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Ein Freund des überragenden amerikanischen Richters Oliver Wendell Holmes soll sich einst, vor dem Supreme Court stehend, von Holmes mit den Worten verabschiedet haben: «I wish you well in your task to do justice». Und Holmes soll geantwortet haben: «I am not here to do ju-stice, but to decide cases according to the rules.» Er brachte damit die hier vertretene These zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit zunächst gebie-tet, die Gesetze zu befolgen.

Dieses Prinzip ist nicht selbstverständlich, fand aber – historisch und literarisch – eine eindrückliche Verkörperung in der Figur von Sir Thomas More, seinerzeit Kanzler des englischen Königs Heinrich VIII.

Die Geschichte sei – weil sie trifft und sich einprägt – kurz darge-stellt. More hatte sich, nachdem Heinrich VIII. die Ehe mit Katharina von Aragon als nichtig bezeichnet und Anna Boleyn geheiratet hatte, ge-weigert, einen Treueschwur auf den König abzulegen, in dem er allen Gehorsam dem «Bischof von Rom» gegenüber aufgekündigt und Hein -rich als das Haupt der «Church of England» anerkannt hätte. Er wurde wegen Verrats verurteilt; Richard Rich, einst Freund von More, legte Zeugnis gegen ihn ab.

Der Regisseur Robert Bolt konzipierte im Film «A Man for all Sea -sons» das folgende Gespräch zwischen More, seiner Tochter Margaret und seinem künftigen Schwiegersohn Roper, wobei sich anfänglich auch Rich im Raum befindet:

Margaret: Vater, dieser Mann (gemeint ist Rich) ist schlecht.

More: Dem steht kein Gesetz entgegen.

Roper:Aber doch! Das Gesetz Gottes!

More:Dann kann Gott ihn verhaften.

Roper:Sophismen über Sophismen!

More:Nein, ich meine etwas ganz Einfaches. Das Recht, Roper, das Recht. Ich weiss, was Rechtens ist, nicht was richtig ist. Ich halte mich an das, was Rechtens ist.

Roper: Dann setztest Du das Recht der Menschen über das Recht Gottes.

More: Nein, weit darunter; aber lasst mich darauf hinweisen: ich bin nicht Gott. Durch die Strömungen und Klippen von richtig und falsch, die Dir so leicht zu durchsegeln erscheinen, kann ich nicht navigieren; ich bin kein Seefahrer. Aber im Dickicht des Rechts, ja, da bin ich ein Förster. Ich bezweifle, ob es jemanden gibt, der mir da folgen könnte.

Mittlerweile hatte Rich den Raum verlassen.

More: Und gehen soll er, solange er das Gesetz nicht gebrochen hat, selbst wenn er der Teufel wäre.

Roper: Du würdest also den Teufel unter den Schutz des Gesetzes stellen?

More: Ja. Was würdest Du tun? Eine grosse Schneise durch den Wald schlagen, um den Teufel zu verfolgen?

Roper:Ich würde jedes Gesetz Englands niederschlagen, um dieses Ziel zu erreichen.

More:Oh? Und wenn das letzte Gesetz niedergeschlagen wäre und der Teufel sich Dir zuwendete – wo würdest Du Dich verstecken, Roper, nachdem die Gesetze alle flach liegen? Dieses Land ist, von Küste zu Küste, mit Gesetzen dicht bepflanzt – Gesetzen der Men -schen, nicht Gottes – und wenn Du sie niederschlägst – und Du wärest der geeignete Mann dazu – glaubst Du wirklich, dass Du noch aufrecht stehen könntest in den Winden, die dann bliesen? Ja, ich würde den Teufel unter den Schutz des Gesetzes stellen, um meiner eigenen Sicherheit willen.10

Eine erste These also ist, dass Gerechtigkeit dadurch verwirklich wird, dass das Gesetz befolgt wird.11 Dies ist die Lehre von Thomas More.

10 Wiedergegeben in Brian Harris, The Literature of the Law, London 1998, S. 335 f.

11 Dem Leitbild, wonach für den Richter erstes Gebot die Beachtung und Durchsetzung des vom demokratischen Gesetzgeber beschlossenen Rechts darstellt, entspricht die methodische Grundsatzeinstellung des «judical self-restraint» (im Gegensatz zu dem

Dieser Grundsatz ist – nach der Rechtsprechung des schweizerischen Bun desgerichts – in dem als Brenn- und Kristallisationspunkt der Rechts methodik ausgestalteten, verfassungsrechtlichen Willkürverbot ent halten.

Gerechtigkeit bedeutet also zunächst Ernstnehmen und Beachtung des Rechts, wie es – in vielfältig gewordenem und reichem «Dickicht» – gewachsen ist. Hierin liegt letztlich der Schutz der Freiheit der Bürger, die Ziel jeder Rechtsordnung ist. Der Grundsatz ist wichtig. Die An -erken nung des Rechts, «Schneisen zu schlagen» und «abzuholzen», würde leicht zu Machtmissbrauch und Arroganz, Masslosigkeit, Autori -ta rismus sowie Geringschätzung des Willens der Bürger als Mitglieder der politischen Gemeinschaft führen, wie er im demokratisch beschlos-senen Recht seine Verkörperung gefunden hat; sie würde die Rechte und Be dürf nisse der Bürger beeinträchtigen.12

Geboten ist also zunächst Gesetzmässigkeit des staatlichen Han -delns. Der Bürger hat als Ausfluss aus dem Gerechtigkeitsprinzip oder, prä ziser ausgedrückt, nach Massgabe des Willkürverbots einen An -spruch darauf, dass der Staat ihm gegenüber die Legalordnung nicht in grober Weise missachtet. Natürlich fragen wir weiter: Was aber ist der Wille des Gesetzes? Hierauf ist zu antworten, dass – prima facie – kein Ver stoss gegen den Minimalstandard der Gerechtigkeit bzw. gegen das Will kürverbot vorliegt, wenn das Gesetz seinem Wortlaut gemäss ge-handhabt wird. Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Text der zu in-terpretierenden Gesetzesbestimmung. Es gilt die Anscheinsvermutung,

die schöpferische Seite der Richtertätigkeit betonenden «judicial activism»); hervorra-gender Vertreter dieser Schule war Learned Hand– gelegentlich bezeichnet als «the greatest judge never to be appointed to the Supreme Court». Vgl. Gerald Gunther, Learned Hand – the Man an the Judge, Cambridge (Mass. 1994), S. 664: «Hostility to the judges’ tendency to pour their personal preferendes into vague constitutional phras -es was Hand’s most consistent, deep seated feeling about courts.» Vgl. als wissen-schaftlichen Vertreter dieser Richtung etwa Alexander M. Bickel, The Supreme Court and the Idea of Progress, New Haven/London 1978, S. 21; ders., The Morality of Consent, New Haven/London 1975. Als «judicial activist» galt «Supreme Court»-Richter William O. Douglas; vgl. William O. Douglas, The Court Years (1939–1975) – The Autobiography of William O. Douglas, New York 1980.

12 Vgl. in diesem Kontext auch etwa als Warnung Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen – Die Erinnerungen 1914–1933, 5. Aufl., Stuttgart/München 2000, der ein-drücklich-konkret, d.h. aus der Binnensicht des Berliner Kammergerichts, schilderte, wie die bisher massgebliche, differenzierte rechtliche Doktrin und Praxis im Zug und Zeichen des neuen «Telos» Führungsprinzip Schritt für Schritt erodierte, degenerierte und pervertiert wurde (vgl. S. 175 ff.).

dass das Recht so gilt, wie es sich in seinem Wortlaut präsentiert. Dabei ist es aber auch möglich, dass sowohl ein wortlautkonformer wie auch ein vom Wortlaut abweichender, aber durch eine andere anerkannte Aus legungsmethode ermittelter Sinngehalt des Gesetzes dem Gerech -tig keits gebot entspricht oder eben – besser – willkürfrei ist, das Gesetz also eine Spannweite je vertretbarer Auslegungsvarianten offenhält: dass also auch eine dem Gesetzeswortlaut widersprechende Interpretation des Gesetzes vor dem Willkürverbot standhalten kann, wenn triftige Gründe ein solches Resultat der Auslegung indizieren. Es kann sich so-dann, wenn sich «intra legem» keine Lösung finden lässt, auch aufdrän-gen, dass der Richter «extra legem» eine Lücke zu füllen sucht, wobei er methodisch so vorgehen soll, wie wenn er selbst Gesetzgeber wäre.13

Ich will hier nicht weiter auf die Problematik der willkürfreien oder vor dem Gerechtigkeitsgebot standhaltenden Gesetzesauslegung14 ein -gehen, sondern nur meine erste These wiederholen: Gerechtigkeit be-deutet zunächst Befolgung der Gesetze, wie immer deren Bestand und Inhalt ermittelt wird.

Um als legitim zu erscheinen, müssen Gesetze in einem