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Gesamtdiskussion und offene Fragen

Im Dokument Visuelle Kontrolle der Lokomotion (Seite 81-85)

In allen bisher dargestellten Experimenten hatten die Fahrer die

Auf-Abbildung 2.23.Vergleich der Winkelgeschwindigkeit beider Wände als Funktion der late-ralen Geschwindigkeit. Die Werte beziehen sich jeweils auf einen Raumpunkt in einer Exzentrizität von 45˚ und einem gleichen Abstand zu beiden Seiten (5 m). Die laterale Bewegung ist in Richtung der höheren Wandgeschwindigkeit. Links: Parameter aus diesem Experiment. Bei einer lateralen Geschwindigkeit von ca. 0.64 m/s werden die Winkelge-schwindigkeiten während der seitlichen Bewegung ausgeglichen. Rechts: Vorheriges Expe-riment mit höheren Vorwärtsgeschwindigkeiten (10 und 20 m/s). Selbst bei der maximal erreichbaren lateralen Geschwindigkeit von 1.8 m/s, findet hier kein Ausgleich der Wandge-schwindigkeiten während der seitlichen Bewegung statt. Details zu dieser Berechnung sind in Anhang 2 zu finden.

0 0.5 1 1.5

0 0.2 0.4 0.6 0.8

Winkelgeschwindigkeit (rad/s)

1.43 m/s 2.86 m/s

0 0.5 1 1.5

1 1.2 1.4 1.6 1.8

Laterale Geschwindigkeit (m/s)

10 m/s 20 m/s

die durch einen Abgleich der Bildgeschwindigkeit und der Ortsfrequenzen im rechten und linken visuellen Halbfeld gelöst werden kann. Für einen Menschen, der sich zu Fuß entlang eines Ganges bewegt, stellt die Winkelge-schwindigkeit der Seitenwände somit einen nützlichen Hinweisreiz dar. Auf andere Aufgaben in der realen Umwelt kann diese Strategie nicht ohne wei-teres übertragen werden. Beispielsweise sitzt ein Fahrer in der Regel nicht in der Mitte des Fahrzeugs, oder wenn man an einen Tunnel mit zwei Fahrspu-ren denkt, muss der Fahrer sein Fahrzeug in einem unterschiedlichen Abstand zu den Seitenwänden steuern. Eine einfache Abgleichstrategie würde hier nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Bildgeschwindigkeit nur für eine Zentrierungsaufgabe genutzt werden kann, oder ob auch mit Hilfe der Bildgeschwindigkeit eine bestimmte Versetzung von der Korridormitte beibehalten werden kann, in dem ein bestimmtesVerhältnis der Bildgeschwindigkeiten angestrebt wird.

Dazu könnte man in einem ähnlichen experimentellen Aufbau ermitteln, ob (a) Versuchspersonen beispielsweise die Aufgabe, in der Mitte der rechten Hälfte des Korridors zu fahren, auch ohne Seitenlinieninformationen reliabel erfüllen können, und (b) ob durch eine einseitige Erhöhung der Wandge-schwindigkeit sich obendrein eine systematische laterale Versetzung zeigt.

Man müsste unter diesen Bedingungen allerdings auch eine höhere Variabi-lität tolerieren als in einer Zentrierungsaufgabe, da eine Referenz (das ange-strebte Verhältnis der Winkelgeschwindigkeiten) memoriert werden muss, gegen die die aktuellen Wandgeschwindigkeiten verglichen werden müss-ten. Bei einer einfachen Zentrierung ist eine solche Gedächtnisleistung nicht notwendig.

Es zeigte sich im ersten Experiment, dass Seitenlinien, wie kaum anders zu erwarten, eine bedeutsame Informationsquelle zur Spurhaltung darstel-len, auch wenn sie die Effekte, die durch unterschiedliche Ortsfrequenzen oder unterschiedliche Geschwindigkeit entstanden, nicht vollständig elimi-nieren konnten. Es stellt sich die Frage, inwieweit der verhältnissmäßig starke Einfluss der Seitenlinien daher rührt, dass die Seitenlinien in den ein-zelnen Durchgängen entweder vorhanden oder nicht vorhanden waren, und im Unterschied zu den Ortsfrequenzen und der Geschwindigkeit, nicht parametrisch variiert wurden. Die Variation der Ortsfrequenz und Geschwindigkeit kann während des experimentellen Verlaufs dazu geführt haben, dass diese zwei Hinweisreize von den Fahrern als weniger zuverläs-sig bewertet wurden, und die Seitenlinieninformation relativ dazu an Ein-fluss gewinnen konnte. Um die Seitenlinieninformation mit den anderen Informationsquellen vergleichbarer zu machen, und so eine möglicherweise geringere Gewichtung der Seitenlinieninformation zu untersuchen, könnte man die Fahrleistungen vergleichen, wenn (a) die Seitenlinien in einem unterschiedlichen Abstand zur Augenhöhe des Betrachters liegen und (b)

einzelne Seitenlinien innerhalb eines Durchgangs in unterschiedlichem ver-tikalen Abstand zum Betrachter präsentiert werden. Das letztgenannte würde dann den Konfliktbedingungen mit unterschiedlichen Wandge-schwindigkeiten und Ortsfrequenzen entsprechen.

Bei niedrigen ungleichen Wandgeschwindigkeiten fuhren die Versuchs-personen anfänglich zur Seite mit der höheren Bildgeschwindigkeit, und korrigierten nachfolgend wieder zur Mitte des Korridors. Offen ist, ob durch Verlängerung der Beobachtungsdauer (> 20 s), sich der gleiche Effekt wie bei höheren Vorwärtsgeschwindigkeiten eingestellt hätte, nämlich eine Korrek-tur zur Seite mit der niedrigeren Geschwindigkeit. Durch eine Beschrän-kung der lateralen Geschwindigkeit auf niedrigere Maximalwerte könnte man vielleicht entscheiden, ob der Eindruck der zirkulären Vektion oder das hohe Verhältnis zwischen der seitlichen Maximal- und vorwärtsgerichteten Geschwindigkeit für das Zusteuern zur Seite mit der höheren Geschwindig-keit verantwortlich ist. Sollte sich herausstellen, dass bei sehr niedrigen Vor-wärtsgeschwindigkeiten tatsächlich ein Eindruck einer Eigenrotation (oder besser gesagt einer kurvilinearen Bewegung) auftritt, würden sich weitere Fragen nach den spezifischen Bedingungen ergeben (Kontrast, Ortsfre-quenz, Geschwindigkeitsunterschied, Tiefencues u.s.w.). Meines Wissens ist der Übergang von einer linearen zu einer kurvilinearen Vektion noch nicht untersucht worden, und einen solchen Übergang nur durch Änderung eines einzigen Parameters erscheint durchaus denkbar. Sauvan und Bonnet (1995) konnten beispielsweise eine kurvilineare Vektion auslösen mit Hilfe zweier Bildschirme, die in einem Winkel von 120˚ zum Beobachter postiert waren, und auf denen zweidimensionale Streifenmuster mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu sehen waren. Aufgrund dieser Befunde sollte man dann erwarten, dass, indem man mehr und mehr vom zentralen Blickfeld abdeckt, die Beobachter die ungleich schnelle Bewegung der Seitenwände des Korridors irgendwann nicht mehr als eine geradlinige Bewegung, son-dern als eine kurvige Fahrt wahrnehmen.

In allen Experimenten nahm der Korridor ein Blickfeld von 180˚ ein, und die Größe des Blickfeldes wurde in dieser Studie nicht systematisch verän-dert. Es ist naheliegend danach zu fragen, ob alle Bereiche des Gesichtsfel-des für die Wahrnehmung und den Abgleich der Geschwindigkeiten eine gleich wichtige Rolle spielen, oder ob bestimmte Bereiche eher genutzt wer-den. Die Experimente von Duchon und Warren (2002) zeigen, dass ein hori-zontales Gesichtfeld von bereits 40˚ ausreicht, um vergleichbare Resultate mit den hier beschriebenen Ergebnissen zu erzielen. Sie legen damit nahe, dass der zentrale Blickbereich für das Kontrollverhalten zumindest hinrei-chend ist. Ob durch Hinzunahme exzentrischer Bereiche die Performanz der Fahrer erhöht werden kann, oder das Zentrum und die Peripherie des

visu-ellen Feldes für die Aufnahme und Verarbeitung der Geschwindigkeitsinfor-mation jeweils andere Aufgaben erfüllen als bei der Verarbeitung der Ortsfrequenzinformation, ist unklar.

In Beziehung dazu steht die Frage, ob die Geschwindigkeitsinformation über einen größeren Bereich integriert wird, beispielsweise indem die durch-schnittliche Winkelgeschwindigkeit im linken und rechten Halbfeld bestimmt und verglichen wird, oder ob die Geschwindigkeitsinformation lokal, an distinkten Stellen entnommen wird. Zu den distinkten Stellen im visuellen Feld könnten Bereiche mit einer mittleren Exzentrizität zur jeweili-gen Seite zählen, Bereiche, an denen die größte Geschwindigkeit vorliegt (in einer solchen Fahraufgabe gleichbedeutend mit den exzentrischsten Stellen), oder retinale Bereiche, die für die gegebenen Geschwindigkeiten die nied-rigsten Wahrnehmungsschwellen besitzen.

Um auf das eingangs vorgestellte Alltagsbeispiel zurück zu kommen (Abbildung 2.2.), das eine Szene zeigt, in der unterschiedliche Geschwindig-keiten zwischen beiden Bildhälften vorliegen, kann man aufgrund der hier vorgestellten Ergebnisse erwarten, dass man in einer solchen Verkehrssitua-tion durchaus eine systematische ReakVerkehrssitua-tion der Fahrer beobachten könnte.

Die Ergebnisse legen aber auch nahe, dass eine systematische Positionskor-rektur der Fahrer recht klein ausfallen kann, da normalerweise auch weitere Hinweisreize zur Verfügung stehen und die Fahrer nicht nur einen Abgleich der Bildgeschwindigkeiten vornehmen. Ob eine solche Korrekturbewegung zur Seite eines anderen Fahrzeugs stattfindet, und dass dabei auch weitere Faktoren zu berücksichtigen sind, ist auch Gegenstand des letzen Kapitels (Kapitel 7).

K

A P I T E L

3

CHAPTER3

G ESCHWINDIGKEITSWAHRNEHMUNG

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