• Keine Ergebnisse gefunden

Vier historische und konnotationsgeschichtliche Bedeutungskerne des Bildungsbegriffs nach Günther Dohmendes Bildungsbegriffs nach Günther Dohmen

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 57-61)

innewohnenden emanzipatorischen Bedeutungskerne

2.1 Zum Gegenstandsbereich des Bildungsbegriffs

2.1.2 Vier historische und konnotationsgeschichtliche Bedeutungskerne des Bildungsbegriffs nach Günther Dohmendes Bildungsbegriffs nach Günther Dohmen

Günther Dohmen (1964) benennt vier zentrale geschichtlich-genealogische Bedeutungs- und Konnotationsschwerpunkte des Bildungsbegriffs, die auch heute noch geeignet sind, eine historische Skizze des Bildungsbegriffs zusam-menfassend abzurunden. Im Einzelnen werden von ihm unterschieden:

– Der mystisch-religiöse Bildungsbegriff –

Diese Bedeutungsdimension von Bildung wurzelt wie gesehen in der spätmit-telalterlichen Mystik des 14. Jahrhunderts bei Meister Eckhart und bezeichnet den Prozess einer Rückwendung der Seele zu Gott, um hierdurch zu dessen Ebenbild emporzusteigen. Bildung bezeichnet in diesem theologischen Sinne somit eine Art „Bild-Werdung“; dort, „wo etwas Geistig-Inneres zum Bild wird, taucht in diesem frühen Sprachgebrauch der Begriff ‚Bildung‘ auf“ (Dohmen 2002, 9); ausführlicher gesprochen:

„Die Grundbedeutung des Begriffs ‚Bildung‘ ist primär die der Bildwerdung von etwas Geistig-Innerem. Das Wort bezeichnet sekundär dann auch das Ergebnis dieses Bildwerdungsprozesses. (. . .) Das Göttlich-Ursprüngliche im Menschen, das erweckt und ausgebildet werden soll, wird religiös meist als Imago Dei, als ein göttliches Urbild gefaßt, das (. . .) leitbildhaft die

‚Bildung‘ des Menschen bestimmt“ (Dohmen 1964, 218).

Bildung steht demgemäß für ein „neues, vollkommeneres Werden aus dem reinen Geistgrund des Lebens“ (ebd.). In einem neuplatonischen Sinne, in welchem Geist bzw. Geistigkeit als göttliche Emanation, als Ableitung aus einem göttlich-perfekten Idealbild, verstanden wird, meint Bildung in abstrakteren Worten das zum Abbild-Werden einer umfassend-transzendenten Geistseele. Dieses

religiös und mystisch geprägte Verständnis von Bildung fasst Günther Dohmen (1964, 215) so zusammen:

„Dieser Bildungsbegriff erhielt sein christliches Gepräge durch die mysti-sche Ausrichtung auf die reine Gotteserkenntnis und auf Rückwendung der Geistseele des Menschen zu ihrem Schöpfer. Das ist ein Prozeß, der als ‚Bildung‘ bezeichnet werden konnte, weil er im wesentlichen als ei-ne ei-neue, vertiefte, bewußte Bildwerdung des ursprünglichen, spirituellen Gottesbildes im Seelengrund des Menschen verstanden wurde. (. . .) Das ist die religiöse Grundform der Idee einer reinen Geistesbildung, die sich in völliger Abgeschiedenheit vom irdischen Leben und sinnlich-konkreten Handeln des Menschen abspielt“.

Der nicht zu Unrecht viel kritisierte, gelegentlich stark übertrieben ausgepräg-te Innerlichkeitsbezug von Bildung stößt hier auf seine ideengeschichtlichen Ursprünge. Günther Dohmen kommentiert diesbezüglich auf provokante Weise den oft idealistisch-postmaterialistischen Charakter von Bildung bzw. deren Nicht-Kompatibilität mit den Anforderungen und Verwertungschancen ei-ner Geldökonomie. Hierfür wird die später noch ausführlich im Fokus der Abhandlungen stehende Problematik einer Dichotomie zweckfreier Allgemein-bildung versus verwertungsbezogener SpezialAllgemein-bildung bzw. handlungsbezogener Kompetenzen indirekt aufgegriffen (vgl. hierzu noch ausführlich 10.1.): „‚Bil-dung‘ kann in diesem Zusammenhang etwas sarkastisch beschrieben werden als das, was man braucht, um auf das Geld verzichten zu können, das man mit ihr nicht verdienen kann“ (Dohmen 2002, 10). Nicht unerwähnt blei-ben sollte, dass in diesem ursprünglichsten Verständnis von Bildung einem absichtsvoll-förderlichen Bemühen von pädagogischer Seite praktisch noch kein nennenswerter Stellenwert eingeräumt wurde, verfügt das Bildungserlebnis im spirituell-mystisch-religiösen Sinne doch letztlich über einen Erweckungscha-rakter und entzieht sich so jeder pädagogischen Verfügbarkeit (vgl. Dohmen 1964, 219; zum mystisch-religiösen Bildungsbegriff vgl. ausführlich Dohmen 1964, 35–58).

– Der organologische Bildungsbegriff –

Diese „säkularisierte Bedeutungsschicht“ (Dohmen 2002, 10) von Bildung hingegen fasst selbige als naturgemäßen und organischen Wachstumsprozess, als eine natürliche, dem Menschen immanente Entwicklung und Ausprägung innerer Anlagen und geistiger Kapazitäten im Sinne der aristotelischen

„Ente-lechie“, zu verstehen als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Reetz 1999, 44). Eine solche Sicht auf Bildung kommt erneut im Naturglauben der Renaissance zum Ausdruck (etwa bei Paracelsus), findet aber auch in der Aufklärung wichtige Anhänger (Rousseau, Goethe), ist letztlich jedoch speziell im Neuhumanismus verankert. Günther Dohmen (1964, 215) erläutert: „Aus dem neuen Glauben des Menschen an die inneren Bildungskräfte (. . .) ergab sich ein Rückgang des Menschen auf die eigenen Naturanlagen als Grundlage für einen organologischen Begriff der menschlichen ‚Bildung‘“. Dabei steuert das organologische Bildungsverständnis auch einen wichtigen Aspekt für das gegenwärtig hochnotwendig scheinende Anliegen einer Verteidigung eines um-fassenden und emanzipatorischen Verständnisses von Bildung bei: „Der Mensch ist nach dieser Bildungsauffassung niemals ein Mittel zu irgendeinem gesell-schaftlichen, wirtgesell-schaftlichen, politischen Zweck, sondern er ist Selbstzweck, seine reine Selbstverwirklichung ist der höchste Zweck der ‚Bildung‘“ (Dohmen 2002, 10; vgl. ausführlicher Dohmen 1964, 68–78).

– Der pädagogisch-aufklärerische Bildungsbegriff –

Seinen Höhepunkt erreicht das Verständnis von und die Wertschätzung für Bil-dung im Zeitalter der Aufklärung, in welchem der Mensch als ein Vernunftwesen wahrgenommen wird. Er wird als ein zur vernunftgemäßen Aufklärung über die Struktur der Welt ebenso wie zur Einsicht in die Notwendigkeit moralischen Handelns befähigtes Individuum begriffen, wobei das Potential der Vernunft als gezielt entwickel- und förderbar gilt. In solch dezidiert aufklärerischem Kontext gewinnt der Bildungsbegriff auch eine stärker pädagogische Konnotation, und zwar im transitiven Sinne der Bildung eines zu Erziehenden durch seinen Erzieher, wie Dohmen (2002, 11) erklärt: „Der Erzieher soll seine Zöglinge nach den von der Vernunft erkannten Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu brauchbaren Menschen und vernünftigen Bürgern ‚bilden‘“

(vgl. ausführlicher Dohmen 1965). Es kann und soll hier bereits festgehalten werden, dass sich das im weiteren Verlauf der Ausführungen noch vertiefend zu entwickelnde Verständnis von Bildung, das letztlich für eine Gegenüberstellung eines ökonomistisch-funktionalistisch enggeführten Verständnisses von Bildung bzw. Kompetenz sowie der Verdeutlichung des Stellenwerts von Reflexivität für das Gelingen von Bildungsprozessen eignet, in höchstem Maße an diesem und am vorangehenden organologischen Bildungsbegriff orientiert.

– Der kulturpädagogische Bildungsbegriff –

Die vierte und letzte der von Günther Dohmen angeführten historischen Bil-dungsverständnisse ist jene eher kulturpädagogisch inspirierte Bildungskonnota-tion, welche sich im Zusammenhang der Kulturpädagogik des 20. Jahrhunderts herausbildet, z. B. bei Eduard Spranger. Hierbei wurde, einem durchaus mo-dernen Verständnis entsprechend, Bildung nicht mehr primär als Ergebnis pädagogisch-hierarchischer (auf der Educans-Educandus-Beziehung gründen-der) Bemühungen interpretiert, vielmehr wird Bildung jetzt als Prozess ver-standen, der vom Erzieher zwar nicht mehr direkt bewirkt wird, aber sehr wohl immerhin durch die Bereitstellung hierfür geeigneter Rahmenbedingun-gen und Impulse in Form „werthaltiger Kulturzeugnisse“ (Dohmen 2002, 11) gefördert werden kann. Dohmen (ebd.) erläutert diese zeitgemäßere Bedeu-tungsdimension von Bildung zum Abschluss dieser historischen Skizze wie folgt:

„Durch die Konfrontation und Auseinandersetzung mit bestimmten hö-heren Werten, wie sie in hervorragenden Kulturgütern – die damit zu ausgewählten ‚Bildungsgütern‘ werden – manifestiert sind, sollen die ent-sprechenden wertvollen Anlagen im Menschen gezielt geweckt werden.

Die ‚Bildwerdung‘ entsprechender Anlagen soll dann zu einer kultivierten wertbezogenen Lebensform führen“.

Selbstverständlich sind Dohmens vier geschichtliche Bedeutungsschwerpunkte von Bildung nicht alternativlos. Bei Reinhart Koselleck etwa finden sich, indes in hohem Maße analog zu Dohmen, deren drei Etappen einer Begriffsgeschichte von Bildung zunächst: die theologisch geprägte Epoche, sodann ein aufkläreri-sches Verständnis und schließlich eine moderne, überwiegend selbstreflexive Sicht auf Bildung (vgl. Koselleck 2006, 114; Lerch 2010, 130), für die letztlich auch hier noch entschieden plädiert werden soll (vgl. Kapitel III). Bis dahin bedarf es aber noch eingehenderer Ergründungen, was unter „Bildung“ eigent-lich dezidiert zu verstehen ist. Diesbezügeigent-lich ist vorab aber ganz grundsätzeigent-lich erst einmal die Frage zu beantworten, inwieweit dieser Kernbegriff des Päd-agogischen überhaupt einer erschöpfenden Definition zugänglich ist oder ob er nicht vielmehr sachnotwendig im Diffusen bleiben muss.

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 57-61)