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Implikationen für die pädagogische Praxis: Förderungen des Hörverstehens

9. Abschließende Diskussion und Ausblick

9.4 Ausblick

9.4.1 Implikationen für die pädagogische Praxis: Förderungen des Hörverstehens

Die vorliegende Arbeit zeigt auf, dass ein wesentlicher Anteil von L2-Schülerinnen und -Schülern auch gegen Ende ihrer Schullaufbahn noch schwächere sprachliche Kompeten-zen aufweist als L1-Jugendliche. Die Befunde deuten somit darauf hin, dass zumindest für L2-Jugendliche mit türkischer Herkunftssprache die momentan implementierten Ansätze zur Sprachförderung nicht ausreichend sind, um die zweitsprachlichen Kompetenzen dieser Schü-lerinnen und Schüler auf ein Niveau zu heben, das dem ihrer monolingualen Peers entspricht (vgl. auch Gogolin, 2005; Söhn, 2005). Obwohl die Lage für die L2-Jugendlichen mit einer

Abschließende Diskussion und Ausblick 108 anderen Herkunftssprache als Türkisch tendenziell etwas günstiger ist, kann auch die Situati-on dieser Schülerinnen und Schüler nicht als unproblematisch bewertet werden. Zwar zeigen sich für diese Gruppe nur für den Wortschatz noch Leistungsunterschiede zu L1-Jugendlichen, wenn für den sozioökonomischen Hintergrund kontrolliert wird. Damit erzielen L2Andere-Jugendliche allerdings nur ähnliche Leistungen wie L1-Jugendliche aus sozial schwachen Familien, die ihrerseits gegenüber Jugendlichen aus sozioökonomisch besser ge-stellten Familien Benachteiligungen aufweisen (vgl. auch Stanat, Weirich & Radmann, 2012).

Um diese Disparitäten im Erwerb sprachlicher Kompetenzen zwischen L1- und L2-Jugendlichen zu reduzieren, erscheint es notwendig, über die bestehenden Ansätze hinaus institutionelle Maßnahmen zu entwickeln, die für L2-Schülerinnen und -Schüler ausreichend Lerngelegenheiten bieten, um zweitsprachliche Kompetenzen zu erwerben, die denen mono-lingualer Schülerinnen und Schüler entsprechen.

Gegenwärtig findet sich in Deutschland eine erhebliche Heterogenität der Förder-aktivitäten im Bereich sprachlicher Kompetenzen, die vorwiegend auf den Elementar- oder Grundschulbereich fokussieren (vgl. Stanat, Weirich & Radmann, 2012). Obwohl insgesamt ein Großteil der Schülerinnen und Schüler, die sprachliche Mindestkompetenzen nicht errei-chen, gegenwärtig zusätzliche Sprachförderung erhält, scheint es angesichts der Befunde der vorliegenden Studie notwendig, die Aktivitäten im Bereich der Sprachförderung kontinuier-lich zu optimieren. Dabei sollte neben der Förderung von Leseverstehens-fähigkeiten auch die Ausbildung von Hörverstehensfähigkeiten berücksichtigt werden, die bislang nur selten im Fokus institutioneller Fördermaßnahmen stehen (Imhof, 2010; Vandergrift 2007). Dieser bis-lang fehlende Fokus auf die Förderung von Hörverstehenskompetenzen ist problematisch, da das Hörverstehen eine wesentliche Determinante der Lesekompetenz sowie des weiteren schulischen Kompetenzerwerbs bildet. Auch in der vorliegenden Studie findet sich ein enger Zusammenhang zwischen Hör- und Leseverstehenskompetenzen bei älteren Schülerinnen und Schülern. Für die hier betrachtete Stichprobe von Jugendlichen mit schwachen Lesekompe-tenzen sollten daher die Hörverstehensfähigkeiten sowohl bei der Diagnose schwacher Lese-leistungen, als auch bei deren Prävention zukünftig berücksichtigt werden (vgl. Language and Reading Research Consortium, 2015).

Zur Förderung von Vorläuferfähigkeiten des Textverstehens, wie etwa dem Wortschatz, der phonologischen Bewusstheit oder morpho-syntaktischen Kenntnissen, existiert bereits eine Reihe von Ansätzen (vgl. Marx, Wolf, Paetsch, Darsow & Felbrich, 2014). Bislang sind allerdings nur wenige dieser Förderansätze wissenschaftlich evaluiert worden. Insbesondere zur Effektivität sprachlicher Förderung von L2-Kindern im schulischen Bereich fehlen derzeit

kontrollierte Interventionsstudien, so dass es kaum möglich ist, verlässliche Aussagen über die „best practice“ bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen von Kindern mit Zuwande-rungshintergrund zu machen. Aufgrund der Komplexität von Textverstehensprozessen kann jedoch vermutet werden, dass eine reine Förderung von Vorläuferfähigkeiten des Hör- oder Leseverstehens nicht in allen Fällen ausreichend sein dürfte, um Textverstehensfähigkeiten zu verbessern, sondern dass diese selbst ebenfalls einer Förderung bedürfen (Hogan, Adlof, &

Alonzo, 2014). Allerdings existieren neben Ansätzen zur Förderung des Hörverstehens im Fremdsprachenunterricht bislang kaum wissenschaftliche Erkenntnisse zu effektiven Maß-nahmen zur Verbesserung des Hörverstehens.

Eine Reihe von theoretischen Überlegungen zu möglichen Förderansätzen im Bereich des Hörverstehens liegt bereits vor. Dabei lassen sich bottom-up basierte von top-down ba-sierten Ansätzen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Teilkompetenzen des Hörverste-hens fokussieren: Während top-down Ansätze Übungen beinhalten, die beispielsweise die Fähigkeiten fördern sollen, anhand von Schlüsselwörtern ein Diskursschema des Hörtextes zu entwickeln oder die Rolle einzelner Protagonisten des Hörtextes zu inferieren (vgl. Imhof, 2010), enthalten bottom-up Ansätze eher Übungen, anhand derer Hörende beispielsweise ler-nen sollen, Wort- und Satzgrenzen oder Schlüsselwörter zu erkenler-nen (z. B. Gilakjani &

Ahmadi, 2011). Einen integrierten Ansatz der Förderung von Zuhörkompetenzen in der Zweitsprache beschreibt Vandergrift (2007). Neben top-down- und bottom-up- Strategien soll in diesem Ansatz auch die metakognitive Bewusstheit für die beim Zuhören notwendigen kognitiven Prozesse gestärkt werden. Hörerinnen und Hörer werden dabei geschult, sowohl vor, als auch während und nach dem Zuhören den Hörprozess zu planen, zu überwachen und zu evaluieren. Erste Überprüfungen dieses integrierten Ansatzes zeigten, dass ältere Lernende, die Französisch als Zweitsprache erwarben, von einer entsprechenden Intervention tatsächlich profitierten (vgl. Vandergrift, 2007). Die Überprüfung für weitere Sprach- und Altersgruppen steht allerdings noch aus, so dass auch für diesen integrierten Ansatz derzeit keine gesicherten Aussagen zur Wirksamkeit für die Förderung von Hörverstehensfähigkeiten möglich sind.

Die Befunde der vorliegenden Studie deuten darauf hin, dass L2-Schülerinnen und -Schüler nicht nur im Bereich des alltäglichen Hörverstehens, sondern auch im bildungs-sprachlichen Hörverstehen schwächere Leistungen aufweisen als ihre monolingualen Peers.

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, auch bildungssprachlichen Fähigkeiten bei der Förderung zweitsprachlicher Fähigkeiten Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Auch für diesen Bereich liegen bislang jedoch nur wenige empirische Studien vor, die die Wirksamkeit entsprechender Förderansätze belegen könnten. Programme zur Förderung des

bildungs-Abschließende Diskussion und Ausblick 110 sprachlichen Wortschatzes haben sich im englischen Sprachraum allerdings bereits als erfolg-reich gezeigt (Nagy & Townsend, 2012). Eine quasi-experimentelle Studie mit Schülerinnen und Schülern der 6. bis 8. Klassenstufe beispielsweise erbrachte Hinweise darauf, dass ein Training zur Verbesserung des bildungssprachlichen Wortschatzes einen positiven Effekt mittlerer Effektstärke auf die entsprechenden Kenntnisse hatte (Snow, Lawrence & White, 2009). L2-Schülerinnen und -Schüler scheinen von diesem Training stärker zu profitieren als L1-Jugendliche, so dass dieser Ansatz besonders geeignet scheint, sprachbedingte Disparitä-ten im bildungssprachlichen Wortschatz zu reduzieren. Allerdings existieren bislang kaum empirische Befunde, die Transfereffekte auf das Textverstehen nachweisen würden (Nagy &

Townsend, 2012). Es bleibt somit unklar, inwiefern diese Förderprogramme geeignet sind, bildungssprachliche Kompetenzen in einer Zweitsprache nachhaltig zu stärken.

Vielversprechender scheint gegenüber Ansätzen, die isolierte Aspekte von Bildungs-sprache fokussieren, eine fortlaufende und konsequente Vermittlung bildungssprachlicher Fähigkeiten im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung zu sein (Gogolin & Lange, 2011).

Dabei wird die Notwendigkeit der Schaffung von Lernsituationen betont, in denen Schülerin-nen und Schüler explizit und systematisch an Bildungssprache herangeführt werden. Hierfür sollen Lehrkräfte aller Fachbereiche im Unterricht entsprechende Lerngelegenheiten schaffen, etwa indem bewusst bildungssprachliche Mittel eingesetzt und thematisiert werden oder die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit erhalten, bildungssprachliche Fähigkeiten aktiv einzu-setzen. Sprache wird somit auch in den nichtsprachlichen Fächern zum Lerngegenstand (vgl.

Gogolin & Lange, 2011). Insbesondere für das Hörverstehen bleibt allerdings unklar, inwie-fern durchgängige Sprachbildung geeignet ist, L2-Schülerinnen und -Schüler zu befähigen, Kompetenzen zu entwickeln, die denen ihrer monolingualen Peers entsprechen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass bislang noch wenig über den Erfolg von Maßnah-men zur Förderung von Hörverstehensfähigkeiten, sowohl in einer Erst- als auch in einer Zweitsprache, bekannt ist. Konkrete Empfehlungen zu geeigneten Förderprogrammen lassen sich vor diesem Hintergrund derzeit nicht formulieren. Auf Basis der Befunde der vorliegen-den Studie sowie theoretischer Überlegungen und empirischer Ergebnisse zur Förderung zweitsprachlicher Kompetenzen lässt sich allerdings mutmaßen, dass L2-Schülerinnen und -Schüler über die Teilnahme am Unterricht hinaus Unterstützung bei der Entwicklung ihrer zweitsprachlichen Hörverstehensfähigkeiten bzw. deren linguistischer Prädiktoren benö-tigen. Da in der vorliegenden Studie die Effekte linguistischer Prädiktoren auf das Textverste-hen in einer Erst- bzw. Zweitsprache ähnlich stark ausgeprägt waren, ist davon auszugeTextverste-hen, dass L2-Schülerinnen und -Schüler dabei nicht grundsätzlich andere Fördermaßnahmen

benö-tigen als L1-Schülerinnen und -Schüler mit schwachen sprachlichen Fähigkeiten. Vielmehr sollte es Ziel einer Förderung sein, eventuell vorhanden Schwächen im Beriech sprachlicher Prädiktoren des Textverstehens bei L1- und L2-Schülerinnen und -Schülern gleichermaßen zu fördern. Dabei scheint es bisherigen Befunden nach nicht ausreichend, nur einzelne Prä-diktoren des Hörverstehens zu fokussieren, vielmehr sollten Förderansätze den gesamten Hörverstehensprozess betrachten und sowohl bottom-up als auch top-down-Prozesse themati-sieren. Eine solche Förderung sollte nicht nur bildungssprachliche Aspekte ansprechen, von denen angenommen wird, dass sie für L2-Lernende besonders schwierig zu erwerben sind.

Vielmehr sollten auch alltagssprachliche Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern überprüft und bei Bedarf gefördert werden. Die bloße Teil-nahme am zweitsprachlichen Unterricht sowie eine gegebenenfalls erfolgende zusätzliche Förderung im Förderunterricht oder ähnlichen, an Schulen bereits bestehenden Angeboten scheint dafür nicht ausreichend zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es dringend notwendig, Sprachförderansätze für L2-Schülerinnen und -Schüler zu entwickeln und mit Hilfe von kon-trollierten Evaluationsstudien auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.