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Die Frage nach der Gerechtigkeit steht für viele im Vorder grund, die von aussen an die Rechtsordnung herantreten; seien dies Rechts su chende, die vor dem Richter ein «gerechtes Urteil» erstreiten wollen, Wis senschafter

* Ich danke Dr. Hilmar Hoch, LL.M., Richter am F.L. Staatsgerichtshof und Rechts -anwalt, für seine sehr wertvollen Hinweise auf die neueste Praxis des Gerichtshofes, und meiner Assistentin, Frau lic.iur. Ursula Leu, für ihre sehr wertvolle Mitarbeit bei der Vorbereitung dieses Artikels. Der vorliegende Text beruht auf einem vom Verfasser am Liechtenstein-Institut gehaltenen Vortrag vom 15. Dezember 2000. Der Referatstext wurde erweitert und mit Fussnoten versehen.

1 Lord Justice Sedley, Freedom, Law and Justice, London 1999, S. 47.

2 Archibald Cox, Court and the Constitution, Boston 1987, S. 15.

3 Richard A. Posner, Cardozo – A Study in Reputation, Chicago/London 1990, S. 9.

4 Die Frage «Was ist Gerechtigkeit?» – versehen mit dem Untertitel «Gedankenskizzen eines Richters» – hatte in Liechtenstein bereits Dr. Heinz Josef Stotter, Fürstlicher Land richter in Vaduz, in der Liechtensteinischen Juristen-Zeitung 1983, Heft 1, S. 10 ff., in einer Abhandlung aufgeworfen, die von Platon, Aristoteles, Jesus, Kant, Kelsen bis zur Rolle des Richters im Bemühen um Gerechtigkeit und zum Urteil reich-te.

und Schrift stel ler, welche sich anschicken, die Funk tions weise des Rechts systems als solche zu untersuchen, oder Studenten zu Beginn des Rechtsstudiums. Sie alle entdecken, dass «Gerechtigkeit» nicht zum all-täglichen begrifflichen Instru men tarium des Juristen gehört; nur marginal ist in Kom men taren, Gerichtsurteilen oder Lehr büchern von Ge -rech tig keit die Rede. Rechtspraktiker werden auf die Frage, weshalb sie kaum von Gerechtigkeit sprächen, vielleicht im Sinne jenes Zürcher Oberrichters antworten, der – als Jurist und leidenschaftlicher Alpinist – mir zu Beginn meines Studiums gesprächsweise erklärte: «So wie es für den Bergsteiger nutzlos ist, sich über die Gravitations kraft den Kopf zu zerbrechen, die sein Tun beherrscht, und er sich fragt: Wie ist die Wand beschaffen, die ich bezwingen möchte – Granit oder Schiefer? Was ist der Schwierigkeitsgrad: fünf oder sechs? Wie ist die Gefahr einzuschät-zen, dass sich an der Halde ein Schneebrett löst? So fragt sich der Jurist nicht von von Tag zu Tag und von Fall zu Fall, was für eine innere Kraft die Rechtsordnung zusammenhalte und ihr Gestalt gebe, obwohl er sich natürlich bewusst ist, dass es diese Kraft gibt.»

Die Frage nach der Gerechtigkeit also ist – wenn auch auf der Oberfläche kaum sichtbar – auch für die juristische Praxis zentral.5Die liechtensteinischen Richter werden bei ihrem Amtsantritt feierlich daran erinnert, wenn sie schwören und geloben, «in allem, was vom Gerichte zu beurteilen ist, nach Recht und Gerechtigkeit, best Ihres Wissens und Gewissens ein allen gleich unparteilicher Richter zu sein».6

Wiewohl es in einem Land wie Liechtenstein keinen «Palais de Justice» gibt und die Richter auch nicht «Justices» genannt werden, steht die Idee der Gerechtigkeit im Hintergrund jeder Rechts und Richter

-5 Zum Ganzen Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl., Berlin 1996; Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit – Defizite eines Begriffs, 2. Aufl., Zürich 1993.

6 Die ganze Eidesformel lautet: «Sie schwören und geloben vor Gott dem Allmächtigen:

Genaue Beobachtung der Verfassung, Gehorsam den Gesetzen; Verschwiegenheit in allen an Sie gelangenden Amtssachen; allen erhaltenen Einberufungen zu Gerichts ver hand lungen und in der Amtspflicht liegenden Auf trä gen mit Vorbehalt statthafter Aus -schliessungs-, Ablehnungs- oder Verhin de rungs gründe jederzeit pünktlich Folge zu leis ten; in allem, was vom Gerichte zu beurteilen ist, nach Recht und Gerechtigkeit, best Ihres Wissens und Gewissens ein allen gleich unparteilicher Richter zu sein, ohne An -sehen der Person, dem Reichen wie dem Ar men, und dabei nicht an-sehen Miet, Gab, Gunst, Furcht, Freundschaft noch Feind schaft, denn allein gerechtes Gericht und Recht, inmassen Sie das gegen Gott, den All mäch tigen, am Jüngsten Tage verantworten können.» «Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!»

tätig keit. Dabei handelt es sich freilich nur um ein Postulat, das in der Rechts wirklichkeit voll nie erreicht werden kann. Der Cambridge-Professor Philip Allott schrieb überzeugend:

«The capacity of human beings to recognize order – the order of the physical universe, of society, or morality, of law, of human persona-lity, of human consciousness – is the capacity to recognize the order of all order. And the order of the order of law is called justice.»7 Dann aber weist er auf die Fragilität des Gerechtigkeitsideals hin:

«As they witness to the ideal of justice, courts, in everything they do, commit injustice . . . The justice of a given society, the social stice embodied in its law, is a shadow, and only a shadow, of the ju-stice of all juju-stice . . . A court is a blade of sacrifice.»8

Und das Gericht symbolisiert nach Allott die Warnung,

«that there is a justice above and beyond the justice of the law, that the law is always a means and never an end. The voice that is heard in the court-room is the voice of law (lex loquens). Its echo is the voice of justice (ius loquens).»9

Was also ist Gerechtigkeit? Ich versuche, den Begriff in eine Verbin dung zum «Gesetz» und zum «Gericht» zu bringen, also gleichsam eine Brücke zu schlagen, deren eine Teil das Gesetz und der andere Teil die Institutionen der Justiz, vor allem der Verfassungs ge richts barkeit, bildet und die durch das Mittelstück der Gerechtigkeit zusammengehalten wird. Für die (verfassungs)rechtliche Analyse unserer letzt lich nie lösba-ren Thematik seien vier Thesen aufgestellt:

– Gerechtigkeit bedeutet grundsätzlich Einhaltung der Gesetze.

– Voraussetzung für die Legitimität der Gesetze ist, dass sie ihrerseits in einem «fairen» Verfahren zustande gekommen sind.

– Aus nahmsweise kann sich der Gerechtigkeitsgedanke «korrektiv» ge-gen das (einfache) Gesetz wenden, dies insbesondere in Form

verfas-7 Philip Allott, The International Court and the voice of justice, in: Vaughan Lowe/

Malgosia Fitzmaurice (ed.), Fifty Years of the International Court of Justice: Essays in honour of Sir Robert Jennings, Cambridge 1996, S. 26.

8 A.a.O.

9 A.a.O.

sungsrechtlich geschützter Rechte und Prinzipien und letztlich des Willkürverbots.

– Das letzte Wort der Versöhnung der Gebote der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit liegt beim Richter, vor allem beim Verfassungsrichter.

Abschliessend sei, nach Betrachtung dieser vier «Topoi», erneut die Frage aufgeworfen: Was ist Gerechtigkeit?