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B. I SLAMISTISCHER E XTREMISMUS UND T ERRORISMUS

1. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen

1.1 Islamische Missionstätigkeit (Da’wa-Arbeit) und Internetpropaganda Die Da’wa-Arbeit (Da’wa = eigentlich Mission, Einladung zum Islam) der zahlreichen, teilweise selbst ernannten Redner und Prediger im salafistischen Spektrum trug zu

einer Tendenz der „Salafisierung“2 von Personen bei, die sich bereits in legalisti-schen extremistilegalisti-schen Vereinen engagierten. Hier war ein innerislamistischer Ver-drängungswettbewerb um die begrenzte Zahl möglicher Anhänger und Unterstützer zu beobachten. So äußern etwa einzelne Anhänger der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG) unverhohlen Sympathien für salafistische Internetinhalte.

Meist reisen salafistische Redner von Ort zu Ort, um Seminare abzuhalten. Immer mehr von ihnen sind auch auf Videokanälen und in sozialen Netzwerken im Internet vertreten. Mindestens 40 deutschsprachige Prediger veröffentlichten ihre Vorträge im Jahr 2010 auf diesem Weg. Besonders bekannte Redner bedienen sich bei der Aus-legung islamischer Glaubensinhalte mitunter einer Sprache, die auffällig an das Ziel-publikum angepasst ist. Einer erläuterte etwa die Vorzüge des Paradieses für Frauen folgendermaßen:

„Die Frauen haben richtig hammerfette Sachen im Paradies (…) die Frauen werden richtig fett chillen im Paradies.“

In diesem Beispiel waren Jugendliche der Adressatenkreis. Es finden sich aber auch Videobeispiele, in denen sogar Kinder eine salafistisch geprägte Unterweisung erhielten:

„[Prediger] Was hat Allah uns verboten im Koran: [die Kinder rufen]

Schweinefleisch zu essen, Weihnachten zu feiern, Alkohol zu trinken, nicht rauchen, Gelatine essen, Geburtstag feiern, Karneval feiern (…).“

Neben diesen Predigten, die man häufig als Video oder Audiodatei im Internet finden kann, verbreiten Anhänger salafistischer Bewegungen ihr Gedankengut auch in schriftlicher Form, etwa als Flugblätter und Bücher auf Infotischen in vielen Fußgän-gerzonen Baden-Württembergs. Hier konnte 2010 ein starker Anstieg der angebote-nen Schriften festgestellt werden. Zahlreiche deutschsprachige Veröffentlichungen mit bedenklichen Inhalten, die einem friedlichen Zusammenleben zuwiderlaufen bis hin zur Volksverhetzung, stammen aus dem Umfeld saudischer Stiftungen zur Propagierung des Islam. Die Texte waren häufig aus dem Arabischen übersetzt.

2 Die salafistische Strömung wird im 2. Kapitel ausführlich beschrieben.

Ein weiterer Trend ist die verstärkte Hinwendung der Anhänger zu englischsprachi-gen Webseiten. Auch in Baden-Württemberg ist eine Szene entstanden, die sich für jene Vorträge interessiert, welche auf Englisch eine besonders militante Version des Salafismus predigen. Nicht zuletzt eine entsprechende grafische Gestaltung macht diese Seiten für ein jugendliches und für neue Technik aufgeschlossenes technikfreundliches Publikum attraktiv. Dieser Nutzerkreis lädt sich salafistische Inhalte auch als „Apps“ auf multifunktionale Mobiltelefone, die sogenannten Smartphones, oder kompakte Tablet-Computer herunter.

Zu den „Helden“ der Szene zählen Redner, die teilweise seit über zehn Jahren die englischsprachigen militanten Inhalte bestimmen. Besonders bekannt sind etwa der Afghanistanveteran Abu Hamza al-MASRI, der 2010 im Libanon zu lebenslanger Haft verurteilte Omar BAKRI oder auch der inzwischen weltweit bekannte Anwar al-AWLAKI. Dieser jemenitische Jihadtheoretiker ist in Baden-Württemberg seit Langem eine feste Größe. Seine Videos werden von Islamisten aus dem Internet heruntergeladen und weiterverbreitet. In den Jahren 2009 und 2010 wurde ihm zur Last gelegt, der geistige Anstifter verschiedener Anschlagsversuche in den USA gewesen zu sein.

1.2 Beteiligung am Jihad

Dass die salafistischen Schulungen und die jihadistische Propaganda wirken, zeigten auch 2010 verschiedene Ausreisen und Ausreiseversuche von Kampfwilligen. Damit setzte sich der Trend von 2009 fort. Dies wird unter anderem an Verhaftungen von aus Deutschland stammenden jungen Männern in Pakistan und Kenia deutlich. Sie hatten sich aufgemacht, um die kämpfenden Mujahidin zu unterstützen, teilweise in kleinen Gruppen mit Frauen und sogar Kindern.

Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass sich – Stand Ende 2010 – bis zu 20 Personen aus Deutschland in sogenannten Terrorcamps im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufhalten. Weitere Kämpfer stammen aus westlichen Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder den USA. So war 2010 etwa ein Anstieg von aus den USA stammenden Jihad-Rekruten in Somalia zu verzeichnen.

Die Situation in den Kampfgebieten wird in der Propaganda verklärt: Mehrere der jihadbegeisterten jungen Männer starben bei Gefechten oder Drohnenangriffen. In entsprechenden Internetforen wurden sie daraufhin als „Märtyrer“ gefeiert. 2010 sind bei solchen Kämpfen mindestens fünf Männer aus Deutschland ums Leben gekommen, darunter Ende April der bekannte Eric BREININGER aus Neun-kirchen/Saarland. Selbst diese Todesfälle scheinen neue Rekruten nicht davon abzuhalten, sich auf den Weg zu machen. Diese haben für sich den bewaffneten Jihad als individuelle Pflicht verinnerlicht. Deshalb wollen sie sich den kämpfenden Gruppierungen anschließen – sei es in Tschetschenien, Somalia oder Afghanistan.

Daneben kann es aber in Einzelfällen immer wieder auch zu jihadistisch motivierten Taten im Westen kommen. Erklärungsmuster, die in vielen Zeugnissen von Atten-tätern oder den Legitimationsschriften entsprechender Persönlichkeiten – z. B. von Anwar al-AWLAKI – erwähnt werden, spielen dabei eine wichtige Rolle. Ein Beispiel hierfür ist eine junge Frau, die am 14. Mai 2010 einen britischen Labour-Abgeordneten mit einer Messerattacke schwer verletzt hat. Die veröffentlichten Aus-schnitte ihrer polizeilichen Vernehmungen machen die Wirkung des Predigers al-AWLAKI sehr deutlich. Wahrscheinlich ohne engere Anbindung an ein islamisti-sches Milieu hatte bei der Studentin eine „Selbstradikalisierung“ stattgefunden. In der Vernehmung gab sie zu Protokoll:

„Ja, ich habe viel über den Islam lernen können. Im Internet. Ich habe mir Vorträge von Anwar [al-AWLAKI] angehört (…) Ich habe mir alle seine aufgezeichneten Vorträge, mehrere hundert Stunden, seit November [2009] heruntergeladen (…). Er erklärte Geschichten aus dem Koran und die Bedeutung des Jihad (…). Ich dachte mir, ich sollte Loyalität zu meinen Brüdern und Schwestern in Palästina und überall zeigen.“

1.3 Strafverfahren

Zahlreiche Ermittlungs- und Strafverfahren im Jahr 2010 standen im Zusammenhang mit dem internationalen jihadistisch motivierten Terrorismus. Beispielhaft können hier folgende Strafprozesse genannt werden:

‰ Am 27. Januar 2010 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main Kadir T. wegen der logistischen Unterstützung einer terroristischen Vereini-gung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung (Az.: 5-2StE8/09-5-12/09). Kadir T. gilt als Bekannter von Adem Y., einem der verurteilten Mitglieder der sogenannten „Sauerland-Gruppe“, einer islamisti-schen Terrorzelle aus Deutschland. T. hatte, so die Überzeugung des Ge-richts, eine Digitalkamera und ein Nachtsichtgerät für Adem Y. beschafft.

‰ Am 4. März 2010 ging das Verfahren gegen die „Sauerland-Gruppe“ vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf mit der Verurteilung von Fritz G. und Daniel S.

zu je zwölf Jahren, Adem Y. zu elf Jahren und Attila S. zu fünf Jahren Haft zu Ende (Az.: III-6StS11/08 und III-6StS15/08). Die Urteile sind rechtskräftig.

‰ Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte am 19. Juli 2010 Ömer Ö. als Mit-glied von „al-Qaida“ zu sechs Jahren Freiheitsstrafe und Sermet I. wegen Un-terstützungshandlungen zu zweieinhalb Jahren Haftstrafe (Az.: 2StE3/09-8).

Beiden war zur Last gelegt worden, einem Deutsch-Pakistaner Geld und mili-tärische Ausrüstungsgegenstände beschafft zu haben. Außerdem habe Ö. in Deutschland Kämpfer für al-Qaida angeworben.

‰ Vor dem Landgericht Berlin begann am 5. November der Prozess gegen Filiz G. aus Ulm und Alican T. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Filiz G. wurde am 9. März 2011 zu zweieinhalb Jahren Haft ver-urteilt. Laut Urteil hatte sie Rekruten für den bewaffneten Kampf in Afghanis-tan geworben, Propagandatexte islamistischer Organisationen übersetzt und Spenden gesammelt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

1.4 Radikalisierung und die Gefahr von „Homegrown Terrorism“

Der Begriff „Homegrown Terrorism“ bezeichnet die Erscheinung, dass sich immer häufiger junge Muslime, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dem Jihadismus zuwenden. Bei einer internationalen wissenschaftlichen Tagung an der Universität Tübingen im September 2010 wurden die Bedeutung des

„Homegrown Terrorism“ sowie Präventionsmöglichkeiten diskutiert. An der Tagung nahmen auch Vertreter des Landesamts für Verfassungsschutz teil. Es wurde deut-lich, dass der Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fragestellungen zwischen universitär Forschenden und den Analysten der Sicherheitsbehörden für beide Seiten sehr gewinnbringend ist. In den letzten Jahren sind Netzwerke und

Think-Tanks entstanden, die mit ihren Veranstaltungen und Veröffentlichungen zu einem erheblich besseren Verständnis der verschiedenen Phänomene des islamisti-schen Spektrums beigetragen haben. Ein Beispiel dafür ist das „International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence“ (ICSR) in London, das u. a.

Studien über die Radikalisierung von Menschen erarbeitet.

1.5 Präventionsprojekt gegen islamistischen Extremismus

Als bundesweit einmaliges Projekt startete die Landeszentrale für politische Bildung (LpB) Baden-Württemberg in Partnerschaft mit dem LfV im November 2010 das Pro-jekt „Team meX. Mit Zivilcourage gegen islamistischen Extremismus“. Dieses ProPro-jekt ist ein Angebot für Multiplikatoren der schulischen und außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit. Sie sollen für das Thema islamistischer Extremismus sensibili-siert werden und Informationen über Propagandastrategien sowie Attraktivitäts-potenziale der islamistischen Szene bei Jugendlichen erhalten.

Unter der Projektleitung der LpB ist ein Team aus Kollegen des LfV zusammen mit den freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der LpB entstanden, das gemeinsam Fortbildungen und Fachvorträge für Personen erarbeitet hat, die in der Jugendarbeit tätig sind. Zu den Themen gehören u. a. „Lebenswelten und Glaubensformen junger religiöser Musliminnen und Muslime“ und „Islamismus erkennen – vom Islam unter-scheiden“.

Weitere Informationen zum „Team meX“ sind im Internet unter der Adresse www.team-mex.de abrufbar.