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Zur Genealogie des Bildungsbegriffs

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 45-57)

innewohnenden emanzipatorischen Bedeutungskerne

2.1 Zum Gegenstandsbereich des Bildungsbegriffs

2.1.1 Zur Genealogie des Bildungsbegriffs

Hinsichtlich der Frage, was unter „Bildung“heutekonkret zu verstehen ist bzw.

verstanden werden sollte, ist zunächst ein (kurzer) Blick auf die Geschichte dieses Begriffs unerlässlich. Die Beschäftigung mit der historischen Dimension zentraler Begrifflichkeiten, und dies gilt natürlich keineswegs nur für solche der Erziehungswissenschaft und Pädagogik, kann verhindern helfen, so Max Liedtke (1980, 109), dass „man sich auf die bloß gegenwärtige Erscheinungsform eines Problems beschränkt und die geschichtliche Bedingtheit gegenwärtiger Lösungsversuche übersieht“. Entsprechend lohnt hier ein genauerer Blick auf die Geschichte des Bildungsgedankens. Die nachfolgenden Ausführungen hierzu fußen insbesondere auf Menze 1970, Blankertz 1982a, Weber 1999, Gudjons 2006, Hammerstein 1987, 1996, 2005. Hinsichtlich der etymologischen Begriffs-genealogie von „Bildung“ ist zunächst der letztlich universelle Charakter dessen, was speziell im deutschsprachigen Diskursraum hierunter firmiert, deutlich zu benennen und zudem auch die sukzessive Formierung dieser Terminologie anzusprechen. In der Geschichte praktisch aller Gesellschaften, so hebt Paul Röhrig hervor, finden sich nämlich von Anfang an bereits eine Vielfalt prak-tischer Vorstellungen und Konzepte, die zunächst noch keinerlei zugehöriger Theorie bedurften, weil sie sich konkreter Bedürfnisse seitens der Adressaten von Erziehung verdankten: Sowohl die kriegerisch-asketische Erziehung der jungen Spartaner, die christliche Erziehung im Mittelalter oder auch die beruf-liche Ausbildung der Moderne, um nur drei Beispiele anzuführen, verstanden sich durch ihre Zweckgerichtetheit praktisch von selbst. Sukzessive jedoch, so Röhrig (1994, 172) weiter, entstanden

„aus den zeitlich primären und gesellschaftlich vorrangig zweckbestimm-ten Formen des Erziehens und Aufwachsens (. . .) in Europa eigenartige pädagogische Gebilde, die sich nur das Ziel setzen, den Menschen zu hel-fen, wirkliche Menschen zu sein, ein Bild auszufüllen, das man sich von Menschlichkeit und Humanität in langem Nachdenken erarbeitet hatte.“

– Antike –

Obwohl die Antike natürlich noch nicht den Begriff Bildung verwendete, waren doch zumindest einige der Ideen, die diesen Terminus später im Deutschen prägen sollten, bereits präsent Hartmut von Hentig (1996, 40) verortet die

Wurzeln späterer und heutiger Verständnisse von „Bildung“ als eines Prozesses der Selbstformung des Menschen jedenfalls bereits in antiken Begrifflichkeiten:

„In die Pädagogik sind das Wort und die Vorstellung durch Übersetzung des lateinischen Wortes formatio gelangt, hatten doch schon die alten Römer das griechische eidos mit forma wiedergegeben. Es ist nur natürlich, daß die plato-nische Vorstellung, jedem Ding wohne seineidos, die ihm eigentümliche Gestalt, inne, mitklang (. . .)“. In Platons Werk „Politeia“ finden sich im Rahmen sei-ner Beschreibung der Erziehung zu einem Philosophenkönig – besonders im berühmten „Höhlengleichnis“ – Gedanken, die in hohem Maße ein bestimmtes, nämlich umfassendes Verständnis von Bildung, wie es dann etwa im klassischen Bildungshumanismus kulminiert, (mit)prägen: Bildung als „Ideenschau“, als Schau der ewigen „Urbilder“ anstelle der nur flüchtigen und chimärenhaften

„Abbilder“ unserer Wahrnehmung, Bildung mithin als Erkenntnis der Realität und der Wahrheit, Ziel, Prozess und Ergebnis eines geistigen Emporsteigens aus der Höhlenwelt der Schatten- und Trugbilder, hinauf und hinaus in die Welt des Lichtes und der wahren Erkenntnis. Der Begriff und die Idee der

„Paideia“ (griechisch für „Erziehung“, „Bildung“), dem bei Platon hohe Be-deutung zukommt und im Rahmen seines Höhlengleichnisses entworfen wurde (vgl. Röhrig 1994, 172), ist ein zentraler Wert- und Schlüsselbegriff für das Verständnis der klassischen antiken Kultur. Der Begriff leitet sich im engeren Sinne von der Erziehung des Kindes, genauer des „Knaben“, ab („paideuein“), meinte aber schon früh die Bildung, die ein Jugendlicher erhält und die ihn sein ganzes Leben lang prägt. Ziel der Paideia ist die Hinwendung des Menschen zum Denken des Maßgeblichen und die Ausbildung der elementaren Tugenden des Menschen, wie sie im Begriff der „Areté“ verdichtet sind.7 Zugleich aber stellt auch die „periagogische“ Denkfigur (Umlenkung der Seele von den Schat-ten der Dinge zu ihrem Sein), ein wichtiges Moment antiker Bildung dar. Sie wird im Höhlengleichnis so überaus eindrücklich beschrieben, als individueller Telos, als finales Ziel, aus der finsteren Welt der Schatten, Trugbilder und der Gefangenschaft heraus und hinauf zum Licht der wahren Erkenntnis, letztlich zur höchsten Idee, nämlich zum Guten selbst, zu gelangen. Paul Röhrig (1994, 172) unterstreicht die Wirkmächtigkeit dieser Philosophie: „Der Gedanke einer solchen allgemeinen Bildung war stark genug, über die Zeit der späten römi-schen Kaiser und schließlich das hohe Mittelalter hinaus in den ‚Septem Artes liberales‘ fortzuleben“.8

– Mittelalter –

Im etymologisch engeren Sinne finden sich die Wurzeln des Bildungsbegriffs im Althochdeutschen, wo bereits mehrere Bedeutungskerne existieren: Neben den Konnotationen „Ähnlichkeit“ bzw. „Nachahmen“ („pildint“) bringen weiter Urformen von Bildung („leimbilidari“, „bilidari“) auch das handwerkliche bzw.

künstlerische Motiv des „Formens“ und „Gestaltens“ zum Ausdruck. Darüber hinaus wohnt Bildung im Althochdeutschen von Anfang an aber auch ein spirituelles Moment inne, im Frühneuhochdeutschen steht „bildunga“ allge-mein für „Schöpfung“, „Schaffung“ und „Verfestigung“. Von Alfred Langewand (1994, 70) werden die originären Begriffsbedeutungen von Bildung wie folgt aufgelistet: „Das Wort Bildung, althochdeutsch bildunga, mittelhochdeutsch bildunge, umfaßt anfänglich die Bedeutungen ‚Bild‘, ‚Bildnis‘, ‚Ebenbild‘ so-wie ‚Nachahmung‘, ‚Nachbildung‘; dann treten ‚Gestalt‘, ‚Gestaltung‘ und

‚Schöpfung‘, ‚Verfertigung‘ hinzu“. Seit dem frühen 16. Jahrhundert schließlich bezeichnen „bilden“ wie „Bildung“ allgemein die natürliche Gestaltung bzw.

Gestalt des Menschen (vgl. zu den einzelnen etymologischen Herleitungen im Einzelnen Dohmen 1964, 29f.). Der spezifisch deutsche Begriff Bildung entwi-ckelte sich schließlich im Hochmittelalter, wahrscheinlich als Begriffsschöpfung Meister Eckharts (1260–1328) im Rahmen der mystisch-konnotierten „Imago-Dei-Lehre“, der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. „Bildung“

meint in diesem Sinne ein Ebenbild-Werden von Gott. Im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln habe sich dieser theologischen Denkfigur zufolge der Mensch der letztlich unerreichbaren Zielsetzung verpflichtet zu wissen, sich als Ebenbild Gottes herauszubilden (vgl. Meueler 2009, 146). „Bilden“ war also von Anfang an in hohem Maße theologisch besetzt und wurde zunächst verstanden als gebildet werden durch Gott und nach dem Abbild Gottes. Die Vorstellung des Ab- und Nachbildens bzw. Nachahmens nach einem Urbild, nach dem etwas gebildet wird, ist dem Bildungsbegriff somit etymologisch immanent. Die menschliche Seele wird demzufolge gebildet im Sinne von nach-gebildet. Gemäß dieser stark platonisch/neuplatonisch geprägten Auffassung meint Bildung somit ein Zurückbilden zu Gott bzw. eine Wiederannäherung an das im Menschen grundgelegte, seiner Seele bereits innewohnende Urbild Gottes, wie Günther Dohmen (1964, 36) erläutert:

„Der neuplatonische Emanationsprozeß wird schon auf der Stufe der Bilder gleichsam zurückgewendet zum eigenen Ursprung: er wird aufgefangen von einem mystischen Re-integrationsprozeß, der die Stufen der Emanation

wieder zurückgeht bis zu dem einen Urgrund: Gott. (. . .) Hinter dem Bildungsbegriff steht bei Eckhart die spiritualistische Vorstellung eines geistigen Abbildungsverhältnisses der Seele zu ihrem Schöpfer“.

Ziel von Bildung ist demzufolge letztlich die neuplatonische „Unio mystica“, also das geistig-transzendentale Einswerden mit Gott als dem Urgrund der Welt, aus dem einst alles emanierte bzw. weiterhin alles ausfließt. Bildung meint dann einen Prozess, auf den der/die Einzelne gar keinen Einfluss hat.

Auch bezieht sich das Bildungsverständnis sensu Meister Eckhart auch nicht auf den gesamten Menschen, sondern im Grunde nur auf dessen Seele und deren Vernunftpotential. Das im „Seelengrund“ eingeschriebene spirituelle Bild Gottes soll hierbei mit dem göttlichen Urgrund zur Einheit gebracht werden. Die Ausbildung natürlicher geistig-körperlicher Anlagen im Interesse einer harmonischen Gesamtpersönlichkeit hingegen stellte noch kein explizites Bildungsziel dar. Es ist dieser Auffassung zufolge auch nicht die Aufgabe des Menschen, sich zu bilden (wie dies später etwa Wilhelm von Humboldt fordert), da der Prozess ja quasi von außen an den Menschen herangetragen wird. Das angestrebte Ziel dieses Prozesses ist nach dieser ursprünglichen Auffassung bereits in der Schöpfung selbst festgelegt und damit durch Gott bestimmt. Die Bildungsidee Meister Eckharts erweist sich so nicht zuletzt auch als eine wirkmächtige Quelle des später in der deutschen Philosophie oft unterstellten „Innerlichkeitskultes“ (vgl. ebd., 47ff.). Diese Sicht auf Bildung, so führt Dohmen (ebd., 48f.) zusammenfassend aus,

„zielt im Grunde auf eine spirituelle Herauslösung des geistig-göttlichen Seelenteils aus der kreatürlichen Individualität des Menschen. (. . .) Dieser dualistisch-spiritualistische Ansatz der ersten wirklichen ‚Bildungslehre‘ in der deutschen Geistesgeschichte mag mitbestimmend gewesen sein für die auffallende Nähe des traditionellen deutschen Bildungsbegriffs zur Sphäre des reinen Geistes (. . .) (Es, B. L.) zeigt sich hier schon in der ersten deutschen Bildungslehre eine betont geist- und innerlichkeitsbezogene Begriffsauffassung“.

Dieses im Hoch- und Spätmittelalter durch Meister Eckhart in den Vordergrund rückende Motiv der Imago Dei, der Gottesebenbildlichkeit, findet sich bereits in der Bibel, genauer im Alten Testament, es wird im 1. Buch Mose (1, 26/27) zum Ausdruck gebracht: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei (. . .) Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn (. . .)“ (zit. nach Langewand 1994, 70). Neben

dieser Idee des Menschen als eines Ebenbildes seines Schöpfers, die wiederum sowohl als anthropologisch-optimistische Prämisse wie als „Konsequenz eines Aktes göttlichen Gnadenbeweises ansehbar ist“ (ebd.), existierte noch die Vorstellung der anzustrebenden Wandlung des Menschen in besagte Imago Dei. Ein biblischer Verweis auf diese Denkfigur findet sich im zweiten Brief des Apostels Paulus an die Korinther: „(. . .) und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern, von dem Herrn, der der Geist ist“ (2. Kor.

3,18; zit. nach Langewand 1994, 70).

– Humanismus und Aufklärung –

Diese „wechselvolle, oft enge Beziehung“ (Langewand 1994, 71), die das Be-griffspaar Bildung und Bildnis nebst seiner zugehörigen Konnotationen im Hoch- und Spätmittelalter bis in die beginnende Neuzeit hinein eingegangen ist, wurde in der weiteren Folge der Entwicklung des Bildungsbegriffs auf unterschiedliche Weise verarbeitet und weitergedacht, zum Teil auch relati-viert: So etwa, neben der Mystik Meister Eckharts, in der Naturphilosophie des Paracelsus oder aber auch im Pietismus, einer ideellen Hochdomäne der Bildungsphilosophie. Die Idee der Gottesebenbildlichkeit beeinflusste die fort-laufende Wirkungsgeschichte des Bildungsbegriffs dabei im Wesentlichen auf zweierlei, an der anthropologischen Axiomatik unterscheidbare Art und Weise:

Einer negativen Anthropologie zufolge erhebt sich der Mensch zur Imago Dei (s. o.) durch göttliche Erhebung und Gnade, wie dies für die Auffassung des

sit-tenstrengen Pietismus charakteristisch ist, wohingegen die optimistische Lesart den Menschen als ein grundsätzlich potentiell göttliches Wesen ansieht, eine Auffassung, die sich etwa bei Gottfried Wilhelm Leibniz findet und überhaupt als ideelle Basis für die fortschrittsoptimistische und teleologische Bildungsphi-losophie des Aufklärungszeitalters und des Neuhumanismus, etwa in Gestalt Johann Gottfried Herders und vor allem natürlich Wilhelm von Humboldts, angesehen werden kann. Gerade der in so hohem Maße die Bedeutung von Sprache, Geschichtlichkeit und Tradition betonende Herder akzentuierte Bil-dung dahingehend, dass diese, im Sinne zugleich eines Ist-Zustandes, einer Kann-Option und aber auch eines Imperativs, als Vollkommenheit des Men-schen im geschichtlichen Prozess zu interpretieren sei, als überindividuelles Voranschreiten des Menschengeschlechts zu Humanität und Glückseligkeit (vgl.

Herder 1887, 350; Langewand 1994, 71f.). Eine solch zweck- und zielbezogene Sicht auf „Bildung“, wie sie in der von Aufklärung und Neuhumanismus so stark geprägten deutschen Begriffstradition dominiert(e), steht im bewussten

Gegensatz zum ersten Kritiker der Aufklärung und Mitbegründer der mo-dernen Pädagogik, Jean-Jacques Rousseau, der bekanntlich den Prozess der Industrialisierung als Regression vom pädagogisch zu bevorzugenden Naturzu-stand verNaturzu-stand und so gewissermaßen als erster namhafter Theoretiker einer

„Dialektik der Aufklärung“ angesehen werden kann. Diese Distanzierung vom so einflussreichen Rousseauschen Geschichtspessimismus, die für ein adäquates Verständnis des deutschen Begriffes von Bildung nicht unwichtig ist, erläutert Alfred Langewand (1994, 72) pointiert: „Das deutsche Konzept der Bildung ist also auch und wesentlich als Antwort auf die Zumutung Rousseaus zu verstehen, einen Sinn der Geschichte gebe es nicht, und die Wahrhaftigkeit und Glückseligkeit des Wilden im Naturzustand (und des nur ‚negativ‘ zu erziehenden Kindes) seien allemal wahrscheinlicher als die des christlichen Bürgers!“.

Eine nachhaltige Aufwertung und Verständniserweiterung erfuhr der Bil-dungsbegriff – aufgrund dessen enger Gebundenheit an die deutsche Sprache (s. o.), besser gesagt: erfuhr ein entsprechendes Verständnis erstrebenswerter menschlicher Qualitäten – im Zeitalter des Humanismus. Speziell in der Natur-philosophie der Renaissance findet sich hinsichtlich ideeller Einstellungsmuster, die mit Bildung korrelieren, eine weitere universelle Wurzel des spezifisch deutschen Bildungsbegriffs. Sandra Wiesinger-Stock unterstreicht diese für jed-wedes umfassende Verständnis von Bildung letztlich konstitutive Geistes- und Werthaltung und führt hierzu eine Reihe persönlichkeitsbezogener Kriterien an, die, wie noch zu argumentieren sein wird, auch als zentrale performative Charakteristika eines auch für den gegenwärtigen Begriffsgebrauch eignenden, somit im Grunde zeitlosen Verständnisses von Bildung gelten dürfen, nämlich letztlich dem von Bildung als Entfaltung der Persönlichkeit:

„Der Humanismus der Renaissance stellte den Einzelmenschen (im Sinne der antiken Freiheit, Selbstverantwortlichkeit und Demokratie) in den Mittelpunkt, der aus den festen Gemeinschaftsformen des christlichen Mit-telalters herausgelöst werden sollte. Das Ziel war jedoch kein egoistischer Individualismus, sondern die ‚Annäherung an ein allgemein verbindliches Humanitätsideal‘. Eine Geisteshaltung, die den christlichen Gedanken der Gleichheit aller Menschen mit dem griechischen Wert der freien, maßvollen Persönlichkeitsentfaltung verband. Das humanistische Bildungsideal war daher das der Persönlichkeitsbildung (im Sinne der antikenhumanitas)“

(Wiesinger-Stock 2002, 90).

Angesichts der materiellen wie geistigen Zerstörungen während des Dreißig-jährigen Krieges erhoffte sich in einem solchen Sinne Johann Amos Comenius die Entstehung einer friedlicheren Welt, indem Menschen von Kindheit an zu menschlich-sittlicherem Verhalten angeleitet werden. Das in diesem Zu-sammenhang verwendete lateinische Wort „eruditus“ – gebildet, aufgeklärt – lässt sich etymologisch von „ent-roht“ ableiten. Solchen Ausgang des Men-schen aus seiner ursprünglichen „Rohheit“ erwartet sich Comenius (bereits 288 Jahre vor Ludwig Wittgenstein) etwa durch Sorgfalt beim Denken und Sprechen. Im Mittelpunkt seiner Pädagogik steht eine christlich-humanistische Lebensgestaltung, der philosophische Grundsatz seiner Pädagogik lautet be-kanntlich: „Omnes, omnia, omnino“ (lat.): „Alle Menschen sollen alle Dinge der Welt vollständig erlernen dürfen“. (Folgerichtig stellte er die zu seiner Zeit geradezu revolutionären Forderungen einer allgemeinen Schulpflicht und eines koedukativen Unterrichts für Jungen und Mädchen, und zwar ausdrücklich unter Bedingungen der Gewaltlosigkeit.9) Bildung äußert sich nach Comenius dann insbesondere auch darin, den Unterschied all dieser „Dinge“, d. h. all dieser potentiellen Erkenntnisgegenstände zu kennen und jedes mit seinem Namen bezeichnen zu können (vgl. Gossmann 1992; Comenius: Opera didac-tica omnia 1657).10 (Kaum weniger bedeutsam hinsichtlich ihrer Beiträge zu einer humanistischen Theorie und Praxis des Pädagogischen sind Erasmus von Rotterdam und auch Spinoza; Ausführungen zu deren pädagogisch hoch relevantem Werk sprengen indes den hier gegebenen Rahmen eines lediglich skizzenhaften Überblicks. Siehe hierzu etwas ausführlicher Hammerstein 1996).

Die anfänglich stark religiöse Aufladung des Bildungsbegriffs (s. o.) erfuhr mit Beginn der Neuzeit und speziell durch die Epoche der Aufklärung eine schrittweise und dabei letztlich doch unumkehrbare Säkularisierung. War der Begriff bis dahin auch eine Umschreibung für die äußere Gestaltetheit des Men-schen, ist die nachdrückliche Übertragung des Begriffs auf die „innere Gestalt“

des Menschen (nach göttlichem Ebenbild) primär Ergebnis entsprechender Konnotationsverschiebungen des 18. Jahrhunderts (vgl. Langewand 1994, 70).

Der Primat und das Ideal eines in seiner gesamten Potentialität ausgeschöpften, reifen Menschseins kann als zentrales Charakteristikum von Bildung im Zeital-ter des Humanismus und der anschließenden Aufklärung angesehen werden (vgl.

Röhrig 1994, 172f.): „In der Zeit des Zweiten Humanismus (nach der Antike als erstem humanistischen Zeitalter, B. L.) finden wir den Bildungsgedanken in seiner höchsten Ausprägung“ (ebd., 172).11 Bei Jean-Jacques Rousseau etwa ist in diesem Zusammenhang im „Emile“ von nichts Geringerem die Rede als

von derErhebung des Individuums zum Menschen: „Ich aber will ihm einen Rang verleihen, den er nie verlieren kann, einen Rang, der ihn zu allen Zeiten ehren wird – ich will ihn in den Stand des Menschen erheben“ (Rousseau 1963, 412). Bei Immanuel Kant, der explizit an den ihn in pädagogischen Fragen in-spirierenden Rousseau anknüpft, findet sich sodann analog hierzu das Plädoyer für eine Wissenschaft, die den Menschen lehrt, was man sein und wissen müsse, um ein Mensch zu sein (vgl. Röhrig 1994, 172f.). Paul Röhrig (1988, 348) resü-miert diese Sicht auf Bildung in deutlichen Worten: „Dem jahrtausendealten Prinzip einer Standes- oder Klassenerziehung nun die Idee einer allgemeinen Menschenbildung entgegenzusetzen, war revolutionär, und die Forderung nach dieser, bald sogar zum Menschenrecht proklamiert, durchzieht ja dann auch sowohl die bürgerliche wie die proletarische Emanzipationsbewegung“.

Das im 18. Jahrhundert sich herausbildende neue Menschenbild eines aufge-klärten, vernünftig in wissenschaftlichen Kategorien denkenden und handelnden Menschen formt somit letztlich auch den Begriff der Bildung um. Nicht zuletzt tragen die pädagogischen Überlegungen des Moralphilosophen Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713), dazu bei, im Sinne eines novel-lierten und erweiterten Bildungsverständnisses zwischen der eigenständigen Kategorie „Bildung“ einerseits und „Schulbildung“ andererseits aufgrund un-terschiedlicher zugehöriger Konnotationen zu differenzieren. Es besteht mithin fortan die Möglichkeit, wie Jürgen Oelkers (2003, 2) dieses weiterentwickelte Bildungsverständnis näherhin ausführt, „den Kanon der Unterrichtsfächer von der persönlichen Welterfahrung abzugrenzen. Die ‚Welt‘ wird zur persönlichen Welt oder (. . .) zurinneren Form, die sich selbst konstituiert, ohne auf Bil-dungsinstitutionen angewiesen zu sein. ‚Bildung‘ ist unablässige Selbstformung, die sich ästhetisch unterscheiden muss, ohne von Außen gelenkt werden zu können“. Nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung deutscher Autoren mit Shaftesbury wurde der Begriff Bildung stärker säkularisiert. Die vorhandene theologische Konnotation wich einer Bedeutung, die sich der platonischen annäherte: Der Mensch soll sich nun nicht mehr zum Abbild Gottes entwickeln, das Ziel ist vielmehr die Vervollkommnung des Menschen selbst. Diese Idee findet sich unter anderem bei Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Gottfried Herder (s. o.), Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Immanuel Kant präzisiert in seiner Schrift „Über Pädagogik“ die Aufgabe von Bildung dementsprechend:

„Die Pädagogik oder Erziehungslehre ist entweder physisch oder praktisch.

(. . .) Die praktische oder moralische ist diejenige, durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein frei handelndes Wesen leben könne. (. . .) Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden We-sens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innern Wert haben kann“ (In: Immanuel Kants gesammelte Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Neunter Teil. Leipzig 1838. [Erhältlich beiGoogle-Books]).

Waren die Bildungsziele vor der Aufklärungsepoche somit noch durch Gott quasi vorgegeben, so sind sie nun bestimmt durch die sich dem Menschen stellende Notwendigkeit, mit anderenzusammen in Gesellschaft zu leben. Das Ziel von Bildung muss es demzufolge nunmehr sein, den Menschen so zu formen, dass er ein nützliches Mitglied eben dieser Gesellschaft werden kann, wobei im Verlauf dieses Formungsprozesses die je vorhandenen persönlichen Anlagen ausgeprägt und entwickelt werden. Doch immer noch werden die Bildungsziele nicht durch das Individuum selbst festgelegt, sondern stellen Idealvorstellungen dar, die, unabhängig vom einzelnen, sozusagen ewige Geltung beanspruchen und von außen an das Individuum herangetragen werden. Erst die ideengeschichtliche Strömung des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel u. a.) wendete den Bildungsbegriff endgültig hin zum Subjektiven. Bildung wird hierbei verstanden als Bildung des Geistes, als eines Geistes, der sich selber schafft. Dieser bei Johann Gottlieb Fichte beschriebene Prozess lässt sich in die Formel fassen:Das Ich als Werk meiner Selbst. Auch ist es Fichte, der seinen Bildungsbegriff das erste Mal auf ein objektives Faktenwissen begründet. Ziel ist wie bei den Denkern der Aufklärung die Entwicklung einer vollkommenen Persönlichkeit. Vollkommen ist die Person, wenn eine Harmonie

Waren die Bildungsziele vor der Aufklärungsepoche somit noch durch Gott quasi vorgegeben, so sind sie nun bestimmt durch die sich dem Menschen stellende Notwendigkeit, mit anderenzusammen in Gesellschaft zu leben. Das Ziel von Bildung muss es demzufolge nunmehr sein, den Menschen so zu formen, dass er ein nützliches Mitglied eben dieser Gesellschaft werden kann, wobei im Verlauf dieses Formungsprozesses die je vorhandenen persönlichen Anlagen ausgeprägt und entwickelt werden. Doch immer noch werden die Bildungsziele nicht durch das Individuum selbst festgelegt, sondern stellen Idealvorstellungen dar, die, unabhängig vom einzelnen, sozusagen ewige Geltung beanspruchen und von außen an das Individuum herangetragen werden. Erst die ideengeschichtliche Strömung des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel u. a.) wendete den Bildungsbegriff endgültig hin zum Subjektiven. Bildung wird hierbei verstanden als Bildung des Geistes, als eines Geistes, der sich selber schafft. Dieser bei Johann Gottlieb Fichte beschriebene Prozess lässt sich in die Formel fassen:Das Ich als Werk meiner Selbst. Auch ist es Fichte, der seinen Bildungsbegriff das erste Mal auf ein objektives Faktenwissen begründet. Ziel ist wie bei den Denkern der Aufklärung die Entwicklung einer vollkommenen Persönlichkeit. Vollkommen ist die Person, wenn eine Harmonie

Im Dokument Kompetenz oder Bildung (Seite 45-57)