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D. R ECHTSEXTREMISMUS

4. Neonazismus

4.2 Rudolf Heß und Horst Wessel: Integrationsfiguren der Neonaziszene

4.2.2 Horst Wessel als Symbol- und Integrationsfigur heutiger Neonazis

Am 23. Februar 2010 jährte sich der Tod des Berliner SA-Sturmführers Horst Wessel (1907–1930) zum 80. Mal. Wessel war an den Folgen eines Überfalls gestorben. Die NSDAP betrieb daraufhin einen intensiven Märtyrerkult um ihn. Das in der Bundes-republik verbotene „Horst-Wessel-Lied“, welches er verfasst hatte, wurde zur NSDAP-Hymne sowie von 1933 bis 1945 zu einer Art zweiten deutschen National-hymne.

Bereits seit Jahren sind Versuche der Neonazi-Szene zu beobachten, Horst Wessel neben Rudolf Heß zu einer weiteren neonazistischen Symbolfigur mit Märtyrer- und Vorbildcharakter aufzubauen. Aus Anlass von Wessels 80. Todestag veröffentlichten baden-württembergische Neonazi-Gruppierungen aus dem Bereich der „Autonomen Nationalisten“ zwei themenbezogene Texte auf ihren Homepages. Der erste besteht im Wesentlichen aus einer Kurzbiographie Wessels, welche die Person kritiklos ver-herrlicht. Er wurde offenbar eigens aus Anlass des 80. Todestages verfasst und von einer rechtsextremistischen Internetseite aus Thüringen übernommen. In diesem Text wird Wessel als „Symbol für Idealismus, für Opfergeist und jugendlichen Taten-drang“ sowie als „der glühende Idealist mit dieser aufopferungsvollen Haltung“

gepriesen. Zudem wird die völlig unrealistische Einschätzung vorgenommen, „Horst Wessels Idealismus“ sei „heute im Geheimen Vorbild für eine ganze Generation, die die Fesseln des Zeitgeists“ abstreife.

Der zweite Text verherrlicht in derselben kritiklosen Weise „den Idealismus und die Opferbereitschaft von Horst Wessel im Kampf um Volk und Nation“ und schließt mit der in der rechtsextremistischen Szene weit verbreiteten Nachrufformel „Ewig lebt der Toten Tatenruhm!“. Vor allem aber wird von angeblichen „Aktionen“ in Rhein-felden und Weil am Rhein (beide Kr. Lörrach) anlässlich des 80. Wessel-Todestages berichtet. Tatsächlich aber fand in Rheinfelden nichts dergleichen statt. Demnach handelte es sich in diesem Fall um eine gezielte Falschmeldung und bewusste Vortäuschung von Aktionismus. Die ebenfalls in diesem Internetbeitrag erwähnten Farbsprühereien in Weil am Rhein wurden hingegen tatsächlich durchgeführt: Ende Februar/Anfang März 2010 sprühten Unbekannte an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet mit Hilfe von Schablonen zum einen Abbildungen Wessels sowie zum anderen die schwarzen Schriftzüge „HORST WESSEL“ und „ERMORDET DURCH ROTE HAND“. Außerdem wurde an einer Stelle die Internetadresse der über die Aktion berichtenden „Aktionsgruppe Lörrach“ angebracht.

4.3 „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren An-gehörige e. V.“ (HNG)

Gründung: 1979 Vorsitzende: Ursula MÜLLER Sitz: Frankfurt am Main

Mitglieder: ca. 50 Baden-Württemberg (2009: ca. 50) ca. 600 Deutschland (2009: ca. 600) Publikation: „Nachrichten der HNG“ (erscheint monatlich)

Die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.“ (HNG) ist die langlebigste und mitgliederstärkste Einzelorganisation in der deutschen Neonaziszene. Sie verfügt über keine Untergliederungen auf Länder-ebene.

Ihr Selbstverständnis und ihre Funktion in der rechtsextremistischen Szene kommen bereits in ihrem Namen zum Ausdruck. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, inhaf-tierte Gesinnungsgenossen moralisch und materiell zu unterstützen. So will sie diese auch während der Haftzeit sozial und ideologisch an die rechtsextremistische Szene binden und damit den staatlichen Ausstiegsangeboten entgegentreten. Die HNG ist eine von sehr wenigen Neonazi-Organisationen mit – zumindest theoretisch – bun-desweitem Aktionsradius.

Folgende Ereignisse sind für das Jahr 2010 hervorzuheben:

‰ Am 17. April 2010 fand im bayerischen Eibelstadt die Hauptversammlung der HNG statt.

‰ Gegen die Organisation wurde eine Verbotsprüfung eingeleitet; im Zuge die-ses Verfahrens wurden unter anderem in Baden-Württemberg Durchsuchun-gen und Beschlagnahmen durchgeführt.

Angesichts zahlreicher Verbote von neonazistischen Vereinigungen in den 1990er Jahren ist die HNG mit ihrer Langlebigkeit und ihrer Mitgliederstärke eine eher un-typische Erscheinung in der deutschen Neonaziszene. Gleiches gilt für ihren Aktions-radius, der theoretisch das gesamte Bundesgebiet umfasst. Die weit überwiegende Mehrzahl der Neonazi-Zusammenschlüsse (z. B. die „Kameradschaften“) ist da-gegen regional organisiert. Das Tätigkeitsfeld der HNG ist klar umrissen: Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, inhaftierte Gesinnungsgenossen unter anderem durch Rechtsberatung, Überlassung rechtsextremistischer Literatur und Vermittlung von Briefkontakten moralisch und materiell zu unterstützen. Zum einen möchte sie die Häftlinge damit auch während der Haftzeit sozial und ideologisch an die rechtsextre-mistische Szene binden. Zum anderen versucht sie auf diesem Wege, die staatlichen Ausstiegsangebote zu unterlaufen.

Da sich die HNG zudem als lagerübergreifendes Sammelbecken für alle Angehöri-gen der rechtsextremistischen Szene versteht, sind ihre Mitglieder oft auch Ange-hörige anderer einschlägiger Vereinigungen, z. B. von neonazistischen Kamerad-schaften, Freundeskreisen oder der rechtsextremistischen Skinheadszene. Dadurch kommt der HNG auch eine Integrations- und Vernetzungsfunktion zu.

Ansonsten erschöpfen sich Aktivitäten und Bedeutung der HNG in der monatlichen Veröffentlichung ihrer 20-seitigen Publikation „Nachrichten der HNG“, die 2010 im 32. Jahrgang erschienenen ist, und in der regelmäßigen Veranstaltung einer Jahres-hauptversammlung. Die Hauptversammlung 2010 mit rund 130 Teilnehmern fand am 17. April im bayerischen Eibelstadt bei Würzburg statt.

Verbotsprüfung gegen die HNG

Am 7. September 2010 wurden auf Veranlassung des Bundesministeriums des Innern in verschiedenen Bundesländern Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei Angehörigen der neonazistischen Szene durchgeführt. Unter den betroffenen Objek-ten waren auch drei in Baden-Württemberg. Hintergrund dieser Maßnahmen war eine gegen die HNG eingeleitete Verbotsprüfung.

4.4 „Autonome Nationalisten“ – Militanter Neonazismus mit ungewohn-tem Erscheinungsbild

Die „Autonomen Nationalisten“ (AN) sind Teil der Neonaziszene. Sie unterscheiden sich von anderen Neonazis durch ihr äußeres Erscheinungsbild, das demjenigen linksextremistischer Autonomer gleicht, und ihren Hang zur Militanz. Im Bundes-gebiet sind sie 2003 erstmals in Erscheinung getreten. Sie verfügen über keine bun-desweite Gesamtorganisation, sondern bestehen aus mehreren, meist regional or-ganisierten Gruppierungen mit jeweils nur wenigen Mitgliedern. Diese treten nicht immer unter der Selbstbezeichnung „Autonome Nationalisten“ auf, sondern auch als

„Freie Kräfte“ oder „Aktionsgruppen“.

Bundesweit lag der Anteil der AN im Jahr 2010 bei ungefähr 20 Prozent der 5.600 deutschen Neonazis (2009: ca. 15 Prozent von 5.000). In Baden-Württemberg, wo die AN seit 2005 aktiv sind, gehören ihnen etwa 140 Personen an (2009:

ca. 120). Damit sind knapp 30 Prozent der baden-württembergischen Neonazis den

AN zuzurechnen. Das Anwachsen der Neonaziszene in den letzten Jahren ist maß-geblich auf die gestiegene Zahl von AN zurückzuführen.

Folgende Ereignisse und Entwicklungen sind für das Jahr 2010 hervor-zuheben:

‰ Die „Autonomen Nationalisten“ konnten 2010 erneut personelle Zuwächse verzeichnen.

‰ Während des Jahres wurden von den AN in Baden-Württemberg keine Demonstrationen angemeldet oder (mit-)veranstaltet.

Seit Ende 2003 treten bei rechtsextremistischen Demonstrationen im gesamten Bun-desgebiet immer wieder Personengruppen auf, die sich bewusst vom gewohnten Auftreten der Neonazi-Szene abheben. Dies betrifft sowohl ihr äußeres Erschei-nungsbild als auch ihr Verhalten. Spätestens seit der ersten Jahreshälfte 2004 erlangten diese Gruppen unter der seither häufig verwendeten Eigenbezeichnung

„Autonome Nationalisten“ bundesweite Bekanntheit. Dabei ist der Begriff keine Be-zeichnung für eine bestimmte Organisation, sondern wird als Oberbegriff für mehre-re, meist regional organisierte Gruppierungen innerhalb der Neonazi-Szene benutzt.

Eine Unterscheidung wird durch den Zusatz der Stadt oder der Region möglich (z. B.

„Autonome Nationalisten Göppingen“/„AN Göppingen“). Allerdings verwenden nicht alle Gruppierungen, welche die typischen Merkmale aufweisen, den Begriff „Autono-me Nationalisten“ als Selbstbezeichnung. Zuweilen treten AN auch als „Freie Kräfte“

oder, in Baden-Württemberg, als „Aktionsgruppe“ auf (z. B. „Aktionsgruppe Voralb“,

„Aktionsgruppe Lörrach“).

Nachdem Baden-Württemberger AN in den Jahren 2005 bis 2009 immer wieder als Anmelder und Veranstalter von Demonstrationen in Erscheinung getreten waren, blieb dies im Jahr 2010 aus.