• Keine Ergebnisse gefunden

3.3 Klassifizierung

3.3.1 Harmonie-Instabilit¨ at-Spaltung-Konsolidierung (HISK) 40

3 Klassifizierung 40 meisten Kinder vertiefen sich in ihr eigenes Spiel und begleiten es durch beschreibende Verbalisierungen.2

den b¨osen Zauberer und fl¨uchtet sich erschrocken in die Sicherheit der Familie zur¨uck. Wenn das Kind dort angekommen ist, spielt der B¨ose keine Rolle mehr.

Bedrohungen sind selten, und k¨onnen meist der Familie nichts anhaben.

Die Polarisierung der beiden Geschlechter findet bestenfalls nominal statt, das Kind pflegt in seinen Beziehungen nicht zwischen den Ge-schlechtern zu unterscheiden. Letztlich sind Mutter und Vater dasselbe:

Eltern.

Auch Gut und B¨ose wird nicht unterschieden. Das Kind weist den M¨ ar-chenfiguren unterschiedslos den Rang von Nebenfiguren zu. Die meisten Kinder verwenden sie ¨uberhaupt nicht. Sie wirken nicht interessant.

Manchmal werden sie aufgestellt und dann vergessen. Der Kern des Interesses und der Lebenswelt des Kindes scheint die Familie und ihre Alltagsaktivit¨aten: Herumlaufen, Essen und Schlafen. Die Harmonie innerhalb der Familie wird als sicher und stabil erlebt.

Die Bewegungen sind nahezu ausschließlich naiv-geod¨atisch. Der tren-nende Charakter der Schlucht wird nicht realisiert. Dementsprechend besteht kein Grund, das Brett als Br¨ucke zu verwenden.

Instabilit¨at: Das Thema Familie wird in Spielen dieses Typus sichtlich krisenhaft gestaltet. Der Zusammenhalt der Familie ist strukturell unm¨oglich. Das Zusammensein verhindert nicht eine b¨ose Figur. Viel-mehr ist typischerweise einfach in einer der H¨ohlen oder auf einer der beiden Bergh¨alften

”zu wenig Platz“. Auf der Spiellandschaft kann man dagegen alle Figuren zusammen mit Leichtigkeit auf einer Bergh¨alfte unterbringen. Deshalb muss ein Familienmitglied gehen, und woanders wohnen. Die Familie wird getrennt. Das ausgestoßene Familienmitglied kann das Kind sein, aber der gleich- oder der gegengeschlechtliche Elternteil wird ebenso oft ausgesiedelt.

Es ist bezeichnend f¨ur diesen Spieltypus, dass die Trennung der Fami-lie nicht ausgehalten wird. Es existiert ein starker Impetus in Richtung

3 Klassifizierung 42 einer sehr engen famili¨aren Situation. Das Kind l¨asst das Spielgesche-hen immer wieder umkippen, und f¨uhrt eine Vereinigung der Familie herbei. Diese Vereinigung kann aber nicht harmonisch geschehen. Sie wird in Form einer

”katastrophischen Symbiose“ hergestellt. Sehr viele Kinder lassen dazu ein Unwetter aufziehen, vielleicht inspiriert von der Katastrophengeschichte von der Spaltung des Berges. Dieses Unwetter wirft alle Spielfiguren (also nicht nur die Familie allein!) in den Ab-grund der Schlucht. In besonders wilden Spielen r¨uhrt die Katastrophe die Figuren in der Tiefe noch um und wirft sie unterschiedslos durch-einander. Diese typische und h¨aufige Inszenierung wird im Laborjargon

”Schluchtbrei“ genannt.

Bedrohung hat in diesen Spielen den Charakter des Unfassbaren. Ei-nerseits besteht sie in der Enge und der Notwendigkeit, ein Mitglied der Familie auszuschließen. Andererseits nimmt sie die Form des al-le Unterschiede vernichtenden Weltsturmes an, der paradoxerweise im Fiasko zu einer (Wieder-)Vereinigung f¨uhrt.

Polarisierungen werden vom Kind zwar vorgenommen, sind aber nicht stabil. Sie werden immer wieder in einem undifferenzierten Vermischen aufgehoben.

Die Bewegungen sind sehr oft naiv-geod¨atisch, vor allem in jenen regres-siven Episoden der Vereinigung. Kritisch-geod¨atisches Verst¨andnis ist zuweilen erkennbar, es hat aber noch keine (durchgehende) Verbindlich-keit. Die Schlucht wird gerne in das Trennungsthema eingebaut, dann aber verbindend als

”Chaosbeh¨alter“ zweckentfremdet. Das Brett wird nahezu nie als Br¨ucke verwendet.

Spaltung: Die Trennung der Familie ist das prominenteste Thema dieses Spieltyps. Die Spaltung ist stabil, wird aber nichtsdestoweniger als Kri-se und Mangel inszeniert. Symbiotische Familienverh¨altnisse sind un-widerruflich pass´e. Die Trennung kann grunds¨atzlich zwei Formen an-nehmen: Entweder leben Vater und Mutter getrennt, und das Kind ist

ausschließlich bei einem der beiden – oder pendelt unentschieden zwi-schen ihnen hin und her. Oder die Eltern leben noch zusammen, und das Kind muss irgendwo allein sein Leben fristen. Dieses Alleinsein des Kindes wirkt nicht gewollt, sondern schicksalhaft und verlassen. Manch-mal sucht das Kind dann die Eltern, kann sie aber nicht mehr finden, versucht kompetent und selbst¨andig zu sein, scheitert aber. Die Eltern, die es dann br¨auchte, sind leider nicht da. Auch in Gefahrensituationen ist nicht garantiert, dass das Kind gerettet wird.

Kritisch-geod¨atische Bewegungen herrschen vor. Die Br¨ucke wird selten verwendet, da sie mit der Rigidit¨at der Spaltung nicht vereinbar ist.

Konsolidierung: Das hervorstechendste Merkmal dieses Typus ist die Emanzipation des B¨arenkindes bei gleichzeitig hohem Familienzusam-menhalt. Die Familie wirkt anders als in den anderen Typen. Die einzelnen Mitglieder erscheinen individuiert, und nicht nur funktional innerhalb der Gruppe profiliert. Auch das B¨arenkind ist nun zu ei-nem ernst zu nehmenden Charakter entwickelt, es ist kompetent und selbst¨andig. Das Kind unternimmt Abenteuer, ist furchtlos und stark.

Die Abenteuer unternimmt es auch gegen den Willen der besorgten Eltern, der elterliche Schutz wird als eher einengend dargestellt und muss vom B¨arenkind umgangen werden: auch durch beschwichtigende Notl¨ugen.

Die Eltern sind eher schwach dargestellt. Das geht in manchen F¨allen so weit, dass das B¨arenkind zu einer spektakul¨aren Aktion zur Rettung der Eltern aus den F¨angen des b¨osen Zauberers gebraucht wird. Das Kind ist ein Wohlt¨ater, der Holz hacken und Nahrung suchen kann. Be-drohungen existieren in diesem Spieltypus eher als Herausforderungen.

Gut und B¨ose sind voneinander in Gegnerschaft getrennt und Weiblich von M¨annlich unterschieden. Das B¨arenkind hat ein Geschlecht, und meist wird die damit verbundene Zugeh¨origkeit im Spiel erkennbar.

Alle Bewegungen haben kritisch-geod¨atischen Charakter. Wenn eine

3 Klassifizierung 44 Bewegung weit ausgreifend ist und die Landschaft nicht ber¨ ucksichti-gen soll, so wird sie elegant als Flieucksichti-gen bezeichnet. Die Schlucht wird als trennend dargestellt, ist aber oft positiv als Abenteuerspielplatz konnotiert. Wenn sie ¨uberquert werden soll, wird eine M¨oglichkeit dazu erfunden: man kann fliegen, wird hin¨ubergezaubert, oder baut sich eine Br¨ucke. Die Br¨ucke wird oft als asymmetrischer Zugang zu einer der Bergh¨alften inszeniert. Sie ist dann z.B. im Besitz der Familie, damit deren Mitglieder auf die andere Seite gelangen k¨onnen.

Die entwicklungstheoretischen ¨Uberlegungen in Kapitel2.3, S.23, wurden in Hinblick auf diese vier empirisch gewonnenen Typen entwickelt.

3.3.2 Naivit¨at-Unsicherheit-Kompetenz

Die in Kapitel 2.3, S. 23, dargestellte Abfolge motivationaler Phasen trifft viele theoretische Annahmen. Die vorliegende Arbeit stand vor der Schwierig-keit, dass zu wenige Kinder intuitiv in die einzelnen HISK-Klassen eingestuft worden waren. Deshalb wurde zus¨atzlich eine einfachere Klasseneinteilung gesucht. Die den Experimenten zum Zwei-Berge-Versuch zugrundeliegende Fragestellung ist, ob sich kognitive Entwicklungen im entsprechenden Alter auf das projektive Spiel der Kinder in systematischer Weise auswirken. Es ist anzunehmen, dass sich der neurophysiologische Reifungsprozess, welcher sich in besseren Ergebnissen bei kognitiven Aufgabestellungen ausdr¨uckt, uber einen gewissen Zeitraum erstreckt. Diese Annahmen scheinen sich in¨ den Theory of Mind-Versuchen (querschnittlich) zu best¨atigen: Die j¨ungsten Versuchspersonen beantworteten Theory of Mind-Fragen erwartungsgem¨aß falsch – ohne irgendeine Irritation und konsequent systematisch gem¨aß ihres Weltwissens. Nachfragen irritieren diese Kinder nicht, es wirkt, als sei den Kindern die Antwort auf die Frage v¨ollig klar (auch wenn sie tats¨achlich falsch ist.). Also wird eine Klasse von Spielen postuliert, die f¨ur Kinder vor dem

Eintritt in die Phase der Theory of Mind-Reifung typisch ist. Diese Klasse wird im Folgenden Naivit¨at genannt.

Die ¨altesten Kinder der Stichprobe haben dagegen ¨uberhaupt keine Schwie-rigkeiten bei Tests zu Theory of Mind. Auch hier wirken die Antworten selbst-verst¨andlich, sie erfolgen spontan und ohne langes ¨Uberlegen. Die h¨aufigen standardisierten Fragen scheinen die Kinder eher zu nerven als zu beunruhi-gen. Also postulieren wir eine Klasse von Spielen, die abgeschlossene Theory of Mind-Entwicklung sowie vollst¨andig erfolgte Anpassungen des motivatio-nalen Systems widerspiegelt. Diese Klasse wird im Folgenden Kompetenz genannt. Naive und Kompetente befinden sich am j¨ungeren und ¨alteren Ende der Altersverteilung.

Wenn man sich von Videos der Theory of Mind-Experimente anmuten l¨asst, die sich altersm¨aßig zwischen den beiden Randklassen befinden, so erschei-nen Kinder mittleren Alters zu ¨uberlegen und verunsichert zu sein, wenn gem¨aß des Versuchsplans die Fragen h¨aufig wiederholt werden. Sie wirken beim Schl¨usselversuch, als w¨ussten sie nicht, was von dem Geschehen um sie herum so zu halten ist. ¨Ublich sind in diesem Alter auch teils korrek-te, teils falsche Antworten, was eine Zuordnung in die Kategorien Kompe-tent/Inkompetent erschwert. Zu diesen Zauderern liegt bisher keine stati-stische Auswertung vor. Es liegt also anhand der Theory of Mind-Versuche nahe, vorerst eine einzige ¨Ubergangsklasse zu postulieren, die im Folgenden mit Unsicherheit bezeichnet wird.

Um die NUK-Klassifizierung praktisch verwenden zu k¨onnen, muss der Rei-fungsprozess als Wahrscheinlichkeit, mit welcher ein Kind eine bestimmte Theory of Mind-relevante Fragen beantworten kann, in Abh¨angigkeit vom Alter dargestellt werden. Diese Darstellung beginnt beispielsweise f¨ur eine bestimmte Frage bei

”sicher falsch“ mit 2;6 Jahren, und endet mit

”sicher richtig“ mit 5 Jahren. Mit t0 wird das Alter eines Kindes bezeichnet, zu dem die Wahrscheinlichkeit eine Theory of Mind-Aufgabe korrekt zu beantworten gerade 12 ist. Nun erwarten wir aufgrund unserer theoretischen ¨Uberlegungen

3 Klassifizierung 46 einen Anpassungsprozess, der von Beunruhigung und Verunsicherung beglei-tet ist. Dieser verst¨arkt sich im Verlauf der Theory of Mind-Entwicklung, und verschwindet nach deren Abschluss. Diese ¨Uberlegungen decken sich stark mit jenen der theoretischen Herleitung in 2.3. ¨Ahnlich wie in Abb. 4 sind diese Phasen in Abb. 10veranschaulicht.

Abbildung 10: Abschnitte der Theory of Mind-Entwicklung

Der Algorithmus bildet eine Klassifizierung in die drei Typen

”Naivit¨at“,

”Unsicherheit“ und

”Kompetenz“ (im Folgenden als NUK bezeichnet).