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Hintergründe zur Änderung des Rechtsrahmens

3 Vertikale Gesetzgebung für Medizinprodukte

3.3 Entstehung der EU-Verordnungen für Medizinprodukte und in-vitro-Diagnostika

3.3.1 Hintergründe zur Änderung des Rechtsrahmens

Ab 2008 wurde ein neuer Rechtsrahmen für MP in der EK diskutiert – 2012 wurden die ersten Entwürfe für die neuen Rechtsrahmen veröffentlicht.56

Die Grenzen der bestehenden Richtlinien offenbarten sich in erster Linie durch diverse Probleme mit Implantaten wie beispielsweise Metall-Metall Hüftprothesen. Mechanisch-korrosiver Abrieb in diesen Prothesen führte zu erhöhten Konzentrationen von Kobalt- und Chrom-Ionen im Gewebe. Der Hersteller DePuy hat betroffene Produkte 2010

zurückgerufen.57, 58 Vorangetrieben wurde die Änderung des Rechtsrahmens in erster Linie

56 EK; Medical Devices - Revisions of Medical Device Directives. Online verfügbar unter

http://ec.europa.eu/growth/sectors/medical-devices/regulatory-framework/revision_en, zuletzt geprüft am 26.07.2016

57 H. A. Rüdiger: Die Problematik von Metall-Metall- Gleitpaarungen in der Hüftprothetik; Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie 61 (2), 39–42, 2013

58 DePuy; DePuy ASR™ Hip Recall Guide. Online verfügbar unter http://www.depuysynthes.com/asrrecall/, zuletzt geprüft am 03.04.2017

jedoch durch die Offenlegung einer der größten Medizinprodukteskandale mit etwa 400 000 betroffenen Personen in 65 Ländern59,60 – dem „PIP-Skandal“.

3.3.1.1 Verlauf des PIP-Skandals

Poly Implant Prothèse (PIP) wurde 1991 von Jean-Claude Mas gegründet und entwickelte sich zum drittgrößten Hersteller von Silikon-Brustimplantaten. Das in La Seyne-sur-Mer (Frankreich) ansässige Unternehmen vertrieb seine Waren international unter eigenem Namen (PIP – Titanium), belieferte aber auch andere Unternehmen, wie Rofil (M-Implants) und GfE Medizintechnik GmbH (TiBreeze).61 PIP versuchte 2000 auch Implantate gefüllt mit Kochsalzlösung auf den US-Amerikanischen Markt zu bringen, scheiterte jedoch an den Vorgaben der FDA. Diese stellte nach einem Audit vor Ort elf Abweichungen der guten Herstellpraxis fest und übermittelte einen „Warning Letter“.62 Implantate von PIP, welche mit Hydrogel gefüllte waren, wurden aufgrund mangelnder Sicherheitsdaten durch PIP im Jahr 2000 freiwillig vom Markt genommen, nachdem die Missstände durch die Britische

Gesundheitsbehörde aufgezeigt wurden.63

Aus Vigilanzdaten wurde bereits ab 2003 vom Britischen Gesundheitsamt (MHRA) eine erhöhte Anzahl an Rissen in PIP Silikon-Brustimplantaten untersucht.64 2009 rückte die auffällig hohe Ausfallrate der Implantate auch in den Fokus der französischen

Gesundheitsagentur. Nach vergeblichen Versuchen mit PIP nach Ursachen für diese Ausfälle zu suchen, führte die Agentur im März 2010 eine unangekündigte Inspektion am Betriebsgelände von PIP durch.65 Dabei entdeckte diese, dass PIP nicht das von der

benannten Stelle genehmigte medizinische Silikon verwendete, sondern Industriesilikon. Die Agentur setzte daraufhin den Verkauf von PIP-Silikonimplantaten aus und PIP meldete im

59 Choosing a Breast Implant; Background and History of Poly Implant Prothèse (PIP). Online verfügbar unter

http://www.choosingabreastimplant.co.uk/background-and-history-of-poly-implant-prothese-pip/, zuletzt geprüft am 21.11.2016

60 EK; Pressemitteilung - Medizinprodukte: Europäische Kommission gibt weitere wissenschaftliche Studien in Auftrag und zieht erste Lehren aus der jüngsten Betrugsaffäre um Brustimplantate, 02.02.2012. Online verfügbar unter

http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12-96_de.htm, zuletzt geprüft am 21.11.2016

61 BfArM; Brustimplantate "PIP" und "Rofil": Risiken, Informationen, Empfehlungen. Online verfügbar unter

http://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/risikoerfassung/empfehlungen/PIP/_node.html, zuletzt geprüft am 03.03.2016

62 FDA; Warning Letter to Mr. Jean-Claude Mas, 22.06.2000. Online verfügbar unter

http://www.abc.net.au/cm/lb/3810346/data/fda-warning-letter-to-pip-in-2000-data.pdf, zuletzt geprüft am 05.03.2016

63 Department of Health - UK; Poly Implant Prothèse (PIP) silicone breast implants - Review of the actions of the Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) and Department of Health, 05/2012, S. 7. Online verfügbar unter

https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/216537/dh_134043.pdf, zuletzt geprüft am 02.03.2016

64 Department of Health - UK; Poly Implant Prothèse (PIP) silicone breast implants - Review of the actions of the Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) and Department of Health, 05/2012, S. 22. Online verfügbar unter

https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/216537/dh_134043.pdf, zuletzt geprüft am 02.03.2016

65 Department of Health - UK; Poly Implant Prothèse (PIP) silicone breast implants - Review of the actions of the Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) and Department of Health, 05/2012, S. 22. Online verfügbar unter

https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/216537/dh_134043.pdf, zuletzt geprüft am 02.03.2016

gleichen Monat Konkurs an.66 Die Verwendung von billigerem Industriesilikon anstatt des Silikons für medizinische Zwecke hat dem Unternehmen etwa 1,2 Millionen Euro pro Jahr erspart.67 Die Umstellung vom zugelassenen medizinischen Silikon auf Industriesilikon erfolgte 2001. Für dieses betrügerische Vorgehen wurde Jean-Claude Mas zu einer Geldstrafe von 75.000 € sowie vier Jahren Haft verurteilt, welche vom Berufungsgericht im Mai 2016 bestätigt wurde.68

Die Wahrscheinlichkeit, dass PIP Brustimplantate zehn Jahre nach deren Implantation reißen liegt etwa bei 25 bis 30 %, im Vergleich zu 2 bis 15 % bei Implantaten anderer

Hersteller.69 Ersten Meldungen zufolge ist die Qualität des verwendeten Silikons von Charge zu Charge unterschiedlich und somit auch die Wahrscheinlichkeit eines Risses nicht bei jedem Produkt gleich hoch. Zudem stand das Material im Verdacht genotoxische

Eigenschaften zu besitzen.70 Dies konnte allerdings in späteren Studien nicht bestätigt werden.71 Das verwendete Silikon enthält jedoch einen höheren Anteil der zyklischen Siloxane D4 (Octamethylcyclotetrasiloxan), D5 (Decamethylcyclopentasiloxan) und D6 (Dodecamethylcyclohexasiloxan).72 Zyklische Silioxane befinden sich auch in vielen Kosmetikprodukten und stehen im Verdacht toxische (D4), bioakumulative und persistente Eigenschaften (D4 und D5) zu besitzen. Für D4 und D5 wurde 2015 ein Antrag von

Großbritannien für ein Verbot unter REACH (Anhang XVII) in abwaschbaren

Kosmetikprodukten eingebracht.73 Negative gesundheitliche Auswirkungen durch Risse der PIP Implantate können beispielsweise Lymphadenopathie (Schwellung der Lympfknoten) und Silikonome (Kotiges Gewebe um Silikonpartikel) sein – eine erhöhte Gefahr von Krebs und/oder Irritationen durch D4 und D5 können derzeit nicht nachgewiesen werden.

Regelmäßige Untersuchungen werden für Personen mit PIP-Brustimplantaten empfohlen – eine vorsorgliche Entfernung von intakten PIP-Implantaten wird seitens des SCENIHR (Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks) jedoch nicht

66 AFSSAPS; Topical Report - PIP Silicone Gel Pre-Filled Implants, 06/2011, S. 1. Online verfügbar unter

http://ansm.sante.fr/var/ansm_site/storage/original/application/39acdab927235584ccfa340e4a9d3896.pdf, zuletzt geprüft am 02.03.2016

67 Reuters Editorial; The great French breast implants scandal, 02/2012. Online verfügbar unter http://graphics.thomsonreuters.com/specials/Implants.pdf, zuletzt geprüft am 02.03.2016

68 Die Welt; Brustimplantate-Hersteller muss vier Jahre in Haft. Online verfügbar unter

http://www.welt.de/wirtschaft/article154966804/Brustimplantate-Hersteller-muss-vier-Jahre-in-Haft.html, zuletzt geprüft am 21.11.2016

69 EK - SCENIHR; Opinion on: The safety of Poly Implants Prothèse (PIP) silicone breast implants - Update of the Opinion of February 2012 (ISBN: 978-92-79-30104-9), 12.05.2014

70 AFSSAPS; Breast implants with silicone based gel filling from Poly Implant Prothèse Company: Update of tests results, 14.04.2011. Online verfügbar unter

http://ansm.sante.fr/var/ansm_site/storage/original/application/a2a42a100397ef195ce58b25356e9208.pdf, zuletzt geprüft am 03.03.2016

71 EK - SCENIHR; Opinion on: The safety of Poly Implants Prothèse (PIP) silicone breast implants - Update of the Opinion of February 2012 (ISBN: 978-92-79-30104-9), 12.05.2014, S. 11

72 EK - SCENIHR; Opinion on: The safety of Poly Implants Prothèse (PIP) silicone breast implants - Update of the Opinion of February 2012 (ISBN: 978-92-79-30104-9), 12.05.2014, S. 10

73 Health and Safety Executive UK; Annex XV Restriction Report - Proposal for a Restriction, Version 1.1, Juni 2015

empfohlen.74 Einige Länder gehen dieser Empfehlung nicht nach und raten generell zur Entfernung der Implantate (z.B. Deutschland75).

Alleine in Frankreich wurde die Zahl der Frauen, die Implantate von PIP zwischen 2001 und 2010 erhalten haben, auf 30.000 geschätzt. 2011 wurde offiziell die Empfehlung zur

Explantation an Frauen mit PIP Implantaten in Frankreich ausgesprochen. Von 2001 bis 2012 wurden in Frankreich 14990 Implantate der Firma PIP wieder explantiert.76

3.3.1.2 Vorwürfe gegen die zuständige benannte Stelle

Infolge der Aufdeckung des PIP Skandals und der generellen Empfehlung der französischen Behörden die Implantate entfernen zu lassen, kam auch die zuständige benannte Stelle zunehmend ins Visier geschädigter Frauen sowie Krankenversicherungen.

Seit deren Reklassifizierung im Jahre 200377 gehören Brustimplantate zur Klasse III (bis 2003: Klasse IIb) – sind also Hochrisikoprodukte nach 93/42/EWG. Eine benannte Stelle ist somit für das Inverkehrbringen erforderlich. Im Falle von PIP Implantaten war die benannte Stelle der TÜV Rheinland, welche 1997 auch die Konformitätsbewertung nach Anhang II der RL 93/42/EWG (vollständiges Qualitätssicherungssystem) beaufsichtigte. Bei dem gewählten Verfahren nach Anhang II werden von der benannten Stelle keine Produktprüfungen (=

Baumusterprüfungen) durchgeführt, sondern das Qualitätssicherungssystem samt Dokumentation überprüft gefolgt von regelmäßigen (angekündigten) Audits. Ermittlungen ergaben, dass PIP die benannte Stelle bewusst getäuscht und Unterlagen zur Verwendung des zugelassenen Rohstoffes sowie den Rohstoff selbst (medizinisches Silikon (NuSil)) bei Audits immer vor Ort hatte. Nachdem der Betrug von PIP aufgedeckt wurde, hat TÜV Rheinland die ausgestellten Zertifikate ausgesetzt. 78

Eine derart betrügerische Vorgehensweise kann von benannten Stellen nur schwer

identifiziert werden. Im Fall von PIP wurde die benannte Stelle jedoch bereits 2007 von der englischen Gesundheitsbehörde auf Unstimmigkeiten im Vigilanz-Reporting sowie

Qualitätsprobleme von PIP Produkten aufmerksam gemacht. Beim folgenden

Rezertifizierungsaudit durch den TÜV Rheinland wurde das Vigilanzsystem zwar überprüft, PIP konnte jedoch glaubhaft machen, dass es sich um einen Einzelfehler handle und der

74 EK - SCENIHR; Opinion on: The safety of Poly Implants Prothèse (PIP) silicone breast implants - Update of the Opinion of February 2012 (ISBN: 978-92-79-30104-9), 12.05.2014, S. 11–12

75 BfArM; Brustimplantate "PIP" und "Rofil": Risiken, Informationen, Empfehlungen. Online verfügbar unter

http://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/risikoerfassung/empfehlungen/PIP/_node.html, zuletzt geprüft am 03.03.2016

76 ANSM; PIP Breast Implants - Situation update, 04/2013, S. 12. Online verfügbar unter

http://ansm.sante.fr/var/ansm_site/storage/original/application/ea94f5f3532f4f831d6a923ef553a77e.pdf, zuletzt geprüft am 05.03.2016

77 RL 2003/21/EG der Kommission vom 3. Februar 2003 (ABl. L 28 vom 04.02.2003, S. 43-44)

78 TÜV Rheinland; Hintergrundinformation zur Tätigkeit von TÜV Rheinland im Zusammenhang mit Brustimplantaten von PIP.

Online verfügbar unter http://www.tuv.com/de/deutschland/ueber_uns/presse/hintergrundinformation.html, zuletzt geprüft am 03.03.2016

Prozess bereits unter Kontrolle sei.79 Einen Grund für unangekündigte Audits sah die benannte Stelle nicht. Nach Aufdeckung des Umfangs und gesundheitlicher bzw.

medizinischer Konsequenzen der Betroffenen sowie finanzielle Auswirkungen wurden zahlreiche Klagen gegen den TÜV Rheinland eingebracht. Im November 2013 wurde die benannte Stelle zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 3.000 € an betroffene Frauen verurteilt. Dieses wurde jedoch in zweiter Instanz widerrufen. Auch die Klagen von

Krankenkassen, zum Beispiel der AOK, wurden zurückgewiesen.80