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Auf die Frage «Was ist Gerechtigkeit?» gibt es letztlich keine verbind -liche Antwort. Es ist eine alte Einsicht der Rechtspraxis und der Rechts wis senschaft, dass der Gerechtigkeitsgedanke offenbar erst im Fall seiner konkreten und krassen Verletzung für den Juristen greifbar wird. Ge richten, deren Recht sprechung sich – wie eingangs aufgezeigt – letztlich am Gerechtig keits ge danken zu orientieren hat, wird denn auch in allen Rechts kul tu ren ein hoher Symbolwert zugemessen. Sie erscheinen als Tempel26 (in denen Opfer gebracht werden), als Kampf -stätten, in denen Dramen aus dem menschlichen Leben sich abspielen und behandelt und entschieden werden.27Eine grosse Errungenschaft, die von der Magna Charta über den amerikanischen Supreme Court in die moderne Rechts kul tur eindrang, ist – als institutionelle Garantie zum Schutz von Recht und Gerechtigkeit28– die Unabhängigkeit der

26 Paul Johann Anselm von Feuerbach beginnt seine Antrittsrede als erster Präsident des Appellationsgerichts mit dem Satz: «Indem ich in dieser mir feierlichen Stunde zum er-sten Mal in Ihre Mitte trete, fühle ich das Innerste meines Gemüts von der Grösse des Berufs durchdrungen, für welchen wir in diesem Tempel der Gerechtigkeit vereinigt sind.» In: Paul Johann Anselm von Feuerbach, Die hohe Würde des Richteramts, in: Ders., Naturrecht und positives Recht: von Gerhard Haney, Freiburg i.Br. 1993, S. 226 ff., 231.

27 Anschaulich Hans Peter Walter, Psychologie und Recht aus der Sicht eines Richters, in:

Jörg Schmid/Pierre Tercier (Hrsg./Ed.), Psychologie und Recht – Psychologie et Droit – Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Gauch – Symposium pour le 60e anniver-saire de Peter Gauch, Zürich 2000. Zu Recht schreibt Walter (S. 33 ff.): «Konflikte be-dürfen jedoch vorerst nicht der Entscheidung, sondern der Behandlung, und das Verfahrensrecht wäre mit Vorteil als umfassende Streitbehandlungslehre zu begreifen.»

28 Zum Ganzen etwa René Rhinow, Die Bundesverfassung 2000 – Eine Einführung, Basel/Genf/München 2000, S. 191 ff.; Stefan Trechsel, Gericht und Richter nach der EMRK, in: Robert Hauser/Jörg Rehberg/Günther Stratenwerth (Hrsg.), Gedächtnis -schrift für Peter Noll, Zürich 1984, S. 385 ff.

Justiz von der politischen Ge walt. Max Lerner schrieb zum Konzept des «Rule of law»:

«The subjection of all public officials to a higher law that is ‹com-mon› not only in the sense that it is available to all men but also in the sense that it exempts no one was carried over into the American colonies, and it took the form here of the concept of the Constitu -tion as a ‹fundamental law›. It cropped up timorously in some of the early cases that are now cited as forerunners of Marbury v. Madi -son, and in that case it took its first long step towards being conver-ted into the doctrine of judicial review. It has been the principle ideological force bolstering judicial review as a necessary doctrine in a ‹government of laws and not of men›. It is an influence that lingers today in the minds of those who never heared of Coke, and who do not know the meaning – much less the ‹spirit› – of the common law.»29

Es ist kein Zufall, dass sich auch Archibald Cox, Sonderbeauftragter im Watergate-Prozess gegen Präsident Nixon, auf die lange, mit der «Magna Charta» einsetzende Geschichte des «Rule of Law» berief. Er erinnerte an die von Chief Justice Coke an König James I. erteilte Ant wort: «The King ought not to be under any man, but is under God and the Law.»

Und er berief sich auf ein Dictum von Justice Robert H. Jack son:

«With all its defects, delays and inconveniences, men have discover-ed no technique for long preserving free government except that the Exe cutive be under the law, and that the law be made by parlia-mentary deliberations.»30

Zur Klärung von Ungewissheiten über Fragen von Recht und Ge rech -tigkeit sehen wir uns unabdingbar auf die Figur des Richters verwiesen.

Das besondere Verfahren des Verfassungsprozesses und die besondere Legitimation des Verfassungsrichters scheinen Gewähr dafür zu bieten, dass angesichts des jeweiligen konkreten Falles ein verantwortbares Urteil über die Verletzung oder Nichtverletzung des Willkür ver botes oder andere Gerechtigkeitstopoi gefällt wird.

29 Max Lerner, Nine Scorpions in a Bottle – Great Judges and Cases of the Supreme Court, New York 1994, S. 28.

30 Archibald Cox, The Court and the Constitution, Boston 1987, S. 9 f.

Paul Johann Anselm von Feuerbach rief in seiner Antrittsrede als erster Präsident eines Appellationsgerichts über «Die hohe Würde des Rich teramts» im Jahre 1817 mit den folgenden Worten eine alte Einsicht in Erinnerung:

«Die Staatsgewalt, welche sich zu verstärken meinte, wenn sie die Rich ter ihrem Belieben unterworfen und aus freien Dienern des Rechts dienstwillige Knechte der Willkür sich erzogen hätte, würde bei weitem mehr verloren als gewonnen, vielmehr nichts gewonnen und alles verloren haben. Mit der Freiheit selbständiger Richter hät-te sie die Gerech tig keit im Staahät-te aufgehoben und mit ihr eben das-jenige, was stärker als Heeres macht die Staaten hält und die Throne stützt. Denn auch Heeres macht ist nur mächtig durch die öffent -liche, Geister und Herzen durchdringende Meinung, die sich aber empört von jedem abwendet, der sich von der Gerechtigkeit abge-wendet hat.»31

Liechtenstein verfügt über eine stark ausgebaute Gerichtsordnung. Der Einbezug von ausländischen, d.h. von österreichischen und schweizerischen Richtern, ins liechtensteinische Justizsystem erhöht die Unab hän -gig keit und Unparteilichkeit der Gerichte und insbesondere auch den Anschein der Wahrung der Unabhängigkeit und Unparteilich keit durch die Rechtssuchenden und Rechtsunterworfenen.

Der Staatsgerichtshof, den Josef Kühne als die Krönung des liech-tensteinischen Justizsystems darstellte und dessen Jubiläum wir feiern, ist das älteste kontinuierlich bestehende Verfassungsgericht der Welt.

Ihm ist die Aufgabe übertragen, im Rahmen der liechtensteinischen Verfassungsordnung letztinstanzlich die Grundrechte zu schützen und insbesondere in – soweit dies möglich ist – nachvollziehbarer Weise das Willkürverbot zu handhaben.32 Für den letztlich tatbestandmässig nicht mehr erschliessbaren Ver fas sungskern des Willkürverbotes oder des Gebotes minimaler Gerech tig keit halten wir uns an das – wohl nicht

31 Von Feuerbach, a.a.O., S. 231.

32 Zum Ganzen vgl. etwa Gerard Batliner, Der konditionierte Verfassungsstaat, in diesem Band, S. 109 ff.; Josef Kühne, Der Staats gerichtshof des Fürstentums Liechtenstein – Funk tion und Kompetenzen, EuGRZ 1988, S. 230 ff.; Daniel Thürer, Liechtenstein und die Völkerrechts ord nung, Archiv des Völkerrechts, Heft 2, 1998, S. 98 ff.; insbes.

S. 121 ff.

ohne Rücksicht auf seine eigene Berufslaufbahn geprägte – Wort von Lord Denning: «someone must be trusted. Let it be the judges.»33