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Die Bedeutung des Hörverstehens für Leseverstehen in einer Erst- und Zweitsprache

bildungs-sprachlicher Merkmale auf die Hörverstehensleistung bei Kindern mit unterschiedlichem Sprachhintergrund liegt im Alter der Kinder. Sowohl Heppt et al. (2014) als auch Eckhardt (2008) vermuten, dass sich deutlichere Unterschiede in der Verarbeitung von Alltags- und Bildungssprache erst in höheren Klassenstufen finden, wenn auch die im Unterricht vermittel-ten Inhalte anspruchsvoller werden. Es ist daher möglich, dass sich die vermutevermittel-ten besonde-ren Leistungsnachteile der L2-Lernenden bei bildungssprachlichen Texten erst bei ältebesonde-ren Schülerinnen und Schülern zeigen (Chudaske, 2012). Für Kinder mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status gehen Chall et al. (1990) davon aus, dass sich dies ungefähr ab dem Ende der Grundschulzeit, d. h. der vierten Klassenstufe manifestieren könnte, da dies dem Zeitpunkt entspricht, zu dem die in der Schule vermittelten Inhalte zunehmend weniger kon-textualisiert sind.

Insgesamt liefern die bislang vorliegenden Studien zu differenziellen Auswirkungen bildungssprachlicher und alltagssprachlicher Merkmale auf die Textverstehenskompetenzen in einer Erst- bzw. Zweitsprache somit ein uneindeutiges Bild. Allerdings existieren für den deutschen Sprachraum bislang nur wenige Studien, die zudem auf den Grundschulbereich fokussieren, in dem die sprachlichen Anforderungen noch vorwiegend alltagssprachlich ge-prägt sein könnten. Es besteht daher die Notwendigkeit, auch in den höheren Klassen bil-dungssprachliches und alltagssprachliches Hörverstehen empirisch zu untersuchen. Von be-sonderem Interesse ist dabei die Frage danach, ob sich bildungssprachliches und alltags-sprachliches Hörverstehen nicht nur in Hinblick auf die sprachlichen Merkmale, sondern auch in Bezug auf die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern unterscheiden lassen; bil-dungssprachliches und alltagssprachliches Hörverstehen also distinkte Facetten der Hörver-stehensfähigkeiten bilden. Derzeit existieren noch keine Studien, die die Abgrenz-barkeit der entsprechenden Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern empirisch überprüfen. Es bleibt somit bislang unklar, inwiefern die Annahme, Bildungssprache stelle - vor allem für Lernende einer Zweitsprache - besondere Anforderungen an die sprachlichen Kompetenzen von Schüle-rinnen und Schülern, tatsächlich zutreffend ist.

5. Die Bedeutung des Hörverstehens für Leseverstehen in einer Erst-

Hör-Die Bedeutung des Hörverstehens für das Leseverstehen 44 verstehensleistung von L2-Jugendlichen negativ beeinflussen, indem sie die Bildung einer mentalen Repräsentation von Hörtexten erschweren. In der Folge könnte auch der Erwerb weiterer schulischer Kompetenzen für L2-Schülerinnen und -Schüler gegenüber L1-Schülerinnen und Schülern erschwert sein.

Insbesondere für den Erwerb der Lesekompetenz ist ein bedeutsamer Effekt des Hör-verstehens zu erwarten, der sich aus der Ähnlichkeit der beiden Textverarbeitungs-prozesse ergibt, denen im Wesentlichen dieselben Verarbeitungsmechanismen zugrunde liegen (Marx

& Jungmann, 2000). So müssen sowohl im Zuge des Hör- als auch während des Leseverste-hensprozesses einzelne Gedanken und Konzepte aus dem Text extrahiert und in Bezug zu Vorinformationen und Hintergrundwissen gebracht werden, um in der Folge ein mentales Modell des Textinhalts erstellen zu können (Field, 2008). Unterschiede in der Verarbeitung von Texten in den beiden Modalitäten ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass Hörtexte aufgrund von sprachlichen Phänomenen wie Elisionen oder Assimilationen von Lauten sowie aufgrund von Hintergrundgeräuschen häufig weniger eindeutig sind als geschriebene Texte.

Darüber hinaus bündelt die Verarbeitung von Hörtexten, die in Echtzeit abläuft, mehr Auf-merksamkeit als die Verarbeitung räumlich und zeitlich stabiler Texte (Buck, 2001).

Angesichts der Ähnlichkeit der grundlegenden Verarbeitungsprozesse erscheint es we-nig verwunderlich, dass Hör- und Leseverstehen in starkem Ausmaß korrelieren, sobald grundlegende Lesefähigkeiten erworben wurden (Marx & Jungmann, 2000; Rost &

Hartmann, 1992). Dieser enge Zusammenhang wird in dem Simple View of Reading-Ansatz (Hoover & Gough, 1990) aufgegriffen, demzufolge die Lesekompetenz durch zwei multipli-kativ miteinander verbundene Faktoren, dem Dekodieren und dem linguistischen Verstehen, determiniert wird. Dekodieren wird dabei als effiziente Worterkennung definiert, während linguistisches Verstehen die Fähigkeit bezeichnet, einen Satz syntaktisch zu analysieren, des-sen Bedeutung zu erfasdes-sen und ihn mit den umgebenden Sätzen in Verbindung zu setzen. Im Simple View of Reading wird diese Fähigkeit über die Hörverstehenskompetenz operationali-siert, die im Sinne eines nicht in der schriftsprachlichen Modalität stattfindenden linguisti-schen Verstehens verstanden werden kann. Während das Dekodieren vor allem in den frühen Phasen des Leseerwerbs den bedeutsameren Prädiktor des Leseverstehens darstellt, bildet das als Hörverstehen operationalisierte linguistische Verstehen in den späteren Phasen des Le-seerwerbs, wenn das Dekodieren bereits automatisiert abläuft, die wichtigste Determinante der Lesekompetenz. Die zentralen Annahmen des Simple View of Reading hinsichtlich des Effekts des Hörverstehens auf das Leseverstehen können als empirisch gut belegt gelten (z. B.

Droop & Verhoeven, 2003; Gottardo & Mueller, 2009; Hoover & Gough, 1990).

Schwächen im Bereich des Hörverstehens können demnach auch Schwächen im Be-reich des Leseverstehens nach sich ziehen. Für L2-Lernende ist dies besonders problematisch, da vermutet werden kann, dass Hörverstehenskompetenzen und Leseverstehenskompetenzen in einer Zweitsprache besonders eng zusammenhängen. Diese Annahme basiert auf der time-on-task-Hypothese (vgl. z. B. Gathercole, 2002), der zufolge die Ausbildung sprachlicher Fähigkeiten wie dem Hörverstehen vom Sprachkontakt abhängt: Je weniger Kontakt Kinder zu ihrer Zweitsprache haben, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sprachliche Kompe-tenzen in der Zweitsprache in ausreichendem Maß erworben werden. Dies betrifft insbesonde-re den Wortschatz und die morpho-syntaktischen Kenntnisse und in der Folge auch das Hör-verstehen, deren Ausprägung vom Ausmaß und der Dauer des Sprachkontaktes abzuhängen scheint (z. B. Cummins, 1981). Auch für die phonologische Bewusstheit ergeben sich Effekte des Sprachkontakts, allerdings zeigen sich hier in der Regel auch bei ansonsten geringen Zweitsprachkenntnissen keine Nachteile von L2-Schülerinnen und –Schülern gegenüber ihren L1-Peers (z. B. Bruck & Genesee, 1995; Campbell & Sais, 1995; Rubin & Turner, 1989). Da die phonologischen Bewusstheit für das Erlernen von Buchstaben-Laut-Zuordnungen und somit der effizienten Worterkennung eher förderlich ist (Ehri, 1995), ist davon auszugehen, dass L2-Schülerinnen und -Schüler im Bereich des Dekodierens in der Regel Leistungen zei-gen, die denen von L1-Schülerinnen und -Schülern entsprechen oder jene sogar übertreffen (Verhoeven & van Leeuwe, 2012). Gleichzeitig zeigen sich gegenüber monolingualen Schüle-rinnen und Schülern häufig Schwächen im Bereich der lexikalischen und morpho-syntaktischen Kenntnisse sowie im Textverstehen von L2-Lernenden. Da L2-Lernende somit meist über gut ausgeprägte Fähigkeiten im Dekodieren verfügen, gleichzeitig jedoch Schwä-chen im Hörverstehen aufweisen, wird häufig eine besonders enge Verbindung zwisSchwä-chen dem Hör- und dem Leseverstehen in einer Zweitsprache vermutet, das häufig ebenfalls schwächer ausgeprägt ist als in einer Erstsprache (vgl. August & Shanahan, 2006).

Empirisch fanden sich in einer Reihe von Studien Belege dafür, dass Hörverstehen in einer Zweitsprache ein bedeutsamerer Prädiktor für das Leseverstehen sein könnte als in einer Erstsprache. Für den Grundschulbereich stammen entsprechende Befunde beispielsweise aus Studien von Droop und Verhoeven (2003), Gottardo und Müller (2009) oder Limbird (2007).

Auch in einer Studie von Geva und Farnia (2012) konnte gezeigt werden, dass neben dem Wortschatz und der phonologischen Bewusstheit auch das Hörverstehen bei L2-Schülerinnen und -Schülern der oberen Grundschulklassen das Leseverstehen vorhersagte, während bei den L2-Lernenden kein Effekt des Hörverstehens auf das Leseverstehen zu beobachten war. Für den deutschen Sprachraum berichtet Limbird (2007) stärkere Zusammenhänge (r = .32 bzw.

Die Bedeutung des Hörverstehens für das Leseverstehen 46 r = .33) zwischen dem Hör- und dem Leseverstehen für deutsch-türkisch bilinguale Kinder der Klassenstufen 2 und 3 als für monolingual deutschsprachige Kinder (r = .19 bzw. r = .14).

Während die Ergebnisse dieser Studien somit für die theoretisch postulierten stärkeren Zu-sammenhänge zwischen Hör- und Leseverstehen in einer Zweitsprache sprechen, berichtet Babayiğit (2014) gegenteilige Befunde aus einer Untersuchung von L1- und L2-Grundschülern in England. In dieser Studie fanden sich keine differenziellen Zusammenhänge zwischen dem Hör- und dem Leseverstehen bei L1- und L2-Kindern, die die Annahme einer stärkeren Rolle von Hörverstehensfähigkeiten für das Leseverstehen in einer Zweitsprache stützen würden.

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu beachten, dass in den meisten der genann-ten Studien der sozioökonomische Hintergrund der Kinder nicht kontrolliert wurde. Lediglich in der Studie von Droop und Verhoeven (2003) wurde der sozioökonomische Status der betei-ligten Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Limbird (2007) gibt an, dass alle Kinder aus Schulbezirken mit einem ähnlich niedrigen sozioökonomischen Status kamen und Babayiğit (2014) berichtet auf Basis des Anteils von Schülerinnen und Schülern, die am free lunch-Programm der jeweiligen Schule teilnahmen, von einem vermutlich geringeren sozioökono-mischen Hintergrund der L2-Kinder, der in den Analysen jedoch nicht kontrolliert wird. Die Ergebnisse diese Studien könnten somit mit dem oftmals unterschiedlichen sozioökonomi-schen Status der L1- und L2-Kinder konfundiert sein, der ebenfalls einen bedeutsamen Prä-diktor des Leseverstehens darstellt.

Obwohl die Mehrzahl bisheriger Studien insgesamt Unterstützung für die Annahme einer besonders engen Verbindung zwischen Hör- und Leseverstehen in einer Zweitsprache liefert, besteht daher die Notwendigkeit der Durchführung weiterer Studien, die potenziell konfundierte Variablen wie den sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schü-ler berücksichtigen. Zudem besteht weiterer Forschungsbedarf in Hinblick auf Zusammen-hänge zwischen Hör- und Leseverstehen bei älteren L1- und L2-Lernenden nach der Grund-schulzeit. Da der Zusammenhang zwischen dem Hör- und dem Leseverstehen nach dem Er-werb automatisierter Dekodierfähigkeiten zunehmend enger wird (vgl. Kapitel 5), kann ver-mutet werden, dass sich differenzielle Zusammenhänge zwischen Hör- und Leseverstehen von L1- bzw. L2-Schülerinnen und -Schülern erst in den höheren Klassen-stufen finden lassen, wenn die Dekodierfähigkeiten im Allgemeinen bereits automatisiert sind und Hörverstehen der wesentliche Prädiktor für die Lesefähigkeiten wird.