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Die Herausbildung des Parteienspektrums

Im Dokument Vorwärts in die Vergangenheit (Seite 128-155)

3. 1991 bis 1994: Institutioneller Umbau ohne Euphorie

3.2. Die Akteurs- und Interessenkonstellationen

3.2.2. Die Herausbildung des Parteienspektrums

Faktisch sofort nach Erlangung der Unabhängigkeit begann die Opposition um die "Volks-front", sich zu fragmentieren. Die Breite der Anhängerschaft der BNF, die es ihr zunächst er-möglicht hatte, das politische Spiel entscheidend zu beeinflussen, stellte sich in der Folgezeit, als es um die Erarbeitung einer konkreten, konstruktiven politischen Programmatik ging, zu-nehmend als Hindernis dar. Als sich im Kampf um die Durchsetzung der eigenen Interessen die Nationaldemokraten unter Paz'njak gegen den sozial-reformistischen Flügel durchzusetzen begannen, zogen sich ihre Gegenspieler zunächst auf die regionale Ebene zurück. Es entstand eine Art moderne Kaderpartei mit starker Trennung zwischen der Führung aus angesehenen belarussischen Persönlichkeiten, so verschiedenen Schriftstellern, und der Basis, deren Grundorganisationen (rady) v.a. von Vertretern der sozial-reformistischen Linie geleitet wur-den.181 Diese Kombination der traditionellen sowjetischen Massenorganisation unter einem autoritären Führer mit neuen politischen Ideen war nicht nur ein wesentlicher Grund für den vorübergehenden Erfolg der BNF in der Bevölkerung, sondern führte auch dazu, daß ein Teil der Opposition, insbesondere Intellektuelle, aufgrund ihrer geringen Einflußmöglichkeiten zunehmend in eigene Parteien abwanderte. Dadurch dominierten die nationalistischen Kräfte nicht nur agenda-setting und Struktur der "Volksfront", sondern sie verhielten sich auch am-bivalent gegenüber den neuen Parteien. Paz'njak sprach ihnen jegliche Zukunft ab und forder-te sie zur Eingliederung in die BNF auf.182

181 Vgl. Krivickij/Nosov, Belorusskaja, S. 13.

182 Vgl. Turevich, Byelorussia, S. 12.

Die Kontakte zu den ersten nicht-kommunistischen Parteien, die zunächst fast ausnahmslos über ihre jeweilige Führung mit der "Volksfront" verbunden waren, wurden durch diesen Konflikt und zunehmende Konkurrenzperzeptionen belastet.183 Die liberale und antikommu-nistische Vereinigte Demokratische Partei (ADPB),184 die National-demokratische Partei (NDPB), die Bauernpartei (BSP), die Christ-demokratische Union (BChDZ) sowie die Sozial-demokratische Hramada (BSDH) - alle 1991 offiziell registriert - bemühten sich jeweils um ein eigenes Profil. Die Hramada, der 1992 elf Abgeordnete der "Volksfront"-Fraktion ange-hörten, trat im selben Jahr aus der BNF-Bewegung aus, kooperierte jedoch auch danach noch mit ihr.185 Alle neuen Parteien vertraten vorrangig Ziele, die im Gegensatz zum bestehenden politischen und ökonomischen System standen. Dabei ließen sie sich von bestimmten Werte- und Ideensystemen leiten.186 Rußland- bzw. UdSSR-freundliche und auf Redistribution und soziale Sicherheit orientierte Parteien bildeten sich tendenziell später, da die Verfolgung ihrer Ziele zunächst keine akute Bedeutung besaß (die Reformen schritten ohnehin nur langsam voran) und die Verwendung oder Verfechtung des Begriffes „Sozialismus“ und damit in Ver-bindung stehender Politikinhalte zunächst nicht sehr populär war.187 Einen Sonderfall stellte die am 7.12.1991 gegründete und am 26.5.1992 registrierte Partei der Kommunisten von Be-larus' (PKB) dar, die auf diese Weise auf die Suspendierung der KPB reagierte.188

Da die neuen Parteien ihre Existenzlegitimation aus politischer Einflußnahme ziehen muß-ten, strebten sie nach rascher Teilhabe an der Macht und politisch-institutionellen Reformen.

Um ihre Kräfte zu bündeln, beriefen am 6.1.1992 die Sozialdemokraten, die Vereinigte De-mokratische Partei, die Nationaldemokraten, die Bauernpartei, die "Volksfront" und verschie-dene Streikkomitees einen Konsultativkongreß der demokratischen Parteien und Bewegungen ein. Sie forderten die Suspendierung des amtierenden Obersten Sowjets per Referendum so-wie anschließende Neuwahlen. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt schwelten Zerwürfnisse

183 Vgl. Timmermann/Schneider, Voraussetzungen, S. 38 f.

184 In die ADPB gingen auf ihrem Gründungskongreß am 3./4.11.1990 neben Angehörigen der Demokrati-schen Plattform der KPB auch die nicht-registrierten Akteure Demokratische Partei (Minsk), Radikal-demokratische Partei (Minsk), Demokratische Partei (Brest) und Liberal-Radikal-demokratische Partei (Vicebsk) ein.

Bobkov, Vladimir A. u.a., Politologija, Minsk 1996, S. 281 f.

185 Vgl. Politikinformation Osteuropa, 43/1994, S. 9.

186 Sie forderten umfangreiche demokratische Reformen, eine stärkere Unabhängigkeit des Individuums vom Staat, eine liberale Wirtschaftspolitik, dabei insbesondere die Privatisierung der Staatsbetriebe und der kol-lektiven Landwirtschaft, die Aufrechterhaltung der nationalen Selbstbestimmung, verbunden mit einem neutra-len Status oder der engen Einbindung in Westeuropa.

187 Aus diesem Grunde strebte etwa die BSDH formal eine „Solidargemeinschaft“ (solidarnoe obÓ…estvo) an. Erst wesentlich später nutzte sie zur Zielformulierung wieder offiziell den Terminus (demokratischer)

"Sozialismus".

188 Vgl. Karbalevi…, Valerij u.a., Stanovlenie mnogopartijnoj sistemy v Belarusi, Minsk 1994, S. 5 ff.;

Übersichten in Novye obÓ…estvenno-politi…eskie organizacii, partii i dviñenija Belorussii, Minsk 1991; Akademi-ja u.a., Pality…nyAkademi-ja; Bobkov u.a., PolitologiAkademi-ja, S. 281 ff.

zwischen der "Volksfront" und den anderen Parteien, die ihrerseits prinzipiell ihre Kooperati-onsbereitschaft betonten. Sie warfen jedoch der BNF "Nationalradikalismus" vor, da sie dazu aufrief, eine eigene starke Streitmacht zu schaffen.189 Dies schwächte die Interessenkoalition erheblich; die BNF schloß sich dem am 2.2.1992 gebildeten Koordinierungsrat des Blockes

"Neues Belarus'" nicht an.190 Hintergrund des Konfrontationskurses war die Tatsache, daß ei-ne "Volksfront"-eigeei-ne Initiativgruppe bereits Unterschriften für die Initiierung eiei-nes Refe-rendums sammelte und den Erfolg für sich verbuchen wollte.191 Die Zersplitterung der Oppo-sition erleichterte es Parlament und Regierung, den Protest gegen ihren konservativen Kurs zu ignorieren. Gleichzeitig reflektierte der Konflikt das reale Dilemma, daß eine zu frühe Auflö-sung des Anti-Regime-Blocks - wie in diesem Falle - die Anfänge der Demokratisierung be-hindern, eine zu späte Pluralisierung jedoch die Ausbildung einer echten Wettbewerbsdemo-kratie gefährden kann.192

Im Zuge der Interessenfraktionalisierung entstanden 1992 bis 1993 in Belarus' weitere zehn Parteien, die nun eher dem linken Spektrum zuneigten, so die Vereinigte Agrar-demokratische Partei (AADPB), das Slawische Konzil "Belaja Rus'" (SSBR), die Partei der Volkseintracht (PNZ) oder die Partei der Arbeit (BPP). Einige dieser Parteien wurden von Vertretern der Staats- und Wirtschaftsnomenklatura gegründet, so die PNZ vom reformorien-tierten Teil des Staatsapparates, der Wissenschafts- und Produktionskongreß (PBNVK) durch Direktoren von Industriebetrieben und die AADPB durch landwirtschaftliche Führungskräf-te.193 Die Partei der Grünen (PZB) und die Geisteswissenschaftliche Partei (BHP) besaßen dagegen von Anbeginn wenig Aussicht auf politische Einflußnahme.194 1993 gründete auch die "Volksfront" parallel eine eigene Partei, da sie sich davon organisationstechnische Vortei-le erhoffte, den Bewegungscharakter jedoch nicht gänzlich aufgeben wollte. Von Januar bis Mai 1994 stimulierten die innenpolitische und ökonomische Krise und die nahenden Präsi-dentschaftswahlen noch einmal die Gründungseuphorie: Sieben neue Parteien entstanden, darunter die sozialdemokratische Frauenpartei "Hoffnung" (BPðN) und die Liberal-demokratische Partei (LDP). Während letztere reformorientierte Wirtschaftsakteure anzog, schufen Mitarbeiter der "Assoziation der unabhängigen Industriegewerkschaften" die Partei

189 Vgl. Götz/Halbach, Lexikon, S. 75.

190 Sie verunglimpfte den Kongreß zudem als "Reanimation der neobolschewistischen Losung der 'Konso-lidierung', einer allgemeinen künstlichen Einheit, welche die nomenklatura unbedingt zum Machterhalt benö-tigt." Die Einrichtung des Blockes, der sich selbst als "Union der demokratischen Kräfte von Belarus' zum Schutz der Republik" bezeichnete, behindere faktisch die demokratische Bewegung für einen Volksentscheid und desorientiere das belarussische Volk. Zit. nach Akademija u.a., Pality…nyja, S. 47.

191 Paz'njak erklärte öffentlich: "Die Opposition bin ich." Wiedergabe durch Zeitzeugen.

192 Vgl. Przeworski, Adam, Spiel mit Einsatz, in: Transit 1 (1990), S. 190-211, hier S. 199.

193 Vgl. Karbalevi…, Belorusskaja, S. 5.

der Arbeit (BPP). Indes besaßen in dieser Phase lediglich die Kommunisten, die "Volksfront"

und die Agrarier politische Relevanz, mißt man diese an dem formalen Erfolg, mindestens einmal fünf Prozent der nationalen Parlamentsmandate errungen zu haben, bzw. am Zugang informellen Kanälen der Interessenartikulation (AADPB). Nur wenige einflußreiche Personen engagierten sich in den anderen Parteien.195

Die Belarussische Partei der Kommunisten (PKB) war mit ca. 20.000 Mitgliedern die größte der relevanten Parteien. Sie besaß als einzige eine echte Tradition und deshalb trotz KPB-Suspendierung einen erheblichen Vorsprung hinsichtlich Organisationsgrad und infor-mellen Beziehungen innerhalb der staatlichen Subsysteme. Der größte Teil ihrer Anhänger und Mitglieder stammte aus dem Staatsapparat.196 Die innerparteiliche Entwicklung war cha-rakterisiert durch den weiter anhaltenden Generationswechsel und eine innere Pluralisie-rung.197 Trotzdem versuchten die Kommunisten erfolgreich, organisatorisch und in ihrer Au-ßendarstellung Geschlossenheit zu zeigen. Die Nachfolgepartei der KPB vereinigte sich nach der Aufhebung von deren Suspendierung durch den Obersten Sowjet am 3.2.1993 rasch mit der KPB zur PKB.198 Aufgrund ihres ideologischen Universalanspruches besaßen die Kom-munisten außerdem eines der wenigen Parteiprogramme, das sich umfassend mit allen Politik-feldern befaßte. Sie vertraten traditionelle sowjetische Werte und kommunistische Ziele, be-kannten sich aber zur Demokratie, nationaler Souveränität (solange das Volk nichts anderes wünsche) und Mehrparteiensystem.199 Die PKB ließ sich daher insgesamt als reformkommu-nistisch einstufen.

194 Siehe Akademija u.a., Pality…nyja.

195 Hierzu zählten etwa der Volksdeputierte und Leiter der Stadtexekutive von Maladze…na, Henadz' Kar-penka (PNZ) oder der ehemalige UdSSR-Deputierte Aljaksandr Dabravol'ski (ADPB). Siehe auch Karbalevi…, Stanovlenie.

196 Vgl. Karbalevi…, Stanovlenie, S. 6.

197 Vor dem Hintergrund des fortschreitenden institutionellen Wandels in den Nachbarrepubliken zeigte sich bei vielen PKB-Mitgliedern eine wachsende Reformneigung. Zudem waren viele KPB-Mitglieder der neuen Partei nicht beigetreten. Die Reforströmung mobilisierte wiederum die konservativen Kräfte, die sich um den ehemaligen KPB-Ideologiechef Viktar „ykin und Andrej Sokalaß organisierten. Die Differenzen zwischen dem reformerisch, pragmatisch und national orientierten "Realo"-Flügel unter Sjarhej Kaljakin und dem konservati-ven Flügel vertieften sich dadurch.

198 Der Beschluß zur Vereinigung unter dem Namen PKB erfolgte Ende Mai 1993 auf dem außerordentli-chen XXXII. Parteitag der Kommunistisaußerordentli-chen Partei von Belarus und dem II. (Vereinigungs-)Parteitag der Partei der Kommunisten von Belarus. Auf ihrem III. Parteitag am 17./18. Dezember 1994 benannte sich die PKB schließlich um in Belarussische Partei der Kommunisten (PKB), da das Parteiengesetz vom 5. Oktober 1994 die Verwendung des Begriffes „Belarus“ für Parteien untersagt hatte. Ihre direkte Verbindung zur sowjetisch-belarussischen KPB kappte sie also nicht. Zur Entwicklung der kommunistischen Bewegung in Belarus siehe CK PKB, Dokumenty; Belaruskija kamunisty, in: Svaboda, 28. 6. 1996, S. 4.

199 Sie sahen ihre historische Aufgabe weiterhin darin, die Interessen aller Werktätigen sowie die Macht der Räte zu verteidigen und den Sozialismus aufzubauen, eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und nationaler Unterdrückung. Die PKB strebte politisch-institutionell eine "echte Volksdemokratie" an und wandte sich pro-grammatisch gegen jegliche Versuche, die bestehenden Sowjets zu liquidieren oder ihre Vollmachten zu be-schränken. Sie fordert eine sozialistische Selbstverwaltung des Volkes, die reale staatliche Souveränität der

Re-Die Vereinigte Agrar-demokratische Partei stand ebenfalls im Erbe des nomenklatura-Systems. Sie gründete sich unter der Ägide des kolchoz-Rates und des Agrarierverbandes 1992 sofort landesweit mit eigenen Grundorganisationen200 und reagierte damit auf die Schaf-fung der liberalen Bauernpartei sowie die Anstrebung landwirtschaftlicher Reformen durch Regierung und Parlament. Teilweise schlossen sich ganze Kooperativen der Agrarpartei an.

Vorsitzender ihres "Politsowjets" wurde der Kebi…-Berater und kolchoz-Vorsitzende Sjamen Òarecki.201 Auch programmatisch blieb die AADPB sowjetischen Traditionen verhaftet.202 Neben der Verfolgung traditioneller "linker" Ziele, wie soziale Sicherheit und materielle Um-verteilung, vertrat die AADPB als deren Lobby vorrangig die Interessen der kolchoz- und sovchoz-Chefs.203 Letztlich fungierte die AADPB als eine Art dörfliche Schwesterpartei der Kommunisten mit lobbyistischer Ausrichtung auf die kollektive Landwirtschaft. Sie profitier-te von der funktionierenden wirtschaftlichen Infrastruktur, ihren Kontakprofitier-ten zu den weiprofitier-terhin nomenklatura-dominierten staatlichen Massenmedien und den Klientelbeziehungen auf dem Lande, die ein hohes Mobilisierungspotential schufen. Viele Parteimitglieder arbeiteten gleichzeitig in staatlichen Behörden und im Landwirtschaftsministerium.204

Die Partei der Belarussischen "Volksfront" sah sich selbst als Volkspartei von "Menschen unterschiedlicher sozialer Stellungen, Professionen und nationaler Religionen" und trat für demokratische Ideale, für einen „starken, unabhängigen Staat“, für soziale Marktwirtschaft und die national-kulturelle Wiedergeburt des Volkes ein.205 Die "Volksfront" bezeichnete sich

publik Belarus' und ihre gleichberechtigte, ausbalancierte "Integration in die Weltgemeinschaft". Siehe Pro-gramma PKB, in: Akademija u.a., Pality…nyja, S. 83-87; Ustav PKB, ebd., S. 88-92.

200 Als einzige Partei wurde die AADPB bereits am Tage ihrer Gründung im Justizministerium offiziell registriert.

201 Vgl. Porträt der Agrarpartei, in: Weißrußland & Unternehmen, 3/1995, S. 13.

202 Als Hauptziel nannte sie die Schaffung eines demokratischen Sozialismus mit Elementen wirtschaftli-cher Konkurrenz und staatliwirtschaftli-cher Regulierung, akzeptierte aber die Existenz unterschiedliwirtschaftli-cher Eigentumsformen, darunter von Privateigentum an Grund und Boden. Kollektiven und agrarische Staatsbetriebe sollten jedoch wei-ter bestehen. Außenpolitisch strebte sie eine volle Wiedervereinigung der GUS-Staaten an. Als ersten Schritt in diese Richtung betrachtete sie die Bildung einer Konföderation zwischen Belarus', Rußland und der Ukraine.

Dorthin konzentrierte die Agrarpartei auch ihre eigenen Außenbeziehungen. Siehe Agrarnaja partija, in: Akade-mija u.a., Pality…nyja, S. 104; Programma Agrarnoj partii, ebd., S. 105-109; Ustav Agrarnoj partii, ebd., S. 109-113.

203 Offiziell bezeichnete sich die Agrarpartei als Vertreterin aller „progressiven Kräfte der Gesellschaft“, insbesondere der "werktätigen Bauern", d.h. jenen, die keine Lohnabhängigen beschäftigten und also für ihren Unterhalt ausschließlich selbst arbeiteten. Diese waren jedoch in der Partei unterrepräsentiert.

204 Vgl. Porträt.

205 Die an Westeinbindung interessierte PBNF konzentrierte ihre Tätigkeit darauf, vor der Perpetuierung der nationalen Traumata Ethnozid (Russifizierung), Genozid (Vernichtungserfahrung, u.a. durch stalinistische Repressionen) und Ökozid („ernobyl'-Katastrophe) zu warnen, da sonst das belarussische Volk in absehbarer Zeit vernichtet werde. Obgleich die "Volksfront" in ihrem Programm durchaus auch Themen wie Wirtschaftsli-beralisierung ansprach, konzentrierte sie ihr Wirken in der Öffentlichkeit in erster Linie auf die Wiederbelebung und Konsolidierung der belarussischen Nation durch Überwindung des "nationalen Nihilismus", insbesondere durch Abschaffung der Zweisprachigkeit und damit der Dominanz des Russischen. Siehe Prahrama BNF

"Adradñen'ne", Minsk 1993; Prahrama PBNF, in: Akademija u.a., Pality…nyja sowie Akademija navuk

Belaru-selbst in ihrem Programm als Partei der Mitte, neigte aber mit ihrer Wirtschaftspolitik und ei-ner zunehmend nationalistischen Sprache eher dem rechten Spektrum zu.206 Noch 1991 war sie der zentrale politische Akteur außerhalb von Parlament, Regierung und Staatsapparat ge-wesen. Ihre Monopolstellung als Motor der Interessenpluralisierung führte jedoch dazu, daß sie auf die neuen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen nur langsam reagierte. Zwar wies die "Volksfront" neben AADPB und PKB als einziger politischer Akteur eine nahezu landesweite Organisationsstruktur auf, doch ihr dauerhafter Rekurs auf nationale und kulturelle Fragen konnte angesichts der gesellschaftlichen und historischen Rahmenbe-dingungen nur mobilisieren, solange er eindeutiger mit allgemein-politischen Zielen verkop-pelt war, wie Demokratisierung oder Wirtschaftsreformen.207 Sobald diese nach 1991 in An-sätzen umgesetzt wurden und politische Parteien und Bewegungen sich frei organisieren durf-ten, verlor die BNF ihren integrativen Charakter als Sammelbecken für politischen Protest ge-gen das herrschende Regime.208 Insbesondere die Rußland-Feindlichkeit der "Volksfront" war ein wichtiger Grund für ihren Popularitätsverlust.209

Obgleich die neuen belarussischen Parteien bereits bis 1994 nahezu das ganze Spektrum politischer Ziele reflektierten - von reformkommunistisch über liberal, christlich-konservativ und nationaldemokratisch bis ökologisch, kulturell oder lobbyistisch - verfügte außer den Kommunisten, Agrariern und der PBNF keine Partei über die notwendigen Ressourcen, um eine landesweite Organisationsstruktur aufbauen zu können.210 Sie entstanden häufig nicht aufgrund spezifischer sozio-ökonomischer Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen, son-dern wurden von wenigen Anhängern bestimmter ideologischer Strömungen gegründet. Da

si/Ministerstva justycyi Respubliki Belarus' (Hrsg.), Pality…nyja partyi Belarusi, Minsk 1996, S. 149-165; Statut PBNF, ebd., S. 166-169; Hoff/Timmermann, Belarus, S. 736 ff.

206 Siehe auch Chadyka, Juras' (Stellvertretender Vorsitzender der BNF), Demakratyja, jak my jae razu-meem, in: ders., Svetapohljadnyja asnovy demakraty…naha ruchu, Mahileß 1993, S. 41-48.

207 Vgl. Prahrama Belaruskaha, S. 10 ff; 15; Lebedev, A./TereÓkovi…, P., Grañdanskie dviñenija v Belorus-sii, Moskau 1991, S. 119-136, 144-147; Vja…orka, Vincuk, BNF, in: Encyklapedyja Historyi Belarusi, Bd. I, Minsk 1993, S. 439-445; Sahm, Nationalbewegung, S. 55; Werdt, Belarus, S. 293 f.

208 Daß die "Volksfront" bestimmte, zahlenmäßig starke Gesellschaftsschichten überhaupt nicht ansprach, hatte sich bereits bei den April-Streiks 1991 gezeigt, als sich die Arbeiter von der BNF zu distanzieren suchten, obgleich diese sich als Protestorganisatorin darstellte. Vgl. Furman/Buchovec, 1996, S. 64; Werdt, Belarus, S.

295; zur Darstellung der Streikaktivitäten durch die BNF siehe Price, Joe, The Situation in Byelorussia (Inter-view mit den Volksfront-Führern Zjanon Paz'njak, Uladzimir Zablocki und Ljavon BarÓ…eßski) in: BR 3 (1991) 1, S. 5-10.

209 Sie warnte immer wieder vor einem vermeintlichen Drang Rußlands zur Vereinnahmung des Landes, obwohl Integrationsbestrebungen eher von Belarus' selbst ausgingen und in der Bevölkerung zunehmend befür-wortet wurden. Paz'njak äußerte sich mehrfach zur seiner Ansicht nach „unterschiedlichen Rassenzugehörigkeit“

von Russen und Belarussen. Vgl. Holtbrügge, Weißrußland, S. 55.

210 Gründe für diese Situation waren die kurze Zeit ihres Bestehens, fehlendes know-how und geringe poli-tische Erfahrung (v.a. bezüglich demokrapoli-tischer Mitwirkungsmöglichkeiten), schlechte finanzielle Ausstattung und (damit) wenige aktive, oft ehrenamtliche Mitarbeiter, die nahezu unveränderte Existenz von Netzwerken der nomenklatura-Eliten, die weite Felder des gesellschaftlichen und politischen Lebens dominieren, deshalb

insbe-sie infolgedessen häufig nur spezifische Milieus bzw. Interessen ansprachen, fehlte ihnen die mobilisierende Kraft. Nur wenige der neuen, zumeist städtezentrierten kleinen Parteien traten zunächst in das Bewußtsein der belarussischen Bevölkerung, insbesondere in den ländlichen Regionen, wo die Mehrheit des Elektorats lebte. Nicht zuletzt das weiter bestehende Mehr-heitswahlsystem gefährdete von Anbeginn die Funktionalität dieser kollektiven Akteure.211 Hinsichtlich der parteipolitischen Programmatik zeigte sich folgendes Bild: 212

W

Abbildung 2: Die politischen Standorte belarussischer Parteien213

Das Innenpolitik- und das Verteilungs-cleavage standen nicht nur im gesellschaftlichen Bewußtsein, sondern auch innerhalb der belarussischen politischen Parteien untereinander in einer engeren Beziehung als zum Integrationskonflikt. So traten die kommunistischen Hardli-ner und die rechten Panslawisten der LDPB über die 1993 geschaffene "Volksbewegung von

sondere schlechter Zugang zu den Medien, Schikanen am Arbeitsplatz gegen erklärte Parteiaktivisten, insbeson-dere von seiten alter Kader, die häufig noch Führungspositionen einnehmen, und Raumnot.

211 Zu den chancenarmen Parteien, den detached parties, gehörten insbesondere die Belarussische Sozial-Sportive Partei, die Partei der Bierliebhaber, die Geisteswissenschaftliche Partei oder der Wissenschafts- und Produktionskongreß. Trotzdem war ihre Existenz ein Symptom dafür, daß sich der politische Pluralismus in Be-larus' zu organisieren begann - eine grundlegende Voraussetzung für Demokratisierung. Insgesamt bestanden sowohl viele neue soziokulturelle als auch neue Programmparteien, die laut Programm ein bestimmtes Werte-konzept anstrebten. Als reformkommunistische Partei etablierte sich nach Auflösung der KPB nur die PKB. Sie-he Lorenz, Entstehung.

212 In Anlehnung an die modelltheoretischen Überlegungen von Kitschelt, Herbert, The Formation of Party Systems in East Central Europe, in: Politics and Society 20 (1992), insbes. S. 17.

213 Die Abbildung basiert nicht auf einer quantitativen Analyse der Parteiprogramme. Sie zeigt die relati-ven Standorte der Parteien innerhalb der cleavage-Matrix. Dabei entspricht die Konfliktlinie politische Redistri-bution - freie Marktallokation im wesentlichen der Links-rechts-Dimension, wie sie in Kap. 3.1.3. hinsichtlich der Wählerverteilung dargestellt wurde. Siehe auch die Verortung bei Karbalevi…, Stanovlenie, S. 16 (Achsen belarussische nationale Idee - Internationalismus sowie Sozialismus - Liberalismus).

Belarus'" (NDB) gemeinsam für eine Ostintegration, insbesondere mit Rußland, ein. Insge-samt bezogen die Kommunisten, die liberalen Vereinigten Demokraten und die "Volksfront"

die am klarsten abgrenzbaren politischen Standpunkte: Die vielen anderen Parteien teilten sich v.a. den linken Zentrumsbereich. Die BNF bildete innerhalb der Innenpolitik-/Integrationsmatrix mit ihrer nationalistischen Politik die einzige Ausnahme unter den kollek-tiven Akteuren. Während ihre Nachbarn BSDH und PNZ sich gegenüber einer Integration nach Westen und Osten gezielt offen zeigten, befürwortete die "Volksfront" einen ganz eige-nen Weg.

Die häufig geringen programmatischen Unterschiede zwischen den kleinen Parteien ver-stärkten ihre diffuse Außendarstellung. Bedeutsam mußte für sie entweder die Hervorbrin-gung prominenter Politiker, die Profilierung als spezifischer politischer Anbieter oder die Er-höhung ihres Koalitionspotentials sein, um als Scharnierparteien fungieren zu können. Eine eher negative Folge der Interessenfraktionalisierung war, daß die große Anzahl der neuen Par-teien nicht dem homogenen gesellschaftlichen Kontext entsprach. Durch die Aufsplittung der Wählerstimmen auf verschiedene politisch ähnlich ausgerichtete Parteien minderten sich die individuellen Chancen der reformorientierten neuen Akteure, Unterstützungspotential für sich zu mobilisieren und damit Zugang zum politischen Entscheidungsprozeß zu finden. Bereits Ende der 1980er Jahre waren die größten Protestdemonstrationen erst durch Kooperation mehrerer politischer Akteure, Organisationen und Gewerkschaften zustande gekommen.214 1993/94 bestanden jedoch erst zwei eher vage und sehr fragile Interessenblöcke. Dem "natio-nal-demokratischen Block" fühlten sich v.a. jene politischen Kräfte zugehörig, für die der Aufbau eines unabhängigen, demokratischen Rechtsstaates, die nationale Wiedergeburt, die

Die häufig geringen programmatischen Unterschiede zwischen den kleinen Parteien ver-stärkten ihre diffuse Außendarstellung. Bedeutsam mußte für sie entweder die Hervorbrin-gung prominenter Politiker, die Profilierung als spezifischer politischer Anbieter oder die Er-höhung ihres Koalitionspotentials sein, um als Scharnierparteien fungieren zu können. Eine eher negative Folge der Interessenfraktionalisierung war, daß die große Anzahl der neuen Par-teien nicht dem homogenen gesellschaftlichen Kontext entsprach. Durch die Aufsplittung der Wählerstimmen auf verschiedene politisch ähnlich ausgerichtete Parteien minderten sich die individuellen Chancen der reformorientierten neuen Akteure, Unterstützungspotential für sich zu mobilisieren und damit Zugang zum politischen Entscheidungsprozeß zu finden. Bereits Ende der 1980er Jahre waren die größten Protestdemonstrationen erst durch Kooperation mehrerer politischer Akteure, Organisationen und Gewerkschaften zustande gekommen.214 1993/94 bestanden jedoch erst zwei eher vage und sehr fragile Interessenblöcke. Dem "natio-nal-demokratischen Block" fühlten sich v.a. jene politischen Kräfte zugehörig, für die der Aufbau eines unabhängigen, demokratischen Rechtsstaates, die nationale Wiedergeburt, die

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