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Empirische Befunde zu den Kernpostulaten der Theorie In die Bildung des Kindes – und wohl auch in ein forcierteres Unterstützen vor

Elterliches Unterstützungshandeln und der Übertritt in die Sekundarstufe I

3.1 Entscheidungstheoretischer Ansatz zur Erklärung herkunftsabhängiger Bildungsmuster

3.1.2 Empirische Befunde zu den Kernpostulaten der Theorie In die Bildung des Kindes – und wohl auch in ein forcierteres Unterstützen vor

dem unsicheren Übertrittsentscheid – wird so lange investiert, so die Annahme dieser erwartungs-werttheoretischen Konzeption, wie die erwarteten Kosten den

3Lange und Xyländer (2011, S. 57) sprechen hierbei von «zeitstabilen Präferenzen», über die alle Eltern verfügten: «sie wünschen sich [für ihre Kinder] z. B. alle eine gute Ausbildung, hohes Einkommen, berufliches Fortkommen oder ein gutes Leben».

76 3 Elterliches Unterstützungshandeln und der Übertritt … erwarteten Nutzen der Bildungsanstrengungen nicht überschreiten, und so lange, wie die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung angesichts der schulischen Leis-tungen des Kindes hoch bleibt. In dieser Art lassen sich empirische Befunde (z. B. Stocké, 2007) erklären, wonach sich Eltern aus höheren Schichten eher für weiterführende Bildungsgänge und Eltern aus tieferen Schichten eher dagegen entscheiden, obwohl ihre Kinder über gleiche Leistungsergebnisse und gleiche Erfolgserwartungen verfügen. Becker und Lauterbauch (2016, S. 15–17) zeigen auf der Grundlage bereits älterer Paneldaten des Konstanzer Forschungsprojekts

«Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien» (Details in Becker, R., 2000, S. 458–459) in Einklang mit den theoretischen Postulaten Boudons, dass Mittelschichtsfami-lien, die besonders vom intergenerationalen Statusverlust bedroht sind, sich eher für das Gymnasium als für die Realschule entscheiden, wenn die Bildungsmoti-vationen größer oder gleich den eingeschätzten Investitionsrisiken sind, und dass der Besuch der Hauptschule für sie im Prinzip keine Option darstellt. Unter-schichtsfamilien entscheiden sich dahingegen in signifikanter Weise vornehmlich für die Realschule, wenn die Bildungsmotivationen größer sind als die Investi-tionsrisiken. Die Hauptschule kommt für diese Familien nur in Frage, wenn die Investitionsrisiken deutlich höher sind als die Bildungsmotivationen. Eltern aus der Oberschicht sehen für ihre Kinder generell das Gymnasium vor, die Real-schule stellt nur bedingt eine Option und die HauptReal-schule gar keine Option für sie dar.

Damit zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der Eltern auch in den unteren Schichten mittlerweile eine Hauptschullaufbahn für ihr Kind zu ver-meiden sucht. Bildungsmotivationen bzw. -aspirationen wandeln sich über die Generationen hinweg (vgl. Kleine et al., 2009, S. 105). Ditton und Krüsken (2006) halten als Ergebnis einer (längsschnittlichen) Befragung von Eltern bei 27 bayrischen Grundschulklassen vor dem Übertritt fest, dass die große Mehrheit einen Realschulabschluss mittlerweile «als die Mindestnorm» (Ditton & Krüs-ken, 2006, S. 367) erachtet und hierfür vor allem berufliche Perspektiven als Begründung anführt. Berufliche Chancen erweisen sich generell als wichtigstes Kriterium für die aspirierte Schulform bei den Eltern. 87 % der Befragten glau-ben, dass mit dem Hauptschulabschluss schlechte oder sehr schlechte berufliche Aussichten verbunden seien. Das Gymnasium wird in dieser Hinsicht unabhängig von der Sozialschicht als erstrebenswert erachtet: 97 % der Eltern glauben, dass gute oder sehr gute berufliche Perspektiven mit einem Besuch dieser Schulform einhergingen. Bezüglich des Realschulabschlusses sind 91 % der Eltern schicht-übergreifend der Meinung, dass damit gute oder sehr gute (10 %) berufliche Chancen verbunden seien. Allerdings konnten die Autor*innen einen additiven Effekt in Abhängigkeit des sozialen Status der Eltern nachweisen: «Je höher die

soziale Position, umso mehr werden die Chancen, die sich durch den Besuch der Hauptschule und Realschule eröffnen, in Zweifel gezogen; die Unterschiede zwi-schen den drei Schularten bleiben hierbei aber bestehen.» (Ditton & Krüsken, 2006, S. 358). Für die Schweiz scheint keine vergleichbare Studie zu bestehen, doch kann angesichts der kulturellen und sozialstrukturellen sowie den berufs-systembezogenen Ähnlichkeiten angenommen werden, dass sich bezüglich der drei Schultypen der Sekundarstufe I ein ähnliches Muster in den elterlichen Aspirationen belegen ließe.

Boudon (1974, S. 67–100) versteht Bildungslaufbahnen mit Blick auf die Schulsysteme Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz und Schwedens über die Kindheit, die Jugend bis ins Erwachsenenalter «als sequenzieller Entscheidungs-prozess mit wiederkehrenden, weitgehend festgelegten Entscheidungspunkten»

(Lauterbach, 2011, S. 300) und simuliert, wie bei gleichen Schulleistungen der Kinder die Wahrscheinlichkeit im Schulsystem zu verbleiben schichtspezifisch variiert. In seiner Simulation wird ersichtlich, dass den sekundären Herkunfts-effekten eine höhere relative Bedeutung zukommt als den primären Effekten bzw. dass mit jedem weiteren Übertritt in der Bildungskarriere und somit jedem weiteren Entscheid, ob der Jugendliche bzw. Erwachsene im Bildungssystem ver-bleiben oder ausscheiden solle, der Einfluss des kulturellen Kapitals – also des primären Herkunftseffekts – abnimmt und der Einfluss ökonomischer Erwägungen – also des sekundären Herkunftseffekts – zunimmt.

Neuere empirische Studien scheinen diese Annahme Boudons für Deutschland zu bestätigen, zumindest für Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund (vgl. Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 12): Bei Kontrolle der schulischen Leistungen nimmt mit zunehmendem Bildungsübergang das relative Gewicht der Bildungsentscheidung in Abhängigkeit der Schichtzugehörigkeit gegenüber primären Herkunftseffekten zu (vgl. Becker, R., 2009; Neugebauer, 2010). Müller-Benedict (2007) zeigt allerdings auf der Basis von PISA-Daten, dass beim ersten Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I dem primären Herkunftsef-fekt, also Prozessen des sozial differenziellen Lernens, annähernd das gleiche Gewicht wie dem sekundären Effekt zukommt, wobei dies vor allem aus dem Beitrag der Kinder aus Familien unterer sozialen Schichten mit Migrations-hintergrund resultiert. Mit Hilfe der Daten der IGLU-E-Studie belegen Becker und Schubert (2011) sodann, dass beim Vergleich von Kindern mit oder ohne Migrationshintergrund der primäre Effekt bezüglich der Nachteile eine größere Rolle spielt, während beim Vergleich von einheimischen Kindern unterschiedli-cher sozialer Herkunft der sekundäre Effekt im Vordergrund steht. Mit Bezug auf Befunde, wonach die Bedeutung des primären Effekts bei den Migrantenkindern

78 3 Elterliches Unterstützungshandeln und der Übertritt … mit hoher Wahrscheinlichkeit der Ressourcenlage der Familie und kaum syste-matischen Diskriminierungen durch die Lehrkräfte bei der Übertrittsempfehlung geschuldet sein dürfte (z. B. Becker, R. & Beck, 2012) – es also vornehmlich deren Eltern sind, die vor dem Hintergrund eigener sprachlicher, kultureller und sozialer Ressourcen sowie mit Blick auf die Schulleistungen ihres Kindes sich mit tieferen Schultypen zufriedengeben – stellen Becker und Lauterbach (2016, Hervorhebung im Original) die These auf, «[dass] – bei gegebenen Rahmenbe-dingungen des Bildungssystems und über den Bildungsverlauf gesehen – zentrale soziale Mechanismen der Bildungsungleichheit vor allem auf schichtspezifischen Bildungsentscheidungen [der Eltern beruhen], in welche auch (sozial differente) Schulleistungen und herkunftsbedingte Bildungserfolge einfließen». Dabei beto-nen sie allerdings, dass diese elterlichen Entscheidungen vom Bildungssystem

«erzwungen» seien und gerade der Umstand, dass sich die Eltern in Deutsch-land (ebenso in der Schweiz) relativ früh für den Bildungsweg ihres Kindes entscheiden müssten, möglicherweise für «die Struktur, das Ausmaß und die Dau-erhaftigkeit von Bildungsungleichheiten» verantwortlich zeichne. Sie fassen die sich aus der Befundlage ergebenden Gesetzmäßigkeiten wie folgt zusammen:

Je stärker ein Bildungssystem stratifiziert ist, je mehr Bildungshürden auf dem Weg zur höheren Bildung überwunden werden müssen, je segmentierter und je undurchlässiger die Bildungswege sowie je breiter die Bildungsangebote an den einzelnen Übergangs-stellen im Bildungssystem sind, desto schwerer wiegen sekundäre Herkunftseffekte bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit von Bildungschancen.

Je rigider die leistungsbezogenen Sortier- und Selektionsleistungen des Bildungs-systems sind, desto größer sind die Gewichte primärer Herkunftseffekte bei den Übergangsstellen im Bildungssystem. (Becker, R. & Lauterbach, 2016, S. 13)

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Verbind-lichkeit der Übertrittsempfehlung (vgl. auch Abschnitt 3.2.1) durch die Grund-bzw. Primarschule für das Gewicht primärer und sekundärer Herkunftseffekte birgt. Auf den ersten Blick lassen die bisherigen Ausführungen vermuten, dass in Schulsystemen mit unverbindlicher Empfehlung vor allem den schichtspezifischen elterlichen Aspirationen und somit sekundären Herkunftseffekten ein stärkeres Gewicht zukommt, wohingegen in Systemen mit verbindlichem Lehrpersonenur-teil die schulischen Leistungen des Kindes und somit primäre Herkunftseffekte im Vordergrund stehen dürften. Übertrittsregelungen mit größerem Einfluss der Lehrkraft wären im Sinne der Chancengerechtigkeit demnach vorzuziehen. Die Studien von Gresch, Baumert und Maaz (2010) und Dollmann (2011) schei-nen diese Vermutung zu bestätigen. Eine neuere umfangreiche Untersuchung von

Roth und Siegert (2015), die sich auf der Basis des Mikrozensus auf eine reprä-sentative Stichprobe sowie den langen Zeitraum von 1976 bis 2010 stützt und ferner auf die repräsentativen Daten von Niedersachsen und Nordrheinwestfalen zurückgreift, zweier Bundesländer, die einen Systemwechsel zu unverbindlichen Übergangsempfehlungen vollzogen haben, lassen sich dahingegen im Länderver-gleich keine nachhaltigen Effekte der Verbindlichkeit auf die soziale UnLänderver-gleichheit in der Mitte der Sekundarstufe I belegen. Auch bei den beiden Bundesländern, bei denen ein Vorher-Nachher-Vergleich durchgeführt wurde, konnten keine den Annahmen entsprechenden Effekte festgemacht werden: «Eltern aus oberen sozia-len Schichten scheint es somit unabhängig vom Ausmaß der Verbindlichkeit der Übergangsempfehlungen besser als Eltern aus unteren sozialen Schichten zu gelingen, ihre Kinder vorteilhaft im Bildungssystem zu platzieren» (Roth & Sie-gert, 2015, S. 133). Der plausibelste Erklärungsansatz hierfür dürfte in einem forcierten Unterstützungshandeln von Eltern mit erhöhtem kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital zu suchen sein: Die drohende Nicht-empfehlung bzw.

-zuweisung zum angestrebten Schultyp dürfte die Eltern vor dem definitiven Ent-scheid dazu treiben, in den Kompetenzerwerb ihrer Kinder Zeit und/oder Geld zu investieren oder aber die entscheidungstragenden Lehrkräfte in ihrem Sinne zu beeinflussen (vgl. Neugebauer, 2010, S. 209–210; Roth & Siegert, 2015, S. 133–134). Während in Ländern mit freier Elternentscheidung sekundäre Her-kunftseffekte ausschlaggebend seien, so die Folgerung von Becker und Lauterbach (2016, S. 12), seien es in denjenigen mit bindenden Lehrpersonenempfehlungen die primären Herkunftseffekte4.

Da die vorliegende Studie in einem Bildungssystem durchgeführt wurde, welches die Eltern mittels gemeinsamer Gespräche zwar laufend in den Erwä-gungsprozess der Klassenlehrkraft einbezieht, das aber hinsichtlich der konkreten Einteilung der Kinder auf die Bildungsgänge letztlich auf stark bindende Emp-fehlungen der Primarlehrperson setzt (vgl. Abschnitt3.3), werden im Folgenden strukturelle und prozessuale Bedingungen von Bildungsinstitutionen, die maß-gebliche Kontextbedingungen für das Entscheidungs- und Unterstützungshandeln der Eltern darstellen dürften, eingehend erläutert und bezüglich der empirischen Befundlage erörtert.

4Wie Tiedemann und Billmann-Mahecha (2010, S. 650) herausstreichen, folgen die Eltern grundsätzlich auch in den Bundesländern, in denen die Schulwahl letztlich ihnen überlassen ist, mehrheitlich den Grundschulempfehlungen der Lehrkräfte.

80 3 Elterliches Unterstützungshandeln und der Übertritt …

3.2 Institutionelle Rahmenbedingungen für das elterliche