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6. Diskussion

6.1 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse:

6.2.1 Gewichtung Abiturnote

Zum Thema „Ursachen der Feminisierung“ konnten die Befragungsteilnehmer zu verschie-denen Kriterien des jetzigen Auswahlverfahrens Stellung beziehen. Konkret wurden die Teilnehmer in Frage 1 gefragt, wie sie die Abiturnote in einem Auswahlverfahren gewichten würden. Die Ergebnisse dieser Frage sind eindeutig: Die Abiturnote sollte laut den Befragten mit weniger als 50% in die Gesamtbeurteilung eingehen. Der Median der gewünschten pro-zentualen Gewichtung der Abiturnote lag in allen drei Gruppen bei der Kategorie „20-50%“.

Studierende wählten am zweithäufigsten sogar eine noch geringere Berücksichtigung mit

„unter 20%“, Ärzte und Bewerber hingegen die Kategorie „50-75%“.

Der oben beschriebene Unterschied zwischen Studierenden und Bewerbern lässt sich damit erklären, dass Bewerber kurz vor dem Zeitpunkt der Befragung ihre Abiturprüfungen abge-schlossen hatten, und es somit naheliegend scheint, dass eine soeben erbrachte Leistung aus Sicht der Bewerber auch in die Bewertung einfließen soll. Dies würde auch die Ergeb-nisse aus 5.3.1 und 5.3.2 erklären: In der Bewerbergruppe bestand ein signifikanter Zusam-menhang einer höheren gewünschten Gewichtung der Abiturnote mit dem Geschlecht und

ein hochsignifikanter Zusammenhang mit der Abiturnote der Bewerber. Zusammenfassend wünschen sich also vor allem Bewerberinnen, die statistisch in unserer Befragung, aber auch deutschland- und weltweit (OECD 2015; Weinmann 2010) eine bessere Schulabschlussnote vorweisen können, eine stärkere Berücksichtigung dieser Leistung im Auswahlverfahren für den medizinischen Studiengang.

Studierende hingegen spüren vermutlich aktuell, wie wenig die Leistung im Abitur mit der Leistung im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums zu tun hat: Wie nationale und interna-tionale Studien gezeigt haben, korreliert die Schulabschlussnote nur mit den vorklinischen Semesterleistungen, während sie Leistungserfolge im klinischen und klinisch-praktischen Bereich nicht vorhersagen kann – und auch nicht die spätere Leistung als Arzt (Kadmon et al. 2014; Siu und Reiter 2009). Dass das bisherige Auswahlverfahren mit Schwerpunktle-gung auf der Abiturnote nicht nur geeignete – sei es aufgrund der klinischen Leistung oder der längerfristigen Motivation – Studierende ermittelt, zeigt fernerhin die hohe Verlustrate an potenziellen Ärzten nach Studienabschluss (Kopetsch 2010).

Das etwas anders gewichtete Antwortverhalten der Ärzte begründet sich hingegen vermutlich mit anderen Assoziation zum Abitur. Seit einigen Jahren steht das Abitur in der Kritik, immer bessere Abschlussnoten und einen stetig ansteigenden prozentualen Anteil von Abiturienten an der Gesamtzahl der Schulabgänger hervorzubringen. In einer Stellungnahme von 2014 spricht der Deutsche Philologenverband von einer „Entwertung des Abiturs“ aufgrund von inflationär guten Abiturnoten, u.a. in Folge der Einführung der verkürzten Gymnasialzeit (G8) (Deutscher Philologenverband 2014). Auch die wachsende Anzahl an Abiturienten verringert die Validität des Abiturs als Instrument zur Auszeichnung sehr guter Schüler. So lag der Abiturientenanteil der Schulabgänger 2013 bei 36% – zehn Jahre zuvor waren dies noch 23% (Statistisches Bundesamt 2015). An dieser Stelle sei kurz entgegenzuhalten, dass als positiver Effekt des Validitätsverlusts der Abiturnote eine breitere Masse an Schulabgängern eine Chance auf einen Medizinstudienplatz erhalten und dadurch die Diversität der Studie-renden gesteigert werden könnte (siehe 6.2.2.5).

Zum Zeitpunkt des Schulabschlusses vieler Ärzte war das Abitur jedoch als Messinstrument valider, eine gute Abiturnote noch stärker mit einer herausragenden Schulleistung assoziiert, was die leichte Diskrepanz der Bewertung der Ärzte im Vergleich zu den Studierenden erklä-ren könnte.

Die Abiturnote als am stärksten gewichteter Faktor in der Studienbewerberauswahl ist nicht nur aufgrund ihres sinkenden Nutzens zur Differenzierung der besonders guten Abiturienten oder ihrer fehlenden prognostischen Validität zur Selektion guter Medizinstudierender und Ärzte zu hinterfragen. Sie scheint auch aufgrund der Bevorteilung von Schülern weiblichen

Geschlechts ein soziodemographisches Ungleichgewicht unter den Medizinstudierenden zu begünstigen. Schülerinnen absolvieren nicht nur besser, sondern auch häufiger am gymna-sialen Schulzweig (Weinmann 2010) und dies vermutlich zum Teil aufgrund mangelnder Genderkompetenz von Lehrkräften (Budde 2008; Bundesjugendkuratorium 2009), wobei die Ursachen im Ganzen noch nicht hinreichend geklärt sind. Dieses ist nicht nur ein deutscher, sondern auch ein europäisch und global beobachteter, problematisierter Trend (OECD 2015;

EACEA 2010; Cornwell et al. 2011).

Das schlechtere schulische Abschneiden von Jungen scheint sich früh in den Köpfen von Kindern festzusetzen, und diesen Trend zusätzlich zu bestärken. Mädchen glauben schon im Vorschul- und Jungen im Grundschulalter, dass Jungen akademisch Mädchen unterlegen sind, und dass dies auch die Überzeugung der Erwachsenen sei. Dieses von der Umwelt produzierte Selbstbild scheint wiederum die Schulleistung der Jungen zu verschlechtern (Hartley und Sutton 2013). Womöglich reichen die Auswirkungen dieses produzierten Selbst-bildes sogar noch weiter: Akademisch befähigte Jungen lernen aufgrund der Einflussnahme ihrer Umwelt womöglich schon sehr früh, dass sie nicht für ein Medizinstudium geeignet wären (Greenhalgh et al. 2004). Es ist anzunehmen, dass geeignete männliche Schüler sich aufgrund des von ihrer Umwelt geprägten Selbstbildes gar nicht erst auf einen Medizinstu-dienplatz bewerben.

Andere Auswahlverfahren, wie der TMS und der HAM-Nat, korrelieren stärker als die Abitur-note mit Studienerfolg und können die Studienabbrecherquote zusätzlich reduzieren (Hampe et al. 2008; Kadmon und Kadmon 2016). Ähnliche positive Ergebnisse zu Studierfähigkeits-tests zeigen auch Studien aus Dänemark, Österreich und der Schweiz (O'Neill et al. 2011;

Hampe et al. 2009; Hänsgen und Spicher 2002; Kraft et al. 2013). Diese Auswahlverfahren sind zudem in der Lage, das Geschlechterverhältnis auszubalancieren (Reibnegger et al.

2010; Tiffin et al. 2012; Werwick et al. 2015), da in diesen Tests Männer entweder besser (HAM-Nat) (Werwick et al. 2015) oder gleich gut (TMS) (Kadmon und Kadmon 2016) wie Frauen abschneiden. Auch hierzu gibt es aus dem europäischen Ausland (Mitterauer et al.

2007; Kraft et al. 2013; Puddey und Mercer 2013) und auch aus Australien (Wilkinson et al.

2014) korrelierende Ergebnisse.

Soziokulturelle und -demographische Fairness im Auswahlverfahren ist Ziel vieler Auswahl-verfahren im internationalen Raum (Tiffin et al. 2012; Magnus und Mick 2000; Felix et al.

2012; Boylan und Grant 2004; BMA Equal Opportunities Committee 2009). Die starke Ge-wichtung eines prognostisch wenig validen Auswahlkriteriums, das im vornherein global eine Chancenungleichheit eines Geschlechts darstellt und womöglich aufgrund von Stigmatisie-rung diese Chancenungleichheit noch zusätzlich verstärkt, kann also begründet problemati-siert werden. Eine geringere Gewichtung der Abiturnote mit stärkerer Betonung anderer

Auswahlkriterien, wie von den Teilnehmern unserer Befragung gewünscht, würde daher durchaus Sinn machen.

6.2.2 Andere Kriterien für ein Auswahlverfahren