1 Einleitung
4.1 Affinität und Spezifität von Radiopeptiden
Gemäß Abbildung 1.5 versteht man unter der Affinität eines Liganden – zum Beispiel eines Peptides – für einen bestimmten Rezeptor die Stärke der Bindung zwischen ʺSchlüsselʺ (Peptid) und ʺSchlossʺ (Rezeptor). Diejenige durch kompetitive Bindungsstudien ermittelte Konzentration an unmarkiertem Liganden, welche eine fünfzigprozentige Verdrängung eines radioaktiv markierten Testliganden vom zu untersuchenden Rezeptor bewirkt, wird als IC50(50% inhibitory concentration)‐Wert bezeichnet. Der IC50‐Wert beschreibt demnach die Affinität eines Liganden für einen bestimmten Rezeptortyp. Die Bestimmung von Peptidaufnahmen durch CCK‐Rezeptor positive Organe ermöglicht qualitative Affinitätsvergleiche verschiedener Radiopeptide. Die Peptidaufnahmen verschiedener Gewebe werden dabei als massekorrigierte prozentuale Aufnahmen der initial applizierten Gesamtradioaktivitäten angegeben (%A0/g). Unter der Spezifität eines Radiopeptides für einen bestimmten Rezeptor versteht man die Eigenschaft des Peptides, diesen Rezeptor selektiv gegenüber anderen vorhandenen Rezeptoren zu binden. Ein ideales Radiopeptid sollte in diesem Zusammenhang – je nach zu diagnostizierendem Gewebe – eine möglichst hohe Affinität und Spezifität für den CCK1‐ bzw. CCK2/Gastrin‐
Rezeptor aufweisen. So kann durch den Einsatz eines hochaffinen Radiopeptides das Risiko einer kompetitiven Verdrängung des Peptides vom Rezeptor durch körpereigene Rezeptor‐Liganden gering gehalten werden und damit eine stabile Bindung zwischen Peptid und Rezeptor erreicht werden. Dies ist die Grundlage für die Residualisierung eines Radiometalls – d.h. die lysosomale Retention radioaktiv markierter Peptidmetaboliten in der Zielzelle (siehe Kapitel 4.2).43 Durch Verwendung eines hochspezifischen Radiopeptides wird verhindert, dass es beim Vorliegen eines Tumors mit Expression eines der beiden CCK‐Rezeptoren zu einer Anreicherung von Radioaktivität in gesundem, nicht zu diagnostizierendem Gewebe kommt, welches den jeweils anderen CCK‐Rezeptortyp präsentiert. So ist zur Diagnostik des CCK2/Gastrin‐Rezeptor exprimierenden medullären Schilddrüsenkarzinoms ein rein für diesen Rezeptortyp spezifisches Peptid erforderlich, da ein Verlust an Spezifität für diesen CCK‐Rezeptortyp mit Ausweitung des Peptidbindungsspektrums auf den CCK1‐Rezeptortyp oder sogar
andere Peptidrezeptoren neben einer unerwünschten radioaktiven Belastung gesunden Gewebes zu falsch positiven Ergebnissen bzw. zu einer unerwünschten hohen Hintergrundanreicherung des Radiopeptides im Rahmen einer Tumorlokalisationsdiagnostik führen würde. Bei Verwendung eines Liganden mit Affinität für beide CCK‐Rezeptortypen käme es in diesem Fall neben der erwünschten radioaktiven Markierung der CCK2/Gastrin‐Rezeptor positiven Tumorzellen zu einer gleichzeitigen Markierung von CCK1‐Rezeptor‐positiven pankreatischen Azinuszellen und Zellen der Gallenblasenmuskulatur (siehe Tabelle 1.2).
Bereits Ende der neunziger Jahre an CCK‐Analoga durchgeführte Bindungsstudien konnten IC50‐Werte von radioaktiv markierten DTPA‐Peptiden für den CCK2/Gastrin‐Rezeptor im nanomolaren Bereich demonstrieren.
Insbesondere unter der Annahme der Residualisierung kann somit von einer ausreichenden Rezeptoraffinität der hier untersuchten Radiopeptide ausgegangen werden. Reubi und Mitarbeiter konnten für keines der von ihnen untersuchten nicht‐sulfatierten CCK‐Analoga eine nennenswerte Spezifität für den CCK1‐
Rezeptor nachweisen. Eine CCK2/Gastrin‐Rezeptor Spezifität hingegen – obgleich nur mit niedriger Affinität einhergehend – wurde für alle untersuchten Radiopeptide beschrieben.146 Das von Behr et al. bereits klinisch erprobte 111In‐
DTPA‐Minigastrin22 ist ebenfalls als ein für den CCK2/Gastrin‐Rezeptor spezifischer Agonist anzusehen.
Mit Hilfe der Bioverteilungsstudien der Radiopeptide im Tiermodell konnte die Verteilung des jeweiligen Peptides auf die einzelnen untersuchten Organe festgestellt werden. Die im Rahmen dieser Arbeit gewonnenen hohen Radiopeptidaufnahmen durch das Pankreas und den Magen speziell bei den sulfatierten CCK‐Oktapeptiden zeigen, dass anhand von Bioverteilungsstudien eine spezifische Rezeptorbesetzung durch die eingesetzten Peptide nachgewiesen werden kann.
Es konnte gezeigt werden, dass die Einführung einer bzw. zweier negativ geladener Sulfat‐Seitengruppen am Tyrosin der Oktapeptide CCK8 und Cionin (siehe Abbildungen 1.1 und 1.2) eine Ausweitung deren Bindungsspektrums auf den CCK1‐Rezeptortyp zur Folge hat – zu sehen an den hohen spezifischen Aufnahmen der beiden sulfatierten Radiopeptide durch das CCK1‐Rezeptor‐
positive Pankreas (siehe Kapitel 3.2.8 und 3.2.11 sowie Abbildung 3.3.8). Die Abbildungen 4.1 und 4.2 verdeutlichen zusammenfassend die Auswirkung der Tyrosyl‐Sulfatierung auf die CCK1‐Rezeptor‐Affinität von CCK‐Oktapeptiden anhand des Vergleichs der Pankreasclearances der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Bioverteilungsstudien (Abbildung 4.1) und anhand der um die unspezifisch hämatogen anfallende Radioaktivität korrigierten Pankreas/Blut‐
Verhältnisse (Abbildung 4.2). Die Einführung von Sulfat‐Seitengruppen am Tyrosin beim CCK8 und beim Cionin bewirkte eine deutliche Zunahme der CCK1‐Rezeptor‐Affinität. Die Abbildungen 4.3 und 4.4 veranschaulichen die ebenfalls erhöhte Aufnahme der erwähnten sulfatierten Radiopeptide durch den CCK2/Gastrin‐Rezeptor positiven Magen. Dies ist als eine Affinitätserhöhung sulfatierter CCK‐Oktapeptide für den CCK2/Gastrin‐Rezeptor aufzufassen.
a
b
Abbildung 4.1 Auswirkung der Tyrosyl‐Sulfatierung auf die Spezifität des CCK1‐Rezeptors. Vergleich der Pankreasclearances der sulfatierten und nicht‐sulfatierten CCK‐Oktapeptide CCK8 (a) und Cionin (b). Die Aufnahme der beiden Radiopeptide durch das CCK1‐Rezeptor‐
positive Pankreas wird durch deren Sulfatierung deutlich erhöht. Angabe der jeweiligen Mittelwerte, Fehlerbalken = Standardabweichungen, Statistik siehe Kapitel 2.12.
Pankreasclearance, sCCK8 vs CCK8
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
%A0/g
0 5 10 15
sCCK8 CCK8
p < 0,001
Pankreasclearance, sCionin vs Cionin
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
%A0/g
0 5 10 15 20 25 30
sCionin Cionin
p < 0,001
a
b
Abbildung 4.2 Vergleich der Pankreas/Blut‐Verhältnisse der sulfatierten und nicht‐sulfatierten CCK‐
Oktapeptide CCK8 (a) und Cionin (b). Angabe der Verhältnisse der jeweiligen Mittelwerte.
Pankreas/Blut-Verhältnisse, sCCK8 vs CCK8
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
0 50 100 150 200
sCCK8 CCK8
Pankreas/Blut-Verhältnisse, sCionin vs Cionin
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
0 50 100 150 200 250
sCionin Cionin
a
b
Abbildung 4.3 Auswirkung der Tyrosyl‐Sulfatierung auf die Spezifität des CCK2/Gastrin‐Rezeptors.
Vergleich der Magenclearances der sulfatierten und nicht‐sulfatierten CCK‐Oktapeptide CCK8 (a) und Cionin (b). Die Aufnahme der beiden Radiopeptide durch den CCK2/Gastrin‐Rezeptor positiven Magen wird durch deren Sulfatierung deutlich erhöht.
Angabe der jeweiligen Mittelwerte, Fehlerbalken = Standardabweichungen, Statistik siehe Kapitel 2.12.
Magenclearances, sCCK8 vs CCK8
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
%A0/g
0 1 2 3 4
sCCK8 CCK8
p < 0,05
Magenclearance, sCionin vs Cionin
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
%A0/g
0 2 4 6 8
sCionin Cionin
p < 0,001
a
b
Abbildung 4.4 Vergleich der Magen/Blut‐Verhältnisse der sulfatierten und nicht‐sulfatierten CCK‐
Oktapeptide CCK8 (a) und Cionin (b). Angabe der Verhältnisse der jeweiligen Mittelwerte.
Magen/Blut-Verhältnisse, sCCK8 vs CCK8
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
0 10 20 30
sCCK8 CCK8
Magen/Blut-Verhältnisse, sCionin vs Cionin
Zeit (h)
0 5 10 15 20 25
0 10 20 30 40
sCionin Cionin
Die erhöhten Aufnahmen der sulfatierten 111In‐DTPA‐Oktapeptide CCK8 und Cionin sowohl durch das Pankreas als auch durch den Magen deuten auf eine Affinitätszunahme dieser Peptide für beide CCK‐Rezeptoren bei gleichzeitigem Spezifitätsverlust für den CCK2/Gastrin‐Rezeptor im Vergleich zum Minigastrin hin. Unter dem Hintergrund des Mangels an selektiven CCK1‐Rezeptor‐Liganden ergibt sich somit die Schlußfolgerung, dass zur nuklearmedizinischen Diagnostik und Therapie von CCK1‐Rezeptor‐positiven Tumoren Tyrosyol‐sulfatierte CCK‐
Analoga als Peptidbestandteil eines Radiopharmakons Verwendung finden sollten. Um der Tatsache der Ausweitung des Rezeptorspektrums dieser Oktapeptide gerecht zu werden, wird hier der Begriff PanCCK‐Peptid (pan, griechisch „alles, ganz, umfassend“) für diese Peptidgruppe verwendet. Die hier untersuchten hochaffinen CCK1‐Rezeptor‐Liganden sCCK8 und sCionin stellen Vertreter der PanCCK‐Peptidgruppe dar.
An dieser Stelle sei auf ein generelles Problem der szintigraphischen Darstellung CCK1‐Rezeptor‐positiver Tumoren hingewiesen: CCK1‐Rezeptoren kommen im Gastrointestinaltrakt fast ubiquitär vor, zum Beispiel auf pankreatischen Azinuszellen, auf glatten Muskelzellen sowohl der Gallenblase als auch des restlichen Verdauungssystems, auf Nervenzellen und auf Magenschleimhautzellen (siehe Tabelle 1.4). Die ausgedehnte physiologische Verbreitung dieses Rezeptortyps könnte zu hohen Hintergrundwerten bei der CCK1‐Rezeptor‐Szintigraphie von gastroenteropankreatischen Primärtumoren führen. So verbleibt zum einen das Staging CCK1‐Rezeptor‐positiver gastroenteropankreatischer Primärtumoren und zum anderen die Diagnostik CCK1‐Rezeptor‐positiver Meningeome und Neuroblastome als Indikation zur PanCCK‐Peptid Szintigraphie.
Die höchste Peptidaufnahme durch den CCK2/Gastrin‐Rezeptor positiven Magen 4 h p.i. zeigten das sulfatierte Cionin (2,79%A0/g), gefolgt vom sulfatierten CCK8‐
Peptid (0,8%A0/g). Eine mögliche Erklärung für die erhöhte gastrale Aufnahme der beiden sulfatierten CCK‐Oktapeptide im Vergleich zu deren nicht‐sulfatierten Gegenstücken könnte das – wenn auch geringe – Vorkommen von CCK1‐
Rezeptoren in Zellen der Magenschleimhaut sein (siehe Tabelle 1.4). Ein Tyrosyl‐
sulfatiertes PanCCK‐Peptid würde demnach neben den CCK2/Gastrin‐Rezeptoren der Parietalzellen des Magens auch die erwähnten CCK1‐Rezeptor‐