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Die Kompetenzverteilung zwischen den politischen Organen

Im Dokument Vorwärts in die Vergangenheit (Seite 155-159)

3. 1991 bis 1994: Institutioneller Umbau ohne Euphorie

3.2. Die Akteurs- und Interessenkonstellationen

3.3.2. Die Kompetenzverteilung zwischen den politischen Organen

Nachdem die "Volksfront" seit 1990 im Obersten Sowjet vertreten war und die Souveräni-tätserklärung die Gestaltungshoheit des nationalen Parlaments explizit über die aller anderen Strukturen gestellt hatte, bestand die Chance, den rein formalen Parlamentarismus der UdSSR unter veränderten politischen Vorzeichen zum Leben zu erwecken.293 Doch die neue Verfas-sung folgte einem präsidentiell-parlamentarischen Mischsystem. Der Oberste Sowjet verzich-tete mit ihr – wie in allen vorherigen Entwürfen - freiwillig auf einen Teil jener Kompetenzen, die ihm nach der sowjetischen Gesetzgebung formal zugestanden hatten. Grund hierfür war, wie geschildert, das Kalkül der kommunistischen Abgeordneten, daß sie selbst den Präsiden-ten stellen und sich über diesen gegen die zukünftigen DeputierPräsiden-ten anderer Parteien effektiv durchsetzen würden. Entsprechend hatten sie das neue Amt des Staatspräsidenten – ähnlich wie in allen GUS-Staaten – mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet. Er wurde nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Chef der Exekutive und Oberkommandierender der Armee.

Dies sollte eine effektive Entscheidungsfindung befördern.Allerdings wurden in Artikel 6 der Verfassung explizit die Gewaltenteilung und ein System aus checks und balances zwischen Legislative, Exekutive und Judikative festgeschrieben.294

291 Siehe u.a. Schramm, Verfassung.

292 Siehe Kap. 3.1.3.

293 In der belarussischen Verfassung von 1978 war deklariert worden, daß die Macht in der Republik dem Volk unterliege, das diese unmittelbar oder über die Vertretungsorgane realisiere. Das höchste Vertretungsorgan der Staatsmacht galt als einziges Staatsorgan, welches das Recht besaß, im Namen des Volkes aufzutreten.

294 Vgl. auch im folgenden Tichinja u.a., Konstitucija; Lukashuk, Draft. (Der Verfassungsentwurf vom Herbst 1993 und die endgültige Verfassung unterschieden sich hinsichtlich des Kompetenzverhältnisses zwi-schen den politizwi-schen Organen nicht sehr stark.)

Von einem reinen Präsidialsystem unterschied sich das Institutionengefüge in Belarus' in erster Linie durch den Umstand, daß der Präsident das Parlament nicht auflösen konnte. Er durfte jedoch ohne Erlaubnis des Obersten Sowjets Ministerien und Behörden schaffen und abschaffen, Richter ernennen, Kandidaten für die Posten des Premierministers, des KDB-Chefs und der Vorsitzenden der Schlüsselministerien für Verteidigung, Auswärtige Angele-genheiten, Inneres und Finanzen, des Verfassungsgerichtes, des Obersten Gerichtes, des Obersten Wirtschaftsgerichtes sowie der Nationalbank nominieren (die das Parlament bestäti-gen mußte), Verhandlunbestäti-gen mit anderen Staaten führen und internationale Verträge unter-zeichnen (die vom Obersten Sowjet ratifiziert wurden), mit Bestätigung des Parlaments Not-zustände verhängen, sein Veto gegenüber Gesetzen einlegen (das vom Obersten Sowjet durch Zweidrittelmehrheit überstimmt werden konnten), als Chefkommandeur der Streitkräfte und der Zivilverteidigungseinheiten fungieren (das Recht, den Krieg zu erklären, besaß allerdings der Oberste Sowjet) sowie andere Aufgaben erfüllen, die ihm Verfassung und Gesetzgebung zuschrieben. Das Ministerkabinett sollte dem Präsident gezielt dazu dienen, seine Vollmach-ten auf dem Gebiet von Wirtschaft, Außenpolitik, Verteidigung, nationaler Sicherheit, Schutz der gesellschaftlichen Ordnung u.a. zu realisieren. Die Regierung besaß zwar das Recht auf die selbständige Annahme von Akten mit landesweit bindender Wirkung, doch konnte der Präsident diese ebenso wie Maßnahmen der ihm unterstellten Behörden aufheben. Er regelte zudem das Zusammenwirken von Kabinett und Staatsapparat.295 Daß der Premier und die Machtminister nur mit Einverständnis des Obersten Sowjets ernannt und entlassen werden konnten, verlieh der Regierung zwar formal eine gewisse Autonomie gegenüber dem Präsi-denten.296 Allerdings verschaffte dem Präsidenten seine Direktwahl durch die Bürger einen Legitimitätsvorsprung gegenüber dem Parlament und sicherte ihm damit eine starke Verhand-lungsposition im politischen Prozeß. Er mußte während seiner Amtszeit von fünf Jahren Par-teimitgliedschaften ruhen lassen und durfte nur einmal wiedergewählt werden.

Der jeweils für fünf Jahr gewählte Oberste Sowjet mit nun noch 260 Sitzen (u.a. keine oh-ne Wahl vergebeoh-nen Mandate an Vertreter gesellschaftlicher Organisatiooh-nen mehr) besaß weiterhin die Gesetzgebungskompetenz.297 Zur Aushandlung und Vorbereitung normativer Akte, aber auch zur Kontrolle ihrer späteren Implementation durch die Exekutive sollten

295 Tichinja u.a., Konstitucija, S. 146 f.

296 Vgl. LevÓunov, Politi…eskaja, S. 17.

297 Das Recht zum Einbringen von Gesetzesinitiativen im Obersten Sowjet besaßen gemäß Art. 90 die Ab-geordneten und die ständigen Kommissionen, der Präsident, das Oberste Gericht, der Oberste Wirtschaftsge-richtshof, der Generalstaatsanwalt, die Kontrollkammer, die Nationalbank und Gruppen von mindestens 50.000 wahlberechtigten belarussischen Bürgern. Zu verfassungsrechtlichen Veränderungen nach der Erlangung der Unabhängigkeit siehe auch Lukashuk, Belarus.

besondere die ständigen parlamentarischen Ausschüsse dienen. Die Tätigkeit der Legislative wurde durch das Präsidium unter dem Vorsitzenden organisiert. Zu den weiteren Kompeten-zen der Berufsabgeordneten298 zählte die Ernennung des Generalstaatsanwaltes, des Obersten, Höchsten Wirtschafts- und des Verfassungsgerichtes, der Kontrollkammer, der National-banksleitung und der Zentralen Wahlkommission. Die Ernennung der Vorsitzenden der Na-tionalbank und der obersten Gerichte befand sich in gemeinsamer Kompetenz von Präsident und Parlament. Dem Obersten Sowjet oblag es zudem, die Grundrichtungen der Innen- und Außenpolitik und die Militärdoktrin zu bestimmen. Das Parlament konnte den Präsidenten im Falle schwerer Verfassungsverstöße oder von Schwerstverbrechen des Amtes entheben. Zur Initiierung des impeachment-Verfahrens waren mindestens 70 Unterschriften nötig. Die Frage der Verfassungsverstöße mußte das Verfassungsgericht auf Anfrage klären. Für die endgültige Amtsenthebung war – ohne Einhaltung von Fristen - eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordne-ten notwendig. Im Falle einer Vakanz des PräsidenAbgeordne-tenamtes übernahm der Vorsitzende des Obersten Sowjet als Interimsstaatschef automatisch seine exekutiven Vollmachten bis zur er-folgreichen Neuwahl des Staatsoberhauptes innerhalb von drei Monaten. Die Befugnis zur Auflösung des Parlaments hingegen besaß weiterhin nur dieses selbst.

Eines der größten Probleme der neuen Verfassung war aber nicht die Regelung der indivi-duellen Freiheiten oder die Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative, son-dern die institutionell ungeklärte und schwache Position der Judikative, insbesondere des Ver-fassungsgerichtes aus elf Richtern als des potentiell wichtigsten Hüters der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit. So war nicht geregelt, wer im Zweifelsfalle als letzte Instanz das Grundgesetz und die weitere Gesetzgebung auslegen dürfe. Zum einen wurde die judikative Macht, die dies üblicherweise einschließt, den Gerichten übertragen, darunter dem einzurich-tenden Verfassungsgericht (Art. 109). Zum anderen erhielt der Oberste Sowjet in Art. 83 ex-plizit das Recht, Verfassung und Gesetze zu "interpretieren". Verschärft wurde diese Konstel-lation dadurch, daß die Regelungen zum Verfassungsgericht nicht im Abschnitt IV standen, der die Positionen von Exekutive, Legislative und Judikative bestimmte, sondern im Ab-schnitt VI zur "Staatskontrolle und Supervision", wodurch es formal gar nicht zur Judikative gehörte. Obwohl das Verfassungsgericht das einzige Gericht war, das sich zu Verfassungsfra-gen äußern durfte, konnte es also weder das Parlament oder die Regierung noch den Präsiden-ten effektiv kontrollieren, sondern stand lediglich dem ObersPräsiden-ten Gericht auf dessen Anfrage hin als beratende Instanz in entsprechenden allgemeinen, nicht fallgebundenen Fragen zur

298 Erstmals wurde eine formale Exklusivität der parlamentarischen Tätigkeit eingeführt: Abgeordnete durften laut Art. 92 nicht gleichzeitig den Posten des Präsidenten, eines Kabinettsmitglieds, Richters oder ein

Verfügung. Klagen von Bürgern vor dem Verfassungsgericht waren trotz des starken Ge-wichts von Individualrechten im Grundgesetz nicht vorgesehen.299 Zudem beschnitt die Ein-mischung des Parlaments in judikative Fragen auch klar die Gewaltenteilung. Es war damit nicht gewährleistet, das verfassungswidrige Gesetze von einer neutralen Partei sanktioniert würden. Ein entsprechender Änderungsvorschlag war während der Aushandlung der Verfas-sung eingereicht, jedoch vom Obersten Sowjet abgelehnt worden, der sich diese Machtres-source sichern wollte. Die unzureichenden formalen Regelungen in der Verfassung schufen dadurch aber im Zusammenspiel mit den informellen Institutionen einer kaum ausgeprägten Rechtskultur und der Präferenz individueller Problemlösungsstrategien die Gefahr einer schwachen Implementierbarkeit und Kontrolle der in der Verfassung verankerten Grundsät-ze.300

Die neue Verfassung regelte nur die wesentlichen Grundzüge der belarussischen Staatlich-keit, die der Stabilität des politischen Systems dienen sollten und daher dem Einfluß der Ab-geordneten weitgehend entzogen wurden. Die Ausgestaltung des politisch-institutionellen Set-tings und damit die endgültige Kompetenzabgrenzung zwischen den einzelnen Verfassungs-organen wurde später zu verabschiedenden Einzelgesetzen bzw. den jeweiligen Amtsinhabern (dem Präsidenten etwa die Ausgestaltung des Exekutivbereiches) überlassen. Zu den wichti-gen ausstehenden Gesetzen zählte etwa ein neues demokratisches Wahlrecht. Derartige dele-gierende Verfassungselemente sind üblich bei Angelegenheiten, die auf die Weiterentwick-lung der konstitutionellen Regeln in der Zukunft gerichtet sind. Sie werden häufig durch mit qualifizierter Mehrheit änderbare Parlamentsgesetze ausgehandelt, die eine Integration der wichtigsten politischen Kräfte fördern sollen.301 Die Arbeitsweise des weiterhin personell un-veränderten Obersten Sowjets in Belarus' deutete aber auf einen längeren

anderes vom Präsidenten (mit-)besetztes Amt einnehmen.

299 Diese Regelung fand im Obersten Sowjet aus pragmatischen Gründen einen Konsens: Es gebe, so die Abgeordneten, zuwenig Verfassungsrechtler. Daher sei ein Fallfilter für das Verfassungsgericht nötig.

300 In der patrimonial-sultanistischen Bürokratie der späten Sowjetunion hatten, wie geschildert, im Gegen-satz zu den autoritär-technokratischen Bürokratien der sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas weniger ge-schriebene Gesetze als Instruktionen sowie Mechanismen der persönlichen Privilegierung und Sanktionierung mittels Verfügungsgewalten über Anteile des staatlichen Eigentums den politischen Prozeß geregelt. Dadurch besaßen persönliche informelle Beziehungsnetzwerke eine besondere Bedeutung und erfüllten zum Teil Funk-tionen der vertikalen Aushandlungs-, weniger der Kontrollmechanismen westlicher Demokratien. Allerdings sind Unterschiede in der individuellen Interpretation von Verfassungsnormen allen nicht-totalitären Regimes ei-gen. Vgl. Potupa, Belorusskie, S. 3; Hryb, Me…aslaß, Kanstytucyja RB – asnova kansalydacyi naÓaha hra-madstva, in: ders., Na, S. 42-46, hier S. 45 f. sowie Shaw, Constitution sowie McAdams, Justice; Macków, Jer-zy, Parlamentarische Demokratie und Autoritarismus, Hamburg 1998, S. 21.

301 Vgl. die Grundprämissen des komparatistisch angelegten Projekts Arrangements and Costs of Elections, das verschiedene Ländergruppen untersucht. Hier Santolaya, Pablo/IZiguez, Diego, Legislative Framework: The Constitution, URL: http://www.aceproject.org/main/english/lf/lfb01/default.htm, 27.9.1999.

zeß hin, der wiederum – ebenso wie die genannten Regelungslücken - das akonstitutionelle

"Schaffen von Fakten" durch die Amtsinhaber förderte.302

Offizielles Ziel der Verfassungsväter war, wie geschildert, die Installation eines demokrati-schen Rechtsstaates. Formal erfüllte das neue belarussische Grundgesetz die verschiedenen Verfassungsfunktionen: Konstitutierung, Begrenzung bzw. Kontrolle von Macht, Legitimati-on vLegitimati-on Herrschaft, IntegratiLegitimati-on (Schutz der Bürger vor Unbillen und Sicherung der Grundver-sorgung), Selbstfestschreibung bzw. Selbstvergewisserung.303 Trotz der geschilderten Unzu-länglichkeiten der 1994er Verfassung, die Basis für gravierende Machtkrisen sein konnten, war ihre Verabschiedung doch ein bedeutender Schritt in Richtung der genannten Ziele, das Prinzip der Gewaltenteilung, ein breites Spektrum an Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten, unabhängige Gerichte und ein demokratisches Wahlgesetz bildeten als erweiterte bzw. neue Institutionen konstituierende Elemente einer zukünftigen Demokratie.304 Das Aus-land beurteilte die Verfassung daher überwiegend positiv.305 Interessanterweise schrieben be-larussische Analytiker dem neuen Institutionensystem einen präsidentenorientierten Charakter zu, während westliche Beobachter davon ausgingen, daß weiterhin ein demokratieförderliches Übergewicht zugunsten des Parlaments verankert war.306 Dagegen hatten, wie geschildert, die Gegner der Kompetenzverteilung in der neuen Verfassung, darunter die "Volksfront"-Opposition und Ex-speaker ÒuÓkevi…, kritisiert, sie fördere die Entstehung einer Diktatur.

Beide Wertungen basierten auf einem jeweils spezifischen Erfahrungshorizont.307

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