung zu verstehen, die keine Lernpro-zesse auslöst bzw. Ressourcen mobilisiert, sondern vielmehr die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden mindert. Beanspruchung verstehen Hacker und Richter (1980) demgegenüber als eine positive, aktivierende Größe.

Ulich (2005) beschreibt als Wirkungen von Arbeit positive und negative Beanspru-chungsfolgen. Auf der negativen Seite wird in einer Matrix zwischen kurzfristigen, aktuellen und mittel- bis langfristigen, chronischen negativen Beanspruchungsfolgen unterschieden (auch Kaufmann, Pornschlegel & Udris, 1982), die sich physiologisch (somatisch), psychisch oder verhaltensbezogen ausdrücken können. Kurzfristig kön-nen physiologische Reaktiokön-nen (Beanspruchung) wie erhöhte Herzfrequenz, Blut-drucksteigerung oder Adrenalinausschüttung neben positiven Gefühlen (wie Freude) mit psychologisch erlebter Anspannung, Frustration oder Ärger, aber auch Ermü-dungs-, Monotonie- oder Sättigungsgefühlen einhergehen (Hacker, 2005). Es kommt

individuell zu Leistungsschwankungen, Nachlassen der Konzentration und Fehlern.

Mittelfristig treten psychosomatische Beschwerden, Resignation und Depressionen als negative Beanspruchungsfolgen in den Vordergrund, die auf der Verhaltensebe-ne oft mit erhöhtem Nikotin-, Alkohol- oder Medikamentenkonsum sowie Fehlzeiten verbunden sind (Ulich, 2005). Neben diesen individuellen Folgen sind negative sozia-le Effekte wie Konflikte, Streit, Aggressionen oder soziasozia-ler Rückzug zu beobachten, die ihrerseits neue Problemlagen hervorbringen können.

Positive Beanspruchungsfolgen zeigen sich vor allem in Hinblick auf Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung, aber auch in positiven affektiven Zuständen wie der Ar-beitszufriedenheit. Neben eher kurzfristigen positiven Aspekten, wie die im Job Cha-racteristics-Modell beschriebene intrinsische Arbeitsmotivation (Hackman & Oldham, 1975), konnten im Rahmen der Handlungsregulationstheorie die Stärkung bzw. der Erhalt der individuellen fachlichen Kompetenz und der intellektuellen Leistungsfähig-keit als Folge einer günstigen Konstellation von Anforderungen und Ressourcen ge-zeigt werden. Auch Selbstvertrauen, soziale Kompetenz, Engagement und spezifi-sche Merkmale wie intellektuelle Flexibilität und Kreativität wurden als positive Bean-spruchungsfolgen untersucht und bestätigt (Unsworth, Wall & Carter, 2005; Schaufeli

& Bakker, 2004). Im Rahmen des biopsychosozialen Gesundheitsmodells der WHO (1986) können diese Aspekte als Indikatoren für Gesundheit gelten.

Mohr (1991) erläutert den Übergang von eher kurzfristigen hin zu chronifizierten Ge-sundheitsbeeinträchtigungen näher. Irritation als kurzfristige Beeinträchtigung der Gesundheit beschreibt wiederkehrende emotionale Gereiztheit (emotionale Irritation) und gedankliches Nicht-Abschalten-Können (kognitive Irritation) (Mohr, Rigotti & Mül-ler, 2005). Irritation kann in alltäglichen Arbeitspausen nicht mehr angemessen ab-gebaut werden. Psychische Ressourcen wie Konzentration, Aufmerksamkeit oder Ausgeglichenheit – als wichtige Voraussetzungen zur erfolgreichen Bewältigung von Arbeitsaufgaben – werden im Zustand der Irritation nicht mehr angemessen regene-riert. Dies kann dazu führen, dass vorwiegend passive Freizeitaktivitäten betrieben werden, die kaum „psychische Kraft“ verlangen. Handlungen hingegen, die eine akti-ve Auseinandersetzung mit neuen Themen oder Menschen erfordern, werden akti- ver-mieden. Ähnlich verhält es sich mit der von Sonnentag (2003) beschriebenen Erho-lungs(un)fähigkeit, die in ihrer negativen Ausprägung Merkmale der Irritation umfasst und handlungsbezogene Charakteristika eines wenig erholsamen Verhaltens außer-halb der Arbeit ergänzt. Andauernde Irritation führt mittelfristig zu psychosomatischen Beschwerden (Mohr, 1991). Hierbei handelt es sich um körperliche Beschwerden ohne (diagnostizierbaren) organischen Befund (Fahrenberg, 1994) wie zum Beispiel Erschöpfungszustände, Magen-Darm-Beschwerden, Muskel-Skelett-Beschwerden oder andere somatische Beeinträchtigungen. Langfristig münden solche Gesund-heitsbeeinträchtigungen in manifeste psychische und physische Krankheiten und füh-ren – neben dem individuellen Leid – zu erheblichen Fehlzeiten durch Arbeitsunfä-higkeit.

Die Arbeitsunfähigkeitsstatistiken der Krankenkassen zeigen seit längerer Zeit un-missverständlich, dass psychische Störungen in Deutschland zunehmend häufiger diagnostiziert werden (Badura, Schröder & Vetter, 2008, DAK, 34). Ein Löwenanteil der Kosten durch Arbeitsunfähigkeit geht derzeit noch auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurück. Bemerkenswert ist, dass psychosoziale Ursachen für (Rücken-) Schmerzen inzwischen medizinisch anerkannt sind. Die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass psychischer Schmerz (etwa das Gefühl, sozial ausgeschlossen zu

sein) dieselben Hirnareale aktiviert wie körperlicher Schmerz (Eisenberger, Lieber-man & Williams, 2003). Ein Zusammenhang solcher Veränderungen in den AU-Statistiken mit Veränderungen in der Arbeitswelt und den Tätigkeiten erscheint plau-sibel und wird vielfach diskutiert.

Aufgrund der hohen verursachten Kosten liegt es nahe, ein Schwellenmodell zur Früherkennung von Gesundheitsbeeinträchtigungen zu formulieren, das von einer unzureichenden Gestaltung psychosozialer Tätigkeitsmerkmale ausgeht und über kurzfristige Befindensbeeinträchtigungen wie Irritation und Erholungsunfähigkeit über mittelfristige Folgen wie Erschöpfungszustände und psychosomatische Beschwerden hin zu manifesten Erkrankungen und damit verbundenen Fehlzeiten reicht. Abbil-dung 2.6 zeigt im unteren Teil der Grafik eine solche Wirkungskette auf. Mit Blick auf die potenziell positiven, persönlichkeits- und gesundheitsförderlichen Wirkungen ei-ner menschengerechten Gestaltung von Arbeit lässt sich ein ähnliches Schwellen-modell entfalten. Konzepte wie das „Job Characteristics Model“ (Hackman & Oldham, 1975) oder das Konzept der vollständigen Tätigkeit von Hacker (2005) begründen die förderliche Wirkung einer angemessenen Gestaltung von (Lern-)Anforderungen und Ressourcen in der Arbeit im Sinne der Kompetenzentwicklung, Motivation und Leis-tung. Auch empirisch ist in vielen Studien belegt worden, dass die Gestaltung voll-ständiger Tätigkeiten positive Effekte auf Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation, auf Arbeitsengagement und Arbeitsleistung, auf Gesundheit und Anwesenheit (ge-ringere Fehlzeiten und Fluktuation) hat (Hacker, 2005, Büssing & Glaser, 1991, 1993; Rau, 2004). Kreativität und Engagement nehmen unseres Erachtens eine mitt-lere Position zwischen den eher unmittelbaren, kurzfristigen und „flüchtigeren“ Fol-gen (Zufriedenheit, Motivation) und den langfristig eher überdauernden verhaltens-bezogenen Folgen (Kompetenz, Leistung) ein. Die eindeutige Einordnung kurz-, mit-tel- und langfristiger Indikatoren für Aktivität und Leistung lässt sich derzeit empirisch aber noch nicht abschließend vornehmen.

Basierend auf den beschriebenen arbeitspsychologischen Modellen wird in Abb. 2.6 ein integriertes Modell zu Arbeit, (kreativer) Leistung und Gesundheit vorgestellt, in dem lernfördernde Anforderungen, unterstützende Ressourcen und beeinträchtigen-de Stressoren in beeinträchtigen-der Arbeit konzeptuell getrennt dargestellt sind (Glaser & Herbig, 2012). In dem Modell sind auch Aspekte einer Differenzierung von Beanspruchungs-folgen als leistungsbestimmende bzw. gesundheitsbeeinträchtigende Effekte dieser Gruppen von Tätigkeitsmerkmalen angelegt. Wie dargestellt, handelt es sich bei den in Abb. 2.6 belastungsseitig aufgeführten Modellen (aus denen zum Teil gleichnami-ge Verfahren hervorgleichnami-gegangleichnami-gen sind) um zentrale Konzepte, ohne dass ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. In der Abb. 2.6 sind solche Beispiele für Arbeits-merkmale aufgeführt, die wiederkehrend in der Literatur als typische Beispiele ge-nannt werden. Sowohl im Bereich der Lernanforderungen, wie auch im Bereich der Ressourcen und Stressoren finden sich zahlreiche weitere, zum Teil auch tätigkeits-spezifische Merkmale, die in unterschiedlichen Verfahren der Arbeitsanalyse weitaus differenzierter betrachtet werden (z. B. im RHIA-Verfahren spezifische Formen der Überforderungen und der Hindernisse in der Arbeit). Auf Seite der Beanspruchungs-folgen soll der Doppelpfeil zwischen positiver und negativer Folgenkette darauf hin-weisen, dass eine negative Korrelation zwischen beiden wahrscheinlich ist, ohne dass von einer Kausalität ausgegangen wird. Diese wird eindeutig auf Seiten der Be-lastungsmerkmale gesehen.

Das hier vorgestellte Modell zu Arbeit, (kreativer) Leistung und Gesundheit müsste – wie die bisherige Forschung zur Kreativität in der Arbeit zeigt – um weitere Faktoren ergänzt werden, wenn es zu einem umfassenden Modell von Arbeit, Leistung und Gesundheit ausgearbeitet werden sollte. Neben kreativitätsrelevanten Aspekten auf Ebene der Person oder Persönlichkeit (z. B. kreative Selbstwirksamkeit, Offenheit für Erfahrungen), müssen Merkmale der Arbeitsgruppe (z. B. Teamklima, Diversität) und der Organisation (z. B. Führung, Arbeitsumgebung) integriert werden. Faktoren auf diesen Ebenen werden nicht nur konzeptuell in den Kreativitätsmodellen von Amabile (1997) und West (2002) benannt; vielmehr existieren empirische Befunde zur kreati-vitätsförderlichen Wirkung solcher Personen-, Gruppen- und Organisationsvariablen (zum Überblick Herbig et al., 2008). Anhand der nachfolgend beschriebenen Be-standsaufnahme und den hieraus vorliegenden Daten wird das hier vorgeschlagene Modell später empirisch überprüft (vgl. Kapitel 6). Zudem wird es als Grundlage für die Interventionsstudie verwendet, um hieran orientiert Gruppen von Arbeitsmerkma-len (lernförderliche Anforderungen, unterstützende Ressourcen und beeinträchtigen-de Stressoren) im Betrieb zu ibeeinträchtigen-dentifizieren und im Falle betrieblicher Schwachstellen geeignete Maßnahmen zu entwickeln um (kreative) Leistung und Gesundheit im Be-trieb zu fördern.

Abb. 2.6 Arbeit, (kreative) Leistung und Gesundheit (Glaser & Herbig, 2012)