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Bedeutung von Bangalore im Großstadt-Kontext

4. Ramp-up Bangalore: Aufbau eines Standorts

4.2 Bedeutung von Bangalore im Großstadt-Kontext

Der Betriebsrat liest eine weitere Frage vor. Sie lautet: „Wie lange überleben wir noch?“

CEO: „Wir überleben noch einen weiteren Zyklus126 (Pause) – wenn wir so weitermachen.

Aber dafür sind wir ja alle angetreten, dass wir nicht so weitermachen.“

B-Rat: „Ihnen, den Mitarbeitern, vielen Dank für ihren Mut, und Ihnen, Herr Dr.

[Vorstandsvorsitzender], vielen Dank für Ihre Offenheit. Ich glaube, wir haben einen intensiven Eindruck gewonnen, wie Sie führen werden und was auf uns zukommt.“127

Durch den von Wiendahl beschriebenen Prozess der Segmentierung und Differenzierung sind die meisten Gruppen bei OI überhaupt erst entstanden: Noch vor acht Jahren hatten die beiden Haupt-Abteilungen von OI, mit denen sich diese Arbeit befasst, jeweils weniger als 20 Mitarbeiter, alle in Großstadt. Im Jahr 2 der Feldforschung arbeiten in beiden Haupt-Abteilungen mit einer Vielzahl von Gruppen rund 230 Mitarbeiter an vier Standorten weltweit, die durch diverse Stabsstellen unterstützt werden. Zusätzlich haben sich neue Abteilungen und Gruppen gebildet. Ein Manager sagt Mitte, Jahr 2:

„Das ist Wahnsinn, wenn man zurückschaut: Früher bestand [die ganze Gruppe X] nur aus zwei Leuten, die haben von vorne bis hinten alles gemacht, von [Aufgabe A] bis [Aufgabe Z]. Heute sind alleine vier Leute nur für [Aufgabe A] zuständig. Die Technologie ist immer komplexer geworden. Früher hat man den Chip designed und nur zwei Spannungen angelegt, und ihn nur einmal unter hoher und einmal unter niedriger Belastung getestet. Heutzutage muss man sich das viel genauer anschauen, damit der yield [der Ertrag, A.d.V] auch stimmt. Oder die Größe: Früher, wenn eine neue Technologie kam, wenn die Chips wieder kleiner werden mussten, dann gab es bei [Gruppe Y] [Mitarbeiter M], der war der absolute Experte für so was, der hat einfach ein altes Layout genommen und geshrinked [verkleinert, A.d.V.], und das hat funktioniert. Undenkbar wäre so was heute, heute muss man viel genauer arbeiten.“

Ein weiterer Manager von ChipTech-OI, seit 27 Jahren bei der Firma, schildert seine technische Vergangenheit Mitte Jahr 2 in ähnlicher Weise. Er sagt:

„Früher war man als Informatiker oder E-Techniker der Held. Da konnte man noch wirklich Experte sein in einem bestimmten Feld. Dieser Zeit trauern die Leute heute noch hinterher. Denn inzwischen ist das Arbeitsumfeld so komplex geworden, dass man gar nicht mehr Experte sein kann, selbst wenn man es wollte.“

Wahres Expertentum, Vorhersagbarkeit möglicher Fehler und somit Fehlerlosigkeit zu erreichen, wird so zum fast aussichtslosen Unterfangen. Oder, wie Vinod, ein Großstadt-Ingenieur indischer Nationalität, sagt: „The world has become unpredictable. The more you corner nature, the more uncertain it becomes.” Unsicherheit und Fehler, die Erzfeinde des Experten, drohen an jeder Ecke. Eine weit verbreitete Kritik an den eigenen Arbeitsbedingungen ist die Aussage: Bei uns weiß keiner, was der andere tut als Begründung dafür, dass Projekte mangels Absprachen zu einem schlechten Ergebnis führten oder als Beweis der Ingenieure für die Unfähigkeit des Managements. Ein Ingenieur sagt Mitte Jahr 2:

„Also die Realität bei ChipTech ist: Es sitzen vier Leute in einem Büro, jeder arbeitet an seinem Schreibtisch vor sich hin, und keiner weiß, was der andere tut. Durch Indien wird das besser. Diese ganze Auslagerung nach Asien ist eigentlich nur ein Symptom für etwas Größeres, nämlich dass unsere Arbeit immer unbeherrschbarer wird.“

Gerade ältere Mitarbeiter empfinden diese Situation als Verlust von Kontrolle und Expertise.

Ein alt gedienter Ingenieur, seit 21 Jahren bei der Firma, sagt im Frühjahr Jahr 2:

„Früher, da waren die Experten wirklich noch Experten. Da warst Du für ein Tool verantwortlich und kanntest das in- und auswendig. Damals waren die Sachen auch noch nicht so komplex, da konntest Du Dein Thema auch noch beherrschen. Heute hast Du dazu ja gar keine Chance mehr, das schaffst Du einfach nicht mehr. Heute sieht jeder nur noch sein Teilgebiet und ist ganz tief in der Materie und macht das sicherlich auch gut, aber man hat überhaupt keinen Überblick mehr. Man sieht auch gar nicht mehr, wo das eigentlich hingeht, was man macht. Früher, da ist man wirklich neben dem Kunden gesessen und ist alles mit ihm durchgegangen und hat gemeinsam Lösungen für seine Probleme entwickelt. Heute ist das alles viel komplexer, mit den ganzen Prozessen drumherum. Und so passieren natürlich Fehler, und dann beschwert sich der Kunde. Früher gab es den Fehler quasi nicht, der war nur ein Schritt auf dem Weg zur Lösung, die man gemeinsam mit dem Kunden entwickelt hat. Heute musst Du auf einmal cross-site mit Indien oder China zusammenarbeiten.“

Ein weiterer Ingenieur, ebenfalls schon lange dabei, sagt:

„Heutzutage muss immer alles schnell schnell gehen. Wirklich gute technische Arbeit kann man ja schon gar nicht mehr leisten. Immer ist einem der Projekt-Manager im Nacken und will die Lösung schon haben, bevor er überhaupt die Anfrage stellt. Das war früher anders, früher hat man noch die Chance gehabt, wirklich gute technische Arbeit abzuliefern. Aber die Expertise zählt ja heutzutage nichts mehr.“

Die Auslagerung nach Asien, vor allem nach China und Indien, vermischt sich so mit der zunehmenden Unmöglichkeit, das technisch immer komplexere System noch beherrschen zu können. Dementsprechend verhalten war die Reaktion der Mitarbeiter, als das Management den Aufbau des Standorts Bangalore verkündete. Dieser Prozess – der vor meiner Zeit begann – wird mir im Herbst Jahr 1 wie folgt beschrieben (ich zitiere einen Ingenieur):

„Das kam plötzlich von oben, da hieß es, es gibt da neue Inder. Und auf einmal mussten wir auslagern und mit denen zusammenarbeiten.“

Wie die bereits geschilderte Günstige Verbesserung war die Auslagerung nach Bangalore eine Top-Management-Strategie, die mittels der üblichen Prinzipien nach unten gebrochen wurde (siehe Kapitel 3.3). Um dem mittleren Management diese Strategie schmackhaft zu machen, wurde der headcount-Aufbau incentiviert, das heißt: Für die Einstellung neuer Mitarbeiter in Bangalore gemäß den Vorgaben im jeweiligen Geschäftsjahr gab es Prämien. Dies wurde unter Ingenieuren als realitätsfern abgelehnt. Der soeben bereits zitierte Ingenieur sagt:

„Es geht ja nicht darum, schnell schnell jemanden einzustellen, sondern der muss die Arbeit ja auch machen können. Doch das interessiert das Management ja mal wieder nicht – die schauen doch immer nur auf den headcount.“

Die Aussage für das Management zählt nur der headcount ist eine gängige bei ChipTech und wird, sobald passend, bereitwillig und häufig angebracht. Aus Sicht der Mitarbeiter ist sie ein Symbol für das realitätsferne Handeln des Managements, denn selbstverständlich werden headcount-Tabellen in Excel geführt und in Powerpoint präsentiert. Ob das technisch Sinn macht oder nicht, ob die gestellte Aufgabe überhaupt noch zu bewältigen ist, interessiert das Management aus Ingenieurssicht nicht.

Insgesamt waren die Klagen der Ingenieure über „die Unfähigkeit des Managements, den Standort Bangalore aufzubauen“, gerade in der Anfangsphase meiner Tätigkeit, also Ende Jahr 1 bis Mitte Jahr 2, lang und zahlreich. Nicht zuletzt dienten sie der Bewältigung der eigenen Angst, der neuen Lage vielleicht nicht mehr Herr werden zu können. Außerdem stand aus Sicht vieler Großstadt-Mitarbeiter die eigene Existenz auf dem Spiel. Auch der bereits zweimal zitierte Ingenieur sagt im Anschluss an seine obige Aussage:

„Was hinzukommt: Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Da ist natürlich die Angst: Was machen wir dann hier, wenn alles ausgelagert ist? Arbeite ich meine Nachfolger ein?“

Ein anderer Ingenieur sagt im Herbst Jahr 1:

„Im Moment läuft es technisch nicht so gut, zu vieles ist neu. Die Inder sind noch jung, noch nicht so gut – aber wir waren unter Zeitdruck und haben sie gleich einbinden müssen. Also ist es zu einem schlechteren Produkt gekommen, wie immer, wenn jemand neu ist. Dabei ist es egal, wer neu ist, das wäre mit jedem passiert, ob das jetzt ein Inder ist oder nicht. Schuld hat das Management, der Zwang von oben ist schuld: Die haben schnell, schnell was Neues haben wollen. Nicht das Indische ist das Problem, sondern der Abstand. Es ist schwierig, Arbeitspakete aufzuteilen.“

Die Angst, die zunehmende technische Komplexität und somit Fehleranfälligkeit des Systems sowie etwaige technische Probleme aufgrund der Neu-Aufteilung von Arbeit wurde also selten auf ,die Inder’ projiziert; stattdessen hielt man zumeist an der gewohnten Dichotomie Management – Ingenieure fest. Ein weiterer Ingenieur meint ebenfalls:

„Mich stören nicht die Inder, sondern wie unsere Manager die die ganze Zeit anhimmeln. Wir haben hier in Großstadt die ganze Zeit über perfekte Arbeit geleistet, und auf einmal sind wir zu teuer. Und ich, ich muss plötzlich Leute in Bangalore leiten und habe nichts mehr mit Implementierung zu tun. Was machen wir dann hier, wenn die Inder eingearbeitet sind? Es heißt, die machen dann da die Implementierung, und wir machen hier Methodik. Aber ich mag die Arbeit, die ich früher gemacht habe, ich bin Experte darin, ich will nicht wieder von vorne anfangen müssen. Das ist jetzt einfach eine große Veränderung. Da bist du als Ingenieur machtlos dagegen.“

Implementierung bezeichnet aus Ingenieurssicht stupides Abarbeiten von Aufgaben.

Methodik oder Spezifikation meint das ,Erfinden’ neuer technischer Lösungen, ist also das

eigentlich Reizvolle von Ingenieursarbeit. Erstaunlich ist daher, dass der zitierte Ingenieur diese positive Aufgabe nun ablehnt. Vermutlich tut er dies aus Angst davor, das Thema zu wechseln und so seinen Expertenstatus zu verlieren. Doch auch das Management, das von Seiten der Ingenieure als Verursacher des Niedergangs und der unberechenbaren Situation erlebt wird, kämpft mit der Unsicherheit. Ein ChipTech-OI-Manager (seit 23 Jahren bei der Firma) sagt Anfang Jahr 2:

„Manchmal, wenn man so zurückschaut, dann ist es schon unglaublich, was sich alles verändert hat. Da war die Welt noch ganz anders. Das hätte man früher, zu Maybeck-Zeiten, nie gedacht, dass man so stark mit China, mit Indien zusammenarbeitet. Und früher, das ist noch gar nicht so lange her, das ist vielleicht zehn Jahre her. Meiner Meinung nach musste das erst verdaut werden. Eigentlich muss das immer noch verdaut werden: Die ganze Management-Kompetenz, die Führungsqualitäten – woher soll man die denn auf einmal haben? Gleichzeitig sitzt immer die Angst im Nacken:

,Wie lange gibt es uns denn noch?’ Naja, vielleicht nicht ganz. Aber die Risiken sind jetzt deutlicher. [Der ehemalige CEO], der hat damals noch eine Riesen-Show gemacht: Indien, China, neue Märkte, die anderen sind auch schon dort, nun müssen wir auch hin, um wettbewerbsfähig zu bleiben und so weiter.“

Die Personalberaterin von ChipTech-OI meint dazu Ende Jahr 1:

„Für die Manager ist die Situation nicht leicht. Ständig müssen sie etwas dazulernen.

[Manager X] hat mir beispielsweise neulich gesagt: ,Das ist schon hart – auf einmal soll ich plötzlich auf Englisch führen, Leute an anderen Standorten. Ständig sind neue Kompetenzen gefragt.’ Und so geht es ja allen: Ständig müssen sie neue Seminare besuchen, was vor zwei Jahren noch genug war, das reicht heute schon nicht mehr.“

Ihre Schlussfolgerung lautet: „Die Manager brauchen mehr social skills, vor allem noch mehr interkulturelle Kompetenzen – auch wenn es schwer fällt.“ Dieser Meinung ist auch der Leiter der ChipTech-Academy, der internen Weiterbildungs-Einrichtung: „Gerade im Bereich ,Interkulturelle Trainings’ müssen wir noch stärker werden.“

Aus dem Geschilderten wird deutlich, wie sehr der Standort Bangalore technische und existenzielle Ängste bei Ingenieuren und Managern in Großstadt hervorrief. Hinzu kamen Re-Organisationen, mit denen in den Jahren 1 und 2 schlussendlich alle ChipTech-OI-Mitarbeiter kämpften (Kapitel 3.3) – bei gleichzeitig immer neuen Anforderungen und ,Trainings’ von außen. Der Ramp-up Bangalore wurde so in seiner Anfangsphase zum Sinnbild einer immer komplexer werdenden Umwelt, der man selbst als Experte kaum noch Herr werden kann und die in engem Zusammenhang steht mit der invented tradition des Niedergangs und der Organisations-Saga der Maybeck AG. Umso wichtiger werden in einer solchen Welt die Aufrechterhaltung von Expertentum und das Festhalten am eigenen Selbstbild.