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4. Gewissenlosigkeit und Ungerechtigkeit bei Judith N. Shklar

4.1. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit

„Wann ist eine Katastrophe ein Unglück und wann eine Ungerechtigkeit? Intuitiv scheint uns die Antwort offensichtlich zu sein (ebd. 8), mit diesen Worten leitet Judith Shklar ihr Buch „Über Ungerechtigkeit“ ein. So einfach ist die Unterscheidung jedoch bei genauer Betrachtung für sie nicht, da sich die Wahrnehmungen der Beteiligten, seien es Opfer, Täter oder Beobachter

unterscheiden (vgl. Shklar 1992, 28). Shklar meint, dass bei der Unterscheidung von Ungerechtigkeit und Unglück, die Fähigkeit und Bereitschaft eines Menschen

„im Interesse der Opfer zu handeln oder nicht zu handeln, anzuklagen oder freizusprechen, zu helfen, zu lindern und wiedergutzumachen, oder uns einfach abzuwenden“ (ebd. 9), eine Rolle spielt. Obwohl diese Unterscheidung unbestimmt und veränderlich ist, wird sie, so Shklar, aus gesellschaftlichen Gründen aufrechterhalten bleiben, weil sie der Deutung der menschlichen Erfahrungen sowie der Kontrolle und Einschränkung der Sicherheit der Mitglieder einer Gesellschaft dient. Die Entscheidung, ob ein Unglück oder eine Ungerechtigkeit vorliegt, ist für sie jedoch eine politische und sie stellt sich die Frage, wo die Trennlinie zwischen beiden gezogen werden soll (vgl. ebd. 14). Es gibt zahlreiche Gerechtigkeitsmodelle, in denen, laut Shklar, Ungerechtigkeit lediglich als Gegensatz oder das Fehlen von Gerechtigkeit gesehen wird.

Ausgehend von dieser Annahme wird jedoch vieles übersehen (vgl. ebd. 31).

„Der Sinn für Ungerechtigkeit, die Schwierigkeiten, die Opfer der Ungerechtigkeit zu identifizieren, und die vielen Weisen, in denen jeder lernt, mit den wechselseitigen Ungerechtigkeiten zu leben, werden ebenso leicht übergangen wie die Beziehung privater Ungerechtigkeit zur öffentlichen Ordnung“ (ebd. 31).

Judith Shklar stellt sich die Frage, ob alles, was über Ungerechtigkeit gesagt werden kann, das ist, dass sie das Gegenteil oder das Fehlen von Gerechtigkeit ist, oder vielleicht doch die Möglichkeit besteht, über diese Feststellung hinauszugehen (vgl. ebd. 33)? Diese Vorstellung ist, ihr zu Folge, nicht einfach, da in den gewöhnlichen Gerechtigkeitsmodellen, die von Aristoteles geprägt worden sind, Ungerechtigkeit reduziert wird auf den Zusammenbruch von Gerechtigkeit,

„so als sei Ungerechtigkeit eine erstaunliche Abnormität“ (ebd. 33). Shklar schreibt, Ungerechtigkeit herrscht vor, wenn die Gerechtigkeit zerstört ist und zeigt die Art von Verhalten auf, das vermieden werden soll und kann, durch Bestimmungen der Gerechtigkeit. Sobald Ungerechtigkeit beseitigt bzw.

kontrolliert wird, kann die Aufmerksamkeit wieder der Gerechtigkeit zugewandt werden, was, laut Shklar, in Frage gestellt werden soll (vgl. ebd. 33f.). Sie erwähnt den Begriff der „primären Gerechtigkeit“, und meint damit die grundlegenden Regeln sowie spezifischen Gesetze, die in einer Gesellschaft vorherrschen und an die sich die Menschen zu halten haben, um Ungerechtigkeiten vorzubeugen.

Shklar behauptet aber keinesfalls, dass dieses Modell von Gerechtigkeit abwegig

ist, da es ohne Rechtsordnung und Institutionen, die diese Ordnung regeln und ausführen, keine Gesellschaft oder Beziehungen geben kann (vgl. Shklar 1992, 35f.). Sie hinterfragt aber, „die dem gewöhnlichen Modell eigene, selbstzufriedene Auffassung von Ungerechtigkeit und das Vertrauen in die Fähigkeit der Institutionen, dem Unrecht gewachsen zu sein“ (ebd. 36). Ungerechtigkeit ist, laut Shklar, kein amoralischer Zustand und mehr als der Zusammenbruch von Gerechtigkeit. Sie macht, ihrer Meinung nach, vor keinem Staat halt, im Gegenteil, Ungerechtigkeiten geschehen häufig in etablierten Gemeinwesen, mit funktionierenden Gesetzen und werden oft von den Menschen begangen, die sie eigentlich verhindern sollen. Große Skeptiker haben, laut Shklar, das gewöhnliche Gerechtigkeitsmodell angezweifelt und es so in Frage gestellt, dass dadurch die Ungerechtigkeit stärker zum Vorschein gekommen ist (vgl. ebd. 37ff.). Platon hat, ihr zu Folge, das gewöhnliche Modell am radikalsten abgelehnt und als „Ausdruck einer tiefen Unwissenheit“ bezeichnet, „weit davon entfernt, ungerechte Menschen zu ändern, verstärkt und erhält es nur ihre Gewohnheiten“ (ebd. 40). Aufgrund der Unwissenheit der Gesellschaft werden die Ungerechten eingeladen, durch die Zurverfügungstellung von öffentlichen Einrichtungen, in denen sie ihre Begehren vorbringen können, ungerecht zu sein, so Platon. Gewöhnliche Gerechtigkeit wurzelt, seiner Meinung nach, im Überfluss und Mangel sowie den Folgen die daraus entstehen (vgl. ebd. 41 u. 43).

„Für Platon ist Ungerechtigkeit zuerst und hauptsächlich ein Erkenntnisproblem.

Unser Unvermögen, das Ganze zu erkennen und zu verstehen, was eine vernünftige Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und all ihren Beziehungen sein würde, nimmt uns jede Möglichkeit, eine gerechte Ordnung aufzubauen. Selbst wenn wir über ein vollständiges Wissen verfügen würden, könnten wir es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ertragen“ (ebd. 44).

Ungerechtigkeit wird in Bezug auf Platon in jeder Gesellschaft durch Unwissenheit besiegelt. Gerechtigkeit ist aus praktischen sowie erkenntnismäßigen Gründen zum Scheitern verurteilt, weil gute Absichten nicht ausreichen, um gegen das moralische Unrecht zu kämpfen, das Menschen begehen und auch keine Gesetzgebung oder gesellschaftliche Ordnung kann als Heilmittel gegen Unwissenheit herangezogen werden, schreibt Shklar (vgl. ebd. 45 u. 47). „Das Böse ist derart überwältigend, daß wir in unserer durch die Sünde geschaffenen Unwissenheit nicht gerecht sein können“ (ebd. 47).

Das gewöhnliche Gerechtigkeitsmodell, das, laut Shklar, davon ausgeht, dass es möglich ist, eine eindeutige Unterscheidung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit ausmachen zu können, ist, ihr zu Folge, praktisch nutzlos, da es dem Menschen Eigenschaften zuschreibt, die er nicht besitzt und dazu neigt, „die passive Ungerechtigkeit, den Sinn des Opfers für Ungerechtigkeit, und letztlich den vollständigen, komplexen und anhaltenden Charakter der Ungerechtigkeit als ein soziales Phänomen außer acht zu lassen“ (Shklar 1992, 19).

Shklar spricht einerseits von ‚“passiver Ungerechtigkeit“ und andererseits von den

„Opfern von Ungerechtigkeit“. Was genau sie damit meint, soll in den nächsten Kapiteln näher erläutert werden.