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Habitus und elterliche Überzeugungen

Familiale Ressourcen und elterliches Unterstützungshandeln

4.1 Die Bedeutung des kulturellen Kapitals – Bourdieus kulturtheoretischer Ansatz

4.1.2 Habitus und elterliche Überzeugungen

Mit Habitus wird bei Bourdieu ein «System dauerhafter Dispositionen» (Bour-dieu, 1976, S. 143) bezeichnet, welches, die «zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte» (Bourdieu, 1987, S. 105) eines Individuums reprä-sentiert und als «Beurteilungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix» (Becker, R., 2017a, S. 540) den Raum seines Denkens und Handelns absteckt:

Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person ver-sperrt ist. Wer z. B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich, gibt es Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. (Bourdieu, 1989b, S. 26–27)

Die nicht angeborenen Dispositionen entwickeln sich im Rahmen der Sozialisa-tionsbedingungen, die mit dem Aufwachsen in einer spezifischen Position in der Gesellschaft verbunden sind. Die klassenspezifischen Praktiken in der Familie,

«die Pflichten und Zwänge, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten» (Spranger, 2011, S. 35) bzw. die jeweils verfügbaren Zugänge zu Handlungsfeldern, Objekten und Kapitalien, erzeugen bzw. konditionieren die typischen Habitusformen (vgl.

Bourdieu, 1987, S. 98), die sich nebst den oben bereits genannten symbolischen Ausdrucksformen auch in den «scheinbar automatischsten Gebärden und unbe-deutendsten Körpertechniken – der Art zu gestikulieren oder zu gehen, sich zu setzen oder zu schneuzen [sic], beim Sprechen oder Essen den Mund zu bewegen»

manifestieren (Bourdieu, 1984, S. 727). Die von Bourdieu ebenfalls zum Habitus geschlagenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata bringen es ferner u. a.

in Form eines «gesellschaftlichen Ordnungssinns» oder des «Geschmacks» mit sich, dass die Individuen, «spüren oder […] erahnen», was auf sie «mit einer bestimmten sozialen Position voraussichtlich zukommt und was nicht», was ihnen

«entspricht und was nicht» und sie «auf die praktischen Handlungen, Aktivitäten und Güter» hinlenkt, die «ihnen […] entsprechen, zu ihnen ‘passen’» (Bourdieu, 1984, S. 728).

Zusammengefasst konzipiert Bourdieu mit dem Habitus einen Begriff, der das gesamte kulturell-symbolische Erleben und Sich-Ausdrücken einer Person umfasst und dabei immer klassen- bzw. milieuspezifisch ist und bleibt – «die Körper gewordene soziale Ordnung» (Bourdieu, 1984, S. 740). Er bezeichnet Dis-positionen, die primär in der kindlichen Sozialisation im Rahmen der Teilhabe an Praktiken erworben wurden, welche von den Habitusformen der jeweiligen Sozialagenten geprägt wurden, und nun das Wahrnehmen und Denken strukturie-ren und das Feld der Interessen und Handlungsstrategien abstecken, denen das Individuum folgt.

Tendenziell tritt dabei eine deterministische Position zutage, insofern als die Herkunftsfamilie und deren soziale Praxis über Konditionierungs- und Zuschrei-bungsprozesse Handlungs- und Orientierungsmuster bei Heranwachsenden her-vorbringen, die über die ganze Lebensspanne wirksam bleiben. Bourdieu hat wohl dem Vorwurf des Determinismus Vorschub geleistet, indem er sich verschiedent-lich explizit auf Leibnitz’ Diktum berufen hat, wonach Menschen «in Dreiviertel [ihrer] Handlungen Automaten» (vgl. Bourdieu, 1984, S. 740) seien und das Denken und Handeln von Menschen grundlegend durch die Struktur der Lebens-bedingungen gestaltet würden. Individuen würden sich verhältnismäßig selten ihrer situativen und gesellschaftlichen Begrenzungen bewusst und prüften die Opportunitäten in den jeweiligen Situationen mittels Kosten-Nutzen-Erwägungen (vgl. Bourdieu, 1987, S. 98). Bourdieu betont allerdings auch, dass er weder einen deterministischen Strukturalismus noch einen voluntaristischen Konstruktivismus, sondern vielmehr die vermittelnde Position eines «konstruktivistischen Struktura-lismus» vertrete (Bourdieu & Schwibs, 1992, S. 135). So stecke der Habitus zwar die Grenzen der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten ab, lege diese aber nicht eigentlich fest:

Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist [der Mensch] durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer voraussehbar. Die Analogie von Lebensstil und künstlerischem Stil gewinnt von hier aus ihren Sinn: Der Stil der Epoche ist genau diese spezifische Kunst des Erfindens, so dass man zwar nie genau weiß, was ein Künstler

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schaffen wird, aber doch vorweg schon die Grenzen kennt, in denen er schöpferisch tätig sein wird. Das Gleiche gilt für jeden von uns: Wir alle sind frei innerhalb von Grenzen. Und wir können uns zusätzliche Freiheit dadurch schaffen, dass wir uns diese Grenzen bewusst machen [sic]. (Bourdieu, 1989b, S. 27)

In diesem Licht erscheint der Habitus zwar als stabil, aber nicht als unver-änderlich. Bourdieu meint denn auch, dass der Habitus immer in Relation zu den Handlungsfeldern begriffen werden müsse: In gewohnten Handlungsfeldern,

«dann, wenn die inkorporierten Erwartungsstrukturen auf Strukturen von Chan-cen stoßen, die mit den Erwartungen objektiv übereinstimmen» (Bourdieu, 1989a, S. 407), aktualisiere und verstärke er sich – ein Zustand, der für das Individuum mit Wohlbefinden einhergehen dürfte. In ungewohnten Handlungsfeldern, dann

«wenn das Erwartungsniveau, die Anspruchslage sich erhöht oder aber sinkt»

(Bourdieu, 1989a, S. 407), verändern sich die habitualisierten Dispositionen genauso, wie sie ursprünglich gebildet wurden: Primär über Konditionierungen und Modelllernen – allerdings sind auch diese Modifikationsprozesse begrenzt durch die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen des jeweiligen Erfahrungsfeldes, in welches das Individuum vorgestoßen ist. Die notwendigen Lernprozesse sind für das Individuum vergleichsweise aufwändig, gehen mit Unsicherheit einher und erfordern Zeit. Insofern ist dem Habitus, wie Ecarius et al. (2011) schreiben, ein gewisses Maß an Trägheit inhärent:

Im Allgemeinen reagiert der Habitus sehr inflexibel auf neue Situationen, die er handlungspraktisch zu bearbeiten nicht (ausreichend) in der Lage ist – ob dies nun ungewohnt auftretende Ereignisse im Alltag sind, auf die es zu reagieren gilt, oder neue Anforderungen im Zuge von Modernisierungsprozessen, mit der soziale Milieus und ihre Mitglieder konfrontiert sind. Dennoch ist er prinzipiell veränderlich und bereit, auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen […] und auf neue Bedingungen in seiner Laufbahn zu reagieren […]. (Ecarius et al., 2011, S. 91)

Damit wird deutlich, dass auch Bourdieu dem Individuum grundsätzlich Entschei-dungsfreiheit zugesteht. Die Frage stellt sich, wie sich seine Theorie im Vergleich zur eingangs ausführlich dargelegten «aufgeklärten» (Becker, R., 2017b, S. 111) Rational Choice-Theorie von Esser positioniert (vgl. Abschnitt2.1).

Gemeinsam ist beiden Theorien, dass sie auf die Mikro-Ebene fokussieren und dabei die individuellen Handlungsentscheidungen aber gleichzeitig als durch die gesellschaftlichen Bedingungen der Makroebene beschränkt begreifen. Bei Bourdieu wirkt die Makro-Ebene stets in Form der dem Individuum zur Verfü-gung stehenden Kapitalien (Ausmaß und Zusammensetzung derselben) sowie der Verfasstheit des jeweiligen Habitus auf die Mikro-Ebene ein, wobei dieser die

Situationsinterpretation dermaßen dominiert, dass ein rationales Abwägen meist hinfällig ist (vgl. Schütte, 2013, S. 41). Bourdieu gelingt es so zu erklären, wie die große Konstanz sozialer Disparitäten trotz – oder gerade wegen – des beständigen sozialen Wandels zustande kommt (Ecarius et al., 2011, S. 90). Wie Fuss (2006, S. 50) anmerkt, trifft die Metapher des «sozialen Autopiloten» den Sachverhalt aber besser als diejenige des von Bourdieu bei Leibnitz entlehnten «Automaten», der die Vorstellung kausaler Determiniertheit des Handelns evoziert. So lange sich Individuen in für sie alltäglichen Situationen befinden – für Bourdieu sind dies für die Klassenlage typische Situationen –, solange scheint es funktional zu sein, die Steuerung gewissermaßen den Wahrnehmungs- und Handlungsprogrammen zu überlassen. Das Individuum fühlt sich dann sprichwörtlich «wohl in seiner Haut»

und handelt spontan und routiniert nach seiner Manier. Je stärker sich aber in einer Situation die Passung mit den Wahrnehmungs- und Handlungsschemata als mangelhaft erweist, ein komplexeres, ill-defined Problem vorliegt (vgl. Reusser, 2005), welches ressourcenträchtigere Nachdenkens- und Entscheidungsprozesse notwendig macht, desto geringer dürfte der Einfluss des Habitus sein und desto stärker dürfte das Individuum mit seinem Willen und der Fähigkeit reflektiert Ziele zu setzen gewissermaßen die Steuerung wieder übernehmen. Sozialgrup-penspezifisches Verhalten, etwa in Form von «Jargon», dürfte dann ganz bewusst und kontrolliert eingesetzt werden – um den Anforderungen der ungewohnten sozialen Situation aus der Sicht des Individuums zu genügen oder aber um sich bewusst von einer als etabliert empfundenen Mehrheits- bzw. Erwachsenenkultur abzugrenzen.

In Essers Theorie der rationalen Wahl, in der auf der Mikro-Ebene das indivi-duelle Handeln stets als mehr oder weniger routiniertes Problemlösen verstanden wird, ist einerseits die allgemeine Entscheidungsregel operativ, wonach Menschen

«immer eine ‘Wahl’ haben» (Esser, 1999a, S. 238, Hervorhebung im Original), andererseits auch die Selektionsregel, gemäß welcher ein Akteur mehr oder weni-ger bewusst jene Handlungsoption wählen wird, die gemäß seiner subjektiven Interpretation der äußeren Umstände sowie seiner Dispositionen hinsichtlich der Konsequenzen die günstigsten Ergebnisse erwarten lassen. Im Extremfall sieht der Akteur aufgrund der von ihm subjektiv wahrgenommenen gesellschaftlichen Bedingungen keine Wahlalternative, wodurch dem Individuum die Selektion der entsprechenden Handlungsoption zwingend erscheint (vgl. Abschnitt 2.1). Beim Abwägungsprozess greift es auf Frames und Habits zurück, welche erfahrungs-basiert und somit ähnlich wie der Habitus immer auch gesellschaftlich geformt sind. Im Unterschied zu diesem, der im Prozess der Inkorporation weitgehend unbewusst erworben und modifiziert wird, kann im Reframing-Prozess, den Esser detailliert skizziert, bei einem Mismatch zwischen Frame und wahrgenommenen

136 4 Familiale Ressourcen und elterliches Unterstützungshandeln situativen Bedingungen aber auch bewusst nach alternativen Situationsdeutungen bzw. Handlungsoptionen gesucht werden. Mit anderen Worten ist es dem Indivi-duum in Essers Ansatz bei Bedarf möglich, intentional, «findig, kreativ, reflektiert und überlegt» (Esser, 1999a, S. 238) alternative kognitive Schemata zu entwickeln und sich dieses Lernprozesses bewusst zu sein (vgl. Schütte, 2013, S. 66).

Während sich der Soziologe Esser in seinem Erwartungs-Wert-Ansatz zur Modellierung der mentalen Prozesse des Akteurs vorwiegend schematheoretischer Konstrukte bedient, die in der Wissenspsychologie verschiedentlich bezüglich ihrer Vagheit – gerade auch bezüglich des Verhältnisses zwischen unbewuss-ten und bewussunbewuss-ten Informationsverarbeitungsprozessen – kritisiert wurden (vgl.

Mandl, Friedrich & Hron, 1988, S. 124–135) operieren Eccles und Kolleg*innen in ihren motivationspsychologischen, das mentale Geschehen differenziert model-lierenden Erwartungs-Wert-Konzeptionen mit dem Begriff des Belief, der im deutschen Sprachraum meist mit «Überzeugung» übersetzt wird.

In seinem Aufsatz über das Konstrukt des teacher belief schreibt Pajares (1992, S. 307) einleitend, dass Überzeugungen gemeinhin als beste Indikatoren für die Entscheidungen gelten würden, die Individuen im Verlauf ihres Lebens treffen, und stellt gleichzeitig fest, dass es sich um ein «messy construct» handle, inso-fern als der Term Belief auch im wissenschaftlichen Kontext selten trennscharf von anderen Kategorien wie z. B. derjenigen der attitude oder der implicit theory abgehoben werde. Unklar, so meint er, sei aber insbesondere die Abgrenzung vom Begriff des Wissens (knowledge) und diese lasse sich theoretisch auch nur schwer bewerkstelligen. Tack (2006) begründet diesen Umstand damit, dass «real existierendes menschliches Wissen nie den strengen Anforderungen idealisierten Wissens genügt, und dass man kaum davon ausgehen kann, dass Menschen mit ihrem Wissen (im strengen Sinne) anders umgehen als mit ihrem vermeintlichen Wissen (von dem sie lediglich überzeugt sind)» (S. 495). Reusser und Pauli (2014) konstatieren, dass auch wenn sich keine kategoriale Grenze zwischen den bei-den Konstrukten ziehen ließe, Einigkeit darüber bestehe, «dass sich das Konzept [der Überzeugung] auf mentale Zustände bezieht, in denen subjektive Bewertun-gen eine Rolle spielen» (S. 643). Laut Rokeach (1976) handelt es sich bei einer Überzeugung bzw. einem Belief um «a simple proposition, conscious or uncon-scious, inferred from what a person says or does, capable of being preceded by the phrase, ‘I believe that …’» (S. 113). Mit anderen Worten sind Überzeugungen von Menschen, die diesen nur zum Teil in einem deklarativen Sinne bewusst und mental zugänglich sind, von außen lediglich über deren verbales oder nonverbales Verhalten erschließbar und bedürfen stets der Interpretation (vgl. Rokeach, 1976, S. 2). Überzeugungen können deskriptive (z. B. «Mein Sohn ist bis 16 Uhr in der Schule»), evaluative («Ich war nie gut in Mathematik») oder normativ-präskriptive

Aussagen («Meine Tochter muss regelmäßig an die Hausaufgaben erinnert wer-den, damit sie diese auch wirklich macht») über die physische, psychische oder soziale Realität sein (vgl. Rokeach, 1976, S. 113). Als Propositionen weisen Über-zeugungen sodann einen Gegenstandsbezug auf, sind also «intentional stets auf etwas gerichtet» (Reusser & Pauli, 2014, S. 644). Dabei kann die Aussage über die Welt generellen Charakter haben kann («Kinder sind…») oder sich auf spe-zifische Aspekte und Elemente («mein Kind ist…») beziehen. Überzeugungen lassen sich ferner danach unterscheiden, ob sie selbst- oder fremdbezogen sind und stehen laut Rokeach (1976, S. 2) nicht für sich alleine, sondern sind im Überzeugungssystem (belief system) eines Menschen immer «in some organized psychological but not necessary logical form» vernetzt mit anderen. Überzeugun-gen gruppieren sich in komplexer Form um die jeweiliÜberzeugun-gen Objekte, Personen, Situationen oder Konzepte, auf die sie sich beziehen («Der Übertritt ist …»,

«Mein Sohn sieht sich dabei vor die Wahl gestellt, …», «Ich glaube, dass sich unsere Beziehung wegen des Übertritts …» etc.) (vgl. Rokeach, 1976, S. 116).

Solche Cluster von Überzeugungen – «belief about constructs» (Pajares, 1992, S. 316, Hervorhebungen im Original), bilden oftmals «theorieförmige, quasi-logische Strukturen im Sinne rekonstruierbarer, mehr oder weniger elaborierter semantischer Netzwerke» (Reusser & Pauli, 2014, S. 644), die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als subjektive Theorien bezeichnet werden.

Stehen weniger Wenn-Dann-Beziehungen, sondern summative, emotional ein-gefärbte und zeitlich stabile Bewertungen in den aus Überzeugungen gebildeten Clustern im Vordergrund, handelt es sich um eine attitude bzw. Einstellung, die das Individuum dem Objekt gegenüber hegt: «Attitudes […] imply posi-tive/approach tendencies or negative/avoidance tendencies and involve summaries of the value of the object» (Olson & Kendrick, 2012, S. 230). Am Beispiel des folgenden Interviewausschnitts der Mutter S11 lässt sich dies illustrieren:

I: Inwiefern haben Ihre eigenen schulischen und beruflichen Erfahrungen in den letzten Monaten, in denen es um die Übertrittsentscheidung ging, eine Rolle gespielt?

S11: Ja, dass sie mir mehr leid tun heute, also ich denke, bei uns war das alles irgendwie viel weniger – also sie tun mir eigentlich leid. Der ganze Druck, sie tun mir leid, weil ich finde, sie sind jetzt in der sechsten, sie sind noch nicht in der Sek, und irgendwie in der Primarschule, finde ich einfach, sollte man noch ein wenig unbeschwert – schon, nachher hast du die Sek, wo ein Druck kommt, und ich finde, die Primarschule müsste definitiv ein bisschen mehr sein, wie wir sie gehabt haben. Ich finde es verrückt, wenn irgendwie ein Elfjähriger sich schon Gedanken machen muss, ich muss jetzt in die Sek kommen, damit ich dann nachher in eine Schule, damit ich dann nachher einen Beruf – Also ich habe doch mit elf nicht über einen Beruf nachgedacht, und welche Schule ich machen muss, damit ich nachher – ich wusste ja gar nicht, was ich wollte, und irgendwie finde ich das absurd, das finde ich sehr traurig, ja. (Interview G2, 01:37:52)

138 4 Familiale Ressourcen und elterliches Unterstützungshandeln Die Mutter äußert eine Reihe von Beliefs zur Übertrittsentscheidung und bringt mit ihren summativen bewertenden Aussagen ihre negative Einstellung dem Kon-zept gegenüber zu erkennen. Mühelos lassen sich die Implikationen erahnen, die ihre Wert-Überzeugungen in motivationaler Hinsicht beim Übertritt ihres jüngeren Kindes haben mögen (vgl. Abschnitt5.5). Olson und Kendrick (2012) heben die handlungserleichternde Funktion von attitudes hervor, die Rokeach (1976, S. 120) als «predisposition to respond» bezeichnet:

Such precomputed summary judgments of attitude objects are functional in that they help prepare the individual for action so that one does not need to deliberately make important decisions from scratch every time a behavioral opportunity arises. In other words, because people know what they like and dislike, they can spend less time pondering what to buy and consume, for whom to vote, how to behave, and with whom to affiliate. They need only consult their attitudes toward the relevant object and act in accordance with it. Indeed, attitudes have been considered ‘ready aids’ for sizing up the world and how to live in it, and it is difficult to imagine how people could function without having a grasp of the things that benefit and sustain them and things that could potentially hinder or harm them. (Olson & Kendrick, 2012, S. 230)

Überzeugungen können unterschiedlich stark und stabil und in solchen Netzwer-ken entsprechend eher zentral oder peripher sein. Orientiert an der Metapher des Atommodells postuliert Rokeach (1976, S. 3), dass je zentraler und wichtiger eine Überzeugung sei, desto resistenter sie sich auch gegenüber Veränderungen und Zweifeln erweise. Die Zentralität einer Überzeugung definiert sich laut Roke-ach über die Menge ihrer Verbindungen (connectedness), die sie mit anderen Überzeugungen eingeht: «the more a given belief is functionally connected or in communication with other beliefs, the more implications and consequences it has for other beliefs and, therefore, the more central the belief» (Rokeach, 1976, S. 5). Überzeugungen, die sich auf das Selbst bzw. die Identität bezie-hen (existential beliefs) und denen «subjektiv bedeutsame Prämissen der Welt-und Selbstsicht [des] Individuums zugrWelt-unde liegen» (Reusser & Pauli, 2014, S. 645), sind grundsätzlich zentraler, vernetzter mit anderen Überzeugungen, somit veränderungsresistenter und haben weitreichende Konsequenzen für das ganze Überzeugungssystem, falls sie sich verändern. Unter den existenziellen Überzeugungen sind wiederum diejenigen besonders stark vernetzt und entspre-chend resistent, welche mit anderen Menschen einer sozialen Gruppe geteilt werden (shared beliefs: «I believe, and everyone else who could know belie-ves it too») (vgl. Rokeach, 1976, S. 5–6). Ferner haben Überzeugungen, die auf selbstgemachten Erfahrungen mit dem Objekt beruhen (underived beliefs), funk-tional mehr Verbindungen und Konsequenzen, da sie u. a. wegen des «I saw it

with my own eyes»-Phänomens (Pajares, 1992, S. 318) stärker mit dem Selbst verbunden sind, als Überzeugungen, die auf der Basis von (instruktionalen) Über-zeugungsbemühungen anderer geformt wurden (underived beliefs). Reusser und Pauli (2014, S. 645) verweisen denn auch auf die Schwierigkeiten, vor die man sich gestellt sieht, wenn man von außen solcherlei «tiefsitzenden und erfahrungs-gesättigten» Überzeugungen und Einstellungen zu verändern sucht. Vergleichbar mit den Prozessen, wie sie die Conceptual Change-Forschung (Posner, Strike, Hewson & Gertzog, 1982; Vosniadou, 2013) beschreibt, seien diese mentalen Umstrukturierungen langwierig, komplex und mitunter konfliktreich:

Damit häufig zuerst kognitiv […] angebahnte Umstrukturierungen auf die Handlungs-ebene durchdringen, müssen [dem Individuum] alternative Wahrnehmungsmuster, Strategien, Routinen und Handlungsmittel objektiv und subjektiv (durch Lernen) verfügbar gemacht und [von diesem] als verständlich, einleuchtend und produktiv wahrgenommen werden […]. (Reusser & Pauli, 2014, S. 645)

In Kapitel 5, in dem die Prozesse zur Beeinflussung schulbezogener Kontroll-und Wert-Überzeugungen des Kindes durch die Eltern im Zentrum stehen, wird der Frage vertiefter nachgegangen, unter welchen Bedingungen sich die Wahr-scheinlichkeit erhöht, dass Kinder die Botschaften der elterlichen Bedeutungs-zuschreibungen und evaluativen Feedbacks, die ihrerseits Ausdruck von deren entsprechenden wert- und kontrollbezogenen Beliefs sind, in ihr Überzeugungs-system integrieren und dann im besten Fall handlungswirksam werden lassen (vgl. Abschnitt 5.7). Gestalten sich solche elterlichen Einflussnahmen auf die noch verhältnismäßig fluiden motivationalen Orientierungen des Kindes – nicht zuletzt durch die Leistungserfahrungen in der Schule und die mitunter konkurrie-renden Sichtweisen von Lehrkräften und Peers – oft bereits schwierig, so dürfte dies umso mehr gelten, wenn man versucht, generelle bildungsbezogene Über-zeugungen der Eltern – z. B. ihre Wert-ÜberÜber-zeugungen gegenüber bestimmten Fächern, ihre epistemologischen Überzeugungen, aber auch ihre unterstützungs-bezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen – etwa im Rahmen von familialen Leseförderungsprogrammen zu beeinflussen (van Steensel, McElvany, Kurvers

& Herppich, 2011; Villiger Hugo, Niggli, Wandeler & Kutzelmann, 2011). Im Folgenden stehen diese psychologischen Ressourcen im Zentrum, die – wie von Bourdieu beschrieben – aus jahrelangen Erfahrungen in den jeweiligen sozialen, kulturellen und ökonomischen Opportunitätsstrukturen gewonnen wurden. Auf der Grundlage des «Modells motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» von Eccles und Kolleg*innen (vgl. Simpkins et al., 2015a, S. 617)

140 4 Familiale Ressourcen und elterliches Unterstützungshandeln wird die Befundlage dazu herausgearbeitet, wie ausgewählte elterliche bildungs-bezogene Überzeugungen mit demografischen Charakteristika der Familie sowie mit elterlichen motivationsbezogenen Unterstützungsformen interagieren.

4.2 Charakteristika der Familie und elterliches