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Exkurs: Normen und Werte emanzipatorischer Menschenbildung

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 134-142)

3 Spezifizierung unverzichtbarer Zielsetzungen und Inhaltsdimensionen eines nicht-zweckfunktional

3.1.5 Exkurs: Normen und Werte emanzipatorischer Menschenbildung

„1 Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.

2 Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.

3 (. . .)“.

(Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948)

„Meine Herren, allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, dass sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkennen und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können;

jedem die Möglichkeit zu sichern, seine berufliche Geschicklichkeit zu vervollkommnen, sich für gesellschaftliche Funktionen vorzubereiten, zu denen berufen zu werden er berechtigt ist, den ganzen Umfang seiner Talente, die er von der Natur empfangen hat, zu entfalten und dadurch unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die politische Gleichheit, die das Gesetz als berechtigt anerkannt hat, zu einer wirklichen zu machen: das muß das erste Ziel eines nationalen Unterrichtswesens sein; (. . .)“32

(Entwurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentlichen

Unterrichtswesens, vom Marquis de Condorcet der französischen Nationalversammlung im Namen des Komitees für öffentlichen Unterricht am 20. und 21. April 1792 vorgelegt; zit.

nach Reinalter 2006, 26933)

Solche durch und durch humanistischen, universelle Gültigkeit bean-spruchenden Normen und Werte wie sie sich beispielshaft in den vorangehend zitierten historischen Texten finden und denen sich jedwede Menschenbildung, die diesem Anspruch und Begriff gerecht werden will, verpflichtet weiß (sowohl in theoretischer Vermittlung als auch in praktischem Handeln), finden sich auch in anderen wichtigen Menschenrechtsdokumenten der Geschichte konkret benannt: so etwa in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung

(1776), der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), der eben angeführten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948), der Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950) oder auch in den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966).34

Über die darin z. T. konkret angeführten ethischen und moralischen Forde-rungen und Prinzipien hinaus lässt sich die normative, auf Werte bezogene Botschaft einer den Prinzipien Aufklärung und Emanzipation des Menschen verpflichteten Bildung aber auch grundsätzlicher formulieren. Immanuel Kants Antwort auf die Frage, „Was soll ich tun?“, auf die Frage also nach den allgemein-verbindlichen Verhaltensvorschriften, denen Menschen im Interesse einer Förderung humanerer Verhältnisse vernünftigerweise folgen müssten, wird in seinem berühmtenKategorischen Imperativ bekanntlich so formuliert:

„Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prin-zip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“ (R. Eisler: Kant-Lexikon, Hildesheim/New York 1972, 267–273). Jedes eigene Handeln hat folglich so auszufallen, dass die ihm zugrundeliegenden Werte und Normen zugleich auch von allen anderen geteilt werden können und sich somit als Grundlage einer für alle akzeptablen Werteordnung und grundlegenden Gesetzgebung eignen.

Anders gesagt: Die eigene Freiheit endet dort, wo die Rechte und Freiheiten anderer beschnitten werden; Freiheit bedeutet demzufolge, all das tun (und lassen) zu dürfen, was keinem anderen schadet. Diese Überzeugung fand Ein-gang in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Anschluss an die Französische Revolution von 1789. Dort heißt es in Artikel 4: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Aus-übung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden“. Dieser normative Kodex wird gelegentlich als die „Goldene Regel“ bezeichnet, de-ren Kernaussage sich nicht zufällig in den Verhaltensnormen praktisch aller Weltreligionen wiederfindet.35 In einem erweiterten Sinn fordert Immanuel Kant zudem: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (zit. nach Sperling 2004, 217). Mitmenschen, so also die Forderung, dürften nie lediglich als Mittel zu irgendeinem Zweck (z. B.

ökonomischer Gewinn) be- und vernutzt und betrachtet werden, sondern sind

vielmehr immer auch alsSelbstzweck, alsWert an und für sich wertzuschätzen.

Theodor W. Adorno hat Kants Vorschrift nach der Erfahrung des Zivilisations-bruchs in Form des Holocaust abgewandelt, gewissermaßen aktualisiert und konkretisiert. Er fordert, unser „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno 1982, 358).

An anderer Stelle bestimmt Adorno (1969b, 84; zit. nach Hoffmann 2007, 60) anknüpfend hieran als Leitziel des Bildungssystems, auf „die Entbarbarisierung der Menschheit hinzuarbeiten (. . .)“. Bei Karl Marx findet sich analog hierzu eine sehr umfassende und eindringliche Aufforderung zur Humanisierung der Verhältnisse, der sich jede gesellschaftskritische, an Emanzipation orientierte Bildungsbemühung anzuschließen hat, nämlich die, „alle Verhältnisse umzu-werfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx-Engels-Werke [MEW] 1:385). An anderer Stelle benennt Marx als Ziel gesellschaftlich-emanzipatorischen Fortgangs, der natürlich immer Bildung voraussetzt und zugleich im bestmöglichsten Sinne ermöglicht, einen „Verein freier Menschen“ als einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“

(MEW 4:482).

Ein regelrechtes Potpourrie an hierzu anschlussfähigen allgemein-humanistischen Normen und Werten führt Hartmut von Hentig (1996, 96) im Rahmen seines Essays „Bildung“ als Zielbestimmung derselben an (siehe auch bereits 2.2.3.5.): Bildung müsse „ein Maß für Menschlichkeit, einen An-spruch auf Glück, die Offenheit von Geist und Seele, Selbstgewißheit durch Selbstprüfung haben, nein, nicht etwas haben, sondern etwassein: menschlich, glücksfähig, geöffnet, selbstbewußt, weil weltbewußt, vernünftig und vernunft-kritisch“. Humane, auf der Sozialität menschlicher Gesellschaft gründende Verhältnisse bedürfen politischer Normen und Wertmuster, weil individuelle Emanzipation letztlich nur im Kontext bestimmter sozialer Voraussetzungen denkbar ist. Erforderlich hierfür, so von Hentig (1996, 93) weiter,

„ist ein Bewußstsein von uns vererbten allgemeinen Zwecken wie der Aufrechterhaltung des Friedens oder der Verwirklichung derres publica, der Vervollkommnung der Gerechtigkeit, der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, der Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, der Solidarität mit den Geplagten, Verfolgten, Vernachlässigten in der Welt – und davon, daß diese Zwecke nicht Funktionären und damit dem Funktionalismus überantwortet werden dürfen“.

Im Gedankenduktus der Kritischen Theorie gründend und diese zugleich wei-terdenkend, sucht und findet Jürgen Habermas eine gerade unter originär erziehungswissenschaftlich-methodischen Gesichtspunkten hoch bedeutsame Meta-Norm praktischer Vernunft im Rahmen seiner einflussreichen Diskur-sethik mit deren Leitziel der idealen Sprechsituation, in welcher grundsätzlich jede/r Gesprächsteilnehmer/in die gleiche Chance hat, sich an Kommunikati-onsprozessen zu beteiligen und seine/ihre Argumente vorzutragen. Als Apriori, d. h. als grundsätzliche und zwingende Bedingungen der Möglichkeit einer der-art uneingeschränkten und deshalbherrschaftsfreien Kommunikation werden von Habermas und Karl-Otto Apel (in seiner als „Universalpragmatik“ bezeich-neten Sprach- und Diskursphilosophie) solche normativen Verhältnisse benannt, die ein gegenseitigesSich-Geltenlassen der DiskurspartnerInnen gewährleisten:

Erst im Falle einer gegenseitigen Gewährleistung der physischen und aber auch und insbesondere psychosozialen Integrität des/der Mitmenschen ist die Conditio sine qua non eines freien Meinungsaustausches und einer freien Suche nach vernünftigen Regeln des Zusammenlebens gegeben, auf dass der sozusagen

„zwanglose Zwang“ des besseren Arguments zum Tragen komme (vgl. etwa Apel 1976; Habermas 1983). Wolfgang Schulz liefert ein gutes Beispiel für das, was herrschaftsfreier Diskurs in der pädagogischen Praxis bedeutet bzw. bedeuten kann: man möge sich etwa die Frage stellen, so Schulz (1987, 134f.), ob ein er-reichtes Einverständnis des/der Pädagogen/in mit der jeweiligen pädagogischen Klientel oder aber mit seinen/ihren Vorgesetzten „auch erzielt worden wäre, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht Sorge um ihre Beurteilung und sie selbst nicht Sorge z. B. um ihre feste Anstellung gehabt hätten (. . .)“. Jürgen Habermas (1968b, 164) unterstreicht indes die Bedingtheit seines Bildungs- und Gesellschaftsideals einer solcherart herrschaftsfreien (zumindest, und weniger utopisch, möglichst herrschaftsarmen) Kommunikation:

„Freilich würde sich erst in einer emanzipierten Gesellschaft, die die Mündigkeit ihrer Glieder realisiert hätte, die Kommunikation zu dem herrschaftsfreien Dialog aller mit allen entfalten lassen, dem wir das Muster einer wechselseitig gebildeten Identität des Ichs immer schon entlehnen. Insofern gründet die Wahrheit (. . .) in der Antizipation des gelungenen Lebens“.

Und zudem, so Hans-Hermann Groothoff (1987b, 94), „wie man wohl hinzu-setzen darf, der gelungenen Bildung“. Der Endzustand des Bildungsprozesses, ganz in einem teleologischen Sinne, ist für Jürgen Habermas dementsprechend

erst dann erreicht, wenn der/die einzelne inzwang- und somit herrschaftslosen öffentlichen Kommunikationenseine je persönlichkeitskonstituierenden (Selbst-) Reflexionen, Entfremdungen, aber auch identifikationsstiftenden und -leitenden Prozesse und Erfahrungen, m. a. W. seine Ich-stärkenden wie -schwächenden (Lebens-)Erfahrungen sich zu vergegenwärtigen und zu kritisieren in der Lage ist (vgl. Groothoff 1987b, 94; Habermas 1968b, 285, 318). Entsprechend einer solchen Akzeptanz des anderen, wie sie der sog. „transzendentalpragmatische Ansatz“ sensu Karl-Otto Apel zwingend einfordert, sind gegenseitigerRespekt und Wertschätzung gegenüber dem je Anderen und Fremden weitere norma-tive Elementaria menschlicher Bildung (immer vorausgesetzt, diese Toleranz schließt Formen der Intoleranz nicht mit ein, verwechselt also nicht Akzeptanz mit quasi-nihilistischer Gleichgültigkeit im Sinne eines falsch verstandenen anything goes). Dieses Bildungsleitziel der Toleranz und Akzeptanz gegenüber Ungewohntem, Fremdem und Andersdenkenden wird von Theodor W. Adorno (1976, 130f.) in Form des berühmten und gerade für die Kritische Theorie von Gesellschaft so zentralen Postulats zum Ausdruck gebracht, wonach sich ein erstrebenswert humanerer gesellschaftlicher Zustand auch dadurch charakteri-siere, dass „man ohne Angst verschieden sein kann“. DieWertschätzung des Differenten und Heterogenen, in welchem sich das Gleichheitsprinzip letztlich erst realisiert (vgl. Welsch 1987), ist folglich unverzichtbares Moment einer Erziehung zu Toleranz und Mitmenschlichkeit, wie dies dem Kanon der Men-schenrechte entspricht. Bezug nehmend auf pädagogische Praxen lassen sich mit Annedore Prengel (1999, 249f.) einige der zentralsten Normen und Werte der Menschenbildung hier wie folgt zusammenfassen:

„Gute Ordnungen in pädagogischen Arbeitsfeldern orientieren sich an folgenden Kriterien: Sie stellen einen Rahmen für Freiheit bereit, der im Einklang mit dem Gruppenprozeß relativ flexibel verändert werden kann. Sie unterscheiden sich von undemokratischen Ritualen durch die Verpflichtung auf Freiheit, Selbstbestimmung, Verschiedenheit und Prozeß-haftigkeit. Sie beruhen auf der Norm von Selbstachtung und wechselseitiger Anerkennung und intendieren beides, Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck, Selbstachtung sowie Wahrnehmung und Achtung der anderen Person“.

Letztlich beinhaltet eine sich normativ an den Werten der politischen und sozialen Menschenrechte orientierende Bildungstheorie und -praxis stets auch die Proflexion der erstrebenswertenSoll-Zustände gesellschaftlicher Art; neben die wissenschaftlich-empirische Deskription hat somit stets die

Antizipati-on zukünftig wünschens- und erstrebenswerter Zustände und Zielsetzungen nebst erforderlicher Bedingungen zu treten. Der diesem Bemühen durchaus immanente Mut zur Utopie, d. h. zum utopischen Denken emanzipatorischer Sozialverhältnisse als eines richtungsweisenden Leuchtturms pädagogischen wie politischen Handelns, darf speziell als ein wichtiges Charakteristikum der in theoretischer Hinsicht im selbstreflexiv-aufgeklärten Neo-Marxismus der Kritischen Theorie verorteten Kritisch-emanzipatorischen Erziehungswissen-schaft gelten (siehe 3.5.2.). Dietrich Hoffmann (2007, 60) etwa unterstreicht diesbezüglich: „Die vom Interesse an der Zukunft, insbesondere von dem an der Herstellung einer Assoziation freier Menschen geleitete Analyse des geschicht-lichen Verlaufs und die Synthese künftiger Entwicklung verleugnen keineswegs ihre utopischen Züge. (. . .) Pädagogische und politische Absichten überschnei-den sich im Ziel des mündigen Individuums und der mündigen Gesellschaft“.

Im Sinne einer Aufhebung aller „überflüssigen Beengungen und verfrühten Festlegungen“ (ebd., 34) bedeute eine solche „freie Assoziation freier Men-schen“ (Marx) für Hoffmann (ebd.), der hier offensichtlich bei Diskurstheorien sensu Jürgen Habermas/Karl-Otto Apel Anleihe nimmt, „nicht mehr und nicht weniger, als dass die Menschen im Prozess zunehmender Freiheit ihre Lebensweise stets neu nach dem erreichten Zustand ihrer Fähigkeiten zu ver-nünftiger Verständigung verabreden müssen“. Diese utopischen oder zumindest utopisch anmutenden Proflexionen erfolgen nicht im Sinne eines selbstzweckhaf-ten Wunschdenkens, als bloße Traumtänzereien, sondern stets mit analytischem Blick auf die realen gesellschaftlich-historischen Begebenheiten, Möglichkeiten und Grenzen.

– Sind nur „gute“ Menschen gebildet? – Eine essayistische Reflexion –

Reflexionen über die Normen und Werte von Bildung münden zwangsläufig in die grundsätzliche Frage, ob nur der-/diejenige als gebildet gelten darf, der/die auch in moralisch-ethischer Hinsicht Tugendhaftigkeit im Sinne der oben ange-führten Prinzipien und Dispositive der Menschenfreundlichkeit, wie sie in den einschlägigen Menschenrechtsdeklarationen angeführt werden, an den Tag legt.

Sind, so lässt sich daraufhin zugespitzt fragen, Rassisten, Sexisten, Faschisten und sonstige (bspw. religiöse) Fundamentalisten also per se ungebildet? Fasst man unter „Bildung“, wie noch näher zu spezifizieren, auch die Fähigkeit, einzelne Wissensbestände zu umfassenden verstehenden Einsichten in kom-plexe Zusammenhänge zusammenzuführen, dann ist es im Grunde eine Frage

der Qualität dieser Einsichten in den Gesamtzusammenhang der Menschen-rechtsthematik und ihrer Begründbarkeit, mit anderen Worten ein Verständnis für die Notwendigkeit humaner Gesinnung, die diese Frage einer Antwort nä-her zu bringen vermag. Nach knapp zweieinhalb Jahrtausenden praktiscnä-her Philosophie gibt es zumindest wichtige Kriterien und Merkmale eines

sittlich-„guten“ Verhaltens, die sich vernünftig, ja geradezu logisch begründen lassen und deshalb Anspruch auf universelle Geltung beanspruchen dürfen – also über religiöse und/oder kulturelle Eigentümlichkeiten hinausweisen. Im Kern geht es dabei um die „Goldene Regel“ der praktischen Vernunft, wie sie in Imma-nuel Kants Kategorischem Imperativ formuliert ist (s. o.). Bei allen kritischen Einschränkungen im Detail, die sich daraus ergeben, dass unterschiedliche Men-schen unter dem „Was du nicht willst. . .“ sehr oft Unterschiedliches verstehen, dass es m. a. W. womöglich Differenzen in der Bestimmung dessen gibt, was Menschen tun/nicht tun sollten, weil man dies doch selbst auch nicht angetan haben möchte (bspw. religiöse Fundamentalisten, die darauf bestehen, hart bestraft zu werden, sollten sie gegen ihre religiösen Ge- und Verbote verstoßen, oder Anhänger sexueller Praktiken, die sich konsensuell körperliche Schmerzen zum Zweck der Luststeigerung zufügen), so sehr herrscht doch meist Einigkeit in zumindest einer Hinsicht: Niemand will gezwungen werden, anderer Leute Prinzipien und Überzeugungen, was denn nun tatsächlich als gut und schlecht zu gelten und entsprechend von jedem/r gewollt und angestrebt werden sollte, zu akzeptieren und zu erdulden, ohne ebenfalls dieser Überzeugung zu sein. Es bedarf vielmehr eines dialogischen und/oder gesellschaftlichen Prozesses der vernünftigen Aushandlung dessen, was im Sinne des kategorischen Imperativs konkret zu tun bzw. zu lassen ist, wo und wann also etwa individuelle Freiheit ihre Grenzen hat, weil die Freiheit anderer berührt wird. Ein solches Ideal von gleichberechtigter Aushandlung handlungsleitender Normen setzt indes zwingend voraus, sich zunächst einmal grundsätzlichgegenseitig als Mensch zu akzeptieren und entsprechend die physische wie psychische Unversehrtheit des anderen zu akzeptieren. So argumentiert (stark vereinfacht) der metatheoreti-sche Ansatz einer vernunftgemäßen Letztbegründung normativen Handelns, wie er insbesondere von Jürgen Habermas und Karl–Otto Apel in ihrer Theorie des idealen Diskurses (s. o.) entwickelt wird und der die Möglichkeit eröffnet, die universelle (also weitgehend religions- und kulturunabhängige) Gültigkeit der Menschenrechte zu begründen. Ob dann tatsächlich gemäß derjenigen Normen und Werte, die sich solcherart objektiv begründen ließen, gehandelt wird, ist durch diese (interaktions- und kommunikations)theoretische Fundierung der

Vernünftigkeit moralischen Handelns noch keineswegs gewährleistet. Natürlich lässt sich leider auch wider besseren Wissens amoralisch handeln, lassen sich Bildungsstandards aushebeln und Maßstäbe eines kultivierten, zivilisierten Gebarens einreißen, wie ein Blick auf Geschichte nur allzu deutlich offenbart.

Zumindest lässt sich dann aber – zugegeben ein schwacher Trost – mit Fug und Recht behaupten, dass das an den Tag gelegte Verhalten nicht als Zeichen der Gebildetheit betrachtet werden kann.

Jenseits aller Theorie stellen solche Streitfälle und Meinungsverschieden-heiten bezüglich grundsätzlicher normativer Verhaltensstandards doch eher die Ausnahme von der Regel dar. Letztere besteht nämlich darin, dass die Bedürfnisse der Menschen im Wesentlichen die Gleichen sind (vgl. hierzu ein-schlägige Standardwerke der Ethnologie und Anthropologie, zudem, speziell im erziehungswissenschaftlichen Kontext, etwa Zdarzil 1978; Plessner 1928;

Mertens 1998). Menschen sind demzufolge Bedürfniswesen, die sich hinsicht-lich ihrer Grundbedürfnisse praktisch nicht unterscheiden und deshalb im Normalfall bezüglich der zu wahrenden Meta-Normen durchaus vergleichbare Verhaltensstandards an den Tag legen: Es geht Menschen primär um leibliche und seelische Unversehrtheit, materielle und soziale Sicherheit, Anerkennung und Liebe. Ungeachtet aller Einwände scheint sich deshalb eines nicht be-streiten zu lassen: Es gibt zwingende Gründe, ein bestimmtes Verhalten als

„besser“, als „menschlicher“ zu qualifizieren als ein anderes. Diese intellektuelle Einsicht in die Struktur menschlicher Normen und Werte, in ihre Notwendigkeit und Begründbarkeit sowie ein in dieser Erkenntnis gründendes tugendhaftes Denken und Handeln setzt neben dem entsprechenden Wissen eine gefestigte Persönlichkeit voraus, die wiederum ein Ausdruck von Bildung ist. Entspre-chend lässt sich letztlich die Hypothese rechtfertigen: Unmenschlich handelnde Menschen können viel wissen, sie können intelligent und kompetent sein (auch ein organisierter Massenmord erfordert zweifellos derartige Dispositionen), sie können aber nicht gebildet sein.

– Fazit und thematische Überleitung –

Ungeachtet der philosophischen Diskurse um die Universalität handlungs-praktischer Normen und Werte und um den Stellenwert, den die individuelle Einsicht in deren Gültigkeit oder vielmehr in die Notwendigkeit ihrer Befolgung für den je zuzumessenden Bildungsstatus des Individuums hat, lässt sich hier als Ergebnis der vorangehenden Ausführungen in aller Kürze zusammenfassen:

Den in zentralen Ideen der Aufklärung wurzelnden universellen

Menschen-rechten sind die Prinzipien Emanzipation, Mündigkeit und Autonomie sowie die hierfür unerlässliche Selbsterkenntnis und das darin wiederum gründende Streben nach Selbstbestimmung immanent, diese sind, speziell seit den konnotativen Färbebädern der Aufklärung und des Neuhumanismus und nicht zuletzt – wenngleich ideengeschichtlich natürlich weitaus weniger einflussreich – der Kritischen Erziehungswissenschaft, unverzichtbare Leitziele, Meta-Normen und zugleich Konstitutionsfaktoren von Bildung. Ein Verzicht auf diesen progressiven, direkt oder indirekt stets auch politische Implikationen zeitigenden Grundton, der in „Bildung“ stets auch mitschwingt, stellt eine unzulässige Engführung des Begriffsgebrauchs dar. Stehen im Mittelpunkt pädagogischer Interessen etwa die berufliche oder sonstige Handlungsfähigkeit, ist statt dessen, wie unten noch ausführlich darzulegen sein wird, vielmehr der Kompetenzbegriff anzuraten (vgl. zusammenfassend 11.4. u. 11.5.).

Besagte Selbsterkenntnis und -bestimmung setzen als weiteres, elementares Bildungscharakteristikum aber zwingend (Selbst)Reflexion voraus.

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 134-142)