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3. Die Arbeitswelt der ChipTech-Zentrale in Großstadt

3.2.3 Historische Narrative

sehr sprunghaften Code geschrieben, aber zum Beispiel [Ingenieur B], der arbeitet eher bodenständig.

Wenn ich also weiß, wer den Code geschrieben hat, mit dem ich arbeiten muss, dann kann ich eher einschätzen, welche Schwächen er hat. Und wenn ein Fehler auftritt und ich die Art zu denken der Person kenne, die den Code geschrieben hat, dann weiß ich eher, in welche Richtung ich denken muss, um den bug zu fixen.“

Code ist niemals eindeutig, es gibt stets eine Vielzahl von Möglichkeiten, ein und dasselbe Objekt symbolisch zu repräsentieren. Es gibt eleganten Code, bodenständigen Code, genialen Code – je nach Persönlichkeit und Geisteshaltung des jeweiligen Experten. Problematisch wird dies im Fall der Änderung von Code innerhalb eines Themas, das in einem interdependenten System, wie es das Product-Help-System es ist, Fehler in den Themen anderer hervorrufen kann. In diesem Fall will man und braucht man die Information hinter dem Code – durch narrativen Austausch. Auf diesen Austausch verwenden die Experten bei ChipTech-OI einen Großteil ihrer Zeit und sind daher der festen Überzeugung, dass jede Persönlichkeit ihre Daseinsberechtigung hat – so lange sie nur einen Habitus der Expertise an den Tag legt. Ansonsten aber kann ein Ingenieur sein wie er möchte, denn schließlich hat jede Art von Code ihre Vor- und Nachteile (und Code ist ja Resultat der Persönlichkeit).

Dementsprechend unerwünscht ist eine digitale Persönlichkeit, die diese Pluralität der Gruppe und inneren Freigeist nicht zulässt. Das siehst Du zu digital oder Du denkst zu digital lautet die übliche Ausdrucksweise für eine häufige Kritik an unerfahrenen Mitarbeitern. Die Empfehlung an sie lautet dann etwa: Du musst auch die Befindlichkeiten berücksichtigen oder Du musst auch die Historie berücksichtigen. Diese Kritik ist berechtigt: Denn um selbst als Experte arbeiten zu können, muss man in der Tat die individuelle Kombination aus Erfahrung, Wissen und Persönlichkeit der übrigen Experten innerhalb des interdependenten, fehleranfälligen Systems kennen. Man muss also wissen, wie der andere tickt, ein Gefühl für die Lage bekommen, verstehen, was die Aussage bedeutet – alles Ausdrücke dafür, die Art zu denken einer Person und somit deren Expertise abfragen zu wollen.

selbst und ihre Vergangenheit im Diskurs mit Anderen immer wieder neu (Bruner 2002: 65-66), Vaara 2002). Narrative lösen inhärente kulturelle Konflikte, in diesem Fall den zwischen Kontrolle und Fehler, und geben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihren Sinn (Bruner 2002:93). Wohlvertraute Geschichten wärmen mit Geborgenheit (Bruner 2002: 90-91).

Narrative lassen Raum für Neuinterpretation und sichern gleichzeitig soziale Kontrolle (Mumby 1993, Denning 2005). Sie haben einerseits lediglich das Ziel, eine im Hier und Jetzt plausible Erklärung zu liefern und nicht etwa ewiggültige Wahrheiten, andererseits wahren sie im Augenblick stets den Schein, ,wirklich’ wahr zu sein (Bruner 2002:5). Durch diese Wandelbarkeit haben Narrative das Potenzial, Sinn zu machen aus scheinbar sinnlosen, widersprüchlichen oder problematischen Situationen. Damit sind sind nicht nur perfekt geeignet, unerklärliche technische Fehler begreifbar zu machen, sondern sie sind über die Technik hinaus das ideale Vehikel des Sinnmachens in Unternehmen, insbesondere wenn Unternehmens-Anspruch (etwa Marktführerschaft, Gewinnmaximierung, verordnete Firmenkultur) und Alltagswirklichkeit der Mitarbeiter (etwa Verluste am Markt, tatsächliche Arbeitspraxis) weit auseinander klaffen (Bruner 2002:5). Gerade organisatorisches Scheitern und Erfolg werden in diesem Sinne narrativ ausgehandelt und bewältigt (Vaara 2002).

Folgerichtig bleibt es auch bei ChipTech-OI in Großstadt nicht bei technischen Narrativen allein: Diese werden vielmehr stets eingerahmt durch Narrative über die Historie, den gemeinsamen Niedergang und das schlechte Management, die im Sinne von invented traditions dazu dienen, die eigene Vergangenheit und Situation in der heutigen Welt kollektiv begreifbar zu machen – siehe die Organisations-Saga des Unternehmens. Eine allgegenwärtige Antwort auf die Frage, warum denn eine Situation so sei, wie sie heute ist (beispielsweise: warum ein Mitarbeiter an dieser Position sei, warum gerade diese Personen zusammen in einem Büro säßen, warum denn die Büros so aussähen, wie sie aussehen usw.), ist die Aussage: Das ist historisch gewachsen, gefolgt von einer ausgedehnten Erzählung über eben jene Historie als Erklärung des Ist-Zustandes Als Beispiel dafür, wie Dinge bei ChipTech-OI historisch wachsen, soll folgende Geschichte einer Klapperschlange dienen.

Als ich anfing, bei ChipTech-OI zu arbeiten, befand sich in dem Büro, in das ich einzog, eine Klapperschlange. Es handelte sich um ein etwa anderthalb Meter langes, leicht eingestaubtes Stofftier, das an mehreren Stellen sorgfältig mit Paketschnur an Haken unter der Decke aufgehängt worden war. Das Tier war solcherart befestigt worden – offenbar liebevoll – dass es sich wild-dynamisch um einen Zimmerbaum rankte und gelegentlich im Wind klapperte.

Zunächst nahm ich die Schlange nicht weiter zur Kenntnis.

Gut ein Jahr später stand ein Umzug in neue Gebäude an: Sämtliche persönlichen Habseligkeiten waren in Kisten zu verpacken. Es stellte sich also die Frage, was zu tun sei mit der Klapperschlange. Wem sie eigentlich gehöre, wollte ich von meinem Zimmerkollegen Z wissen. „Ich glaube, die hat mal [Person A] gehört“, meinte er und fing an, mir die Geschichte dieser Person – und somit auch seine eigene – zu erzählen. Er sagte:

„Also, der A, der hat, glaube ich, ein Jahr vor mir bei Maybeck angefangen. Zuerst hat er in [Gruppe x] gearbeitet, und ich war in B. Aber dann hat [Manager B] gewechselt, und [Manager C] kam in die Firma und dann wurden wir reorganisiert und die beiden Gruppen zusammengelegt. Da hat der A dann [Thema y] gemacht und ich habe [Thema z] gemacht, und da haben wir dann auch [Person D] kennengelernt, und ein paar Monate später (…) Und dann ist der A zu [anderem Unternehmen] gegangen, der macht jetzt dort [ein anderes Thema].“

Ich nahm die Schlange mit und hängte sie im neuen Büro an meine Schreibtischlampe. Oft wurde ich gefragt, was die Schlange an der Lampe denn zu bedeuten hätte, und erzählte nun selbst deren Geschichte und meine Beziehung zu ihr. Einige Monate später wurde ich aufgrund einer Re-Organisation einer anderen Gruppe zugeordnet, zog erneut um und nahm die Schlange mit. Einer meiner neuen Nachbarn war Mitarbeiter M, auch er fragte mich nach der Schlange. Es stellte sich heraus, dass M [Person A] zufällig kannte und daher wusste, dass A vor kurzem zu ChipTech-OI zurückgekehrt war. Eines Tages ging schleßlich A höchstpersönlich an unserem Büro vorbei (was ich allerdings nicht bemerkte, da ich ja nicht wusste, wie A aussah). Mitarbeiter M erkannte A, hielt ihn an und fragte ihn nach der Schlange. Worauf A sagte:

„Nein, die hat nicht mir gehört. Die hat eigentlich mal [Person E] gehört, mit dem saß ich damals in einem Büro, als wir noch bei Maybeck waren. Der hat dann […Thema

…Abteilung…], und ich hab’ dann […Thema…Abteilung…] und schließlich ist er dann zu […Abteilung…] und macht da jetzt […Thema…] (…), und heute ist er (…).“

Die gesamte Erklärung nahm etwa fünf Minuten in Anspruch, schien aber M und A ungemein zu verbinden. Es folgte ein etwa dreißig minütiges Gespräch über Werdegänge von Personen und Themen im Unternehmen. Im Anschluss verabredete man sich zum Mittagessen.

Durch derartige Erzählungen erklären ChipTech-OI-Mitarbeiter einander also, wer sie sind und wohin sie gehen. Ihre Erzählungen beinhalten stets die Elemente technisches Thema und organisatorische Einordnung (die die Position des Einzelnen im technischen System und im Unternehmen bestimmen) sowie das relevante Netzwerk einer Person. Der erklärende Rückgriff beginnt mit dem Eintritt einer Person in die Gemeinschaft, idealerweise also im Goldenen Zeitalter (siehe Kapitel 3.1). Innerhalb der technischen Experten-Gemeinschaft

fungieren diese historischen Erzählungen als Rahmen für technische Erzählungen und sind notwendiger Bestandteil zur Konstruktion und Aufrechterhaltung eben dieser Gemeinsschaft.

Gleichzeitig verleihen Informationen Handlungsmacht, ein Punkt, den Kapitel 3.4 beleuchtet.