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3. Gewissenlosigkeit und Bosheit bei Hannah Arendt

3.4. Das Böse

Ausgehend davon, dass Gewissen ein Bewusstsein des Menschen ist, mit dem er sich selbst wahrnehmen und erkennen kann, und der Mensch dieses Bewusstsein im Zwiegespräch mit sich selbst durch die Tätigkeit des Denkens gewinnt, bedeutet „Böses tun“, bei Arendt, zu vergessen und zu verdrängen, was man tut (vgl. Arendt 2003, 75). „Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten“ (ebd. 77). Es gibt einen besonderen Zusammenhang zwischen Denken und Erinnern bei Arendt, denn wenn man sich nicht an das erinnert, was man getan hat, kann man, ihr zu Folge, nicht darüber nachdenken und somit auch nicht in Disharmonie mit seinem Selbst geraten. Ein Mensch kann, so Arendt, nur Wurzeln, schlagen und sich selbst stabilisieren, wenn er an vergangene Angelegenheiten denkt (vgl. ebd. 76f.). „Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten“ (ebd. 77).

Der Mensch ist sich selbst mehr ausgeliefert, als irgendjemandem sonst, so Arendt. Wenn man jedoch Erinnerungen verdrängt und sich weigert über begangene Taten nachzudenken, hört man, laut Arendt, auf, mit seinem Selbst in Beziehung zu stehen und somit mit sich selbst zu reden, was dazu führen kann, sich selbst zu verlieren (vgl. ebd. 78).

Arendt schreibt, wenn es nach Sokrates moralischer Behauptung geht, konstituiert sich der Mensch im Denkprozess (vgl. ebd. 77). Davon ausgehend kann das

„was wir gewöhnlich Persönlichkeit nennen – und das hat nichts zu tun mit Begabung und Intelligenz –, dann ist sie das Einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit. Anders gesagt, wenn vergeben wird, dann wird nicht das Verbrechen vergeben, sondern der Person; beim wurzellosen Bösen gibt es keine Person mehr, der man je vergeben könnte“ (ebd. 77f.).

Vergeben wird nicht die Tat selbst, also zum Beispiel ein Mord, sondern, so Arendt, vergeben wird der Person, also dem Mörder, unter Einbeziehung seiner Absichten und der Umstände der Tat. Hannah Arendt schreibt, die Nazi-Verbrecher haben immer beteuert, dass sie keine bösen Absichten gehabt haben und nie aus eigener Initiative gehandelt haben, sondern nur Befehle befolgt haben. Sie haben sich geweigert, über ihr Handeln nachzudenken und sich im Nachhinein sogar dagegen gewehrt, sich an ihre Taten zu erinnern (vgl. Arendt 2003, 101):

„Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu kommunizieren, die ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind“ (ebd. 101 ff.).

Was normalerweise als die Persönlichkeit eines Menschen verstanden wird, so Arendt, entwickelt sich gerade aus dem Denkprozess, der dazu dient Wurzeln zu schlagen. Denn nur die Personen, die in ihren Gedanken und Erinnerungen wurzeln, kennen, ihrer Meinung nach, die Grenzen für ihr eigenes Tun, wissen, wie sie mit sich selbst zu leben haben und ziehen daraus die Grenzen für ihr Tun.

Dort, wo dies nicht der Fall ist, wo es keine Wurzeln und Grenzen gibt, nur dort ist, laut Arendt, das „extreme“ Böse möglich (vgl. ebd. 85f.).

Das bedeutet, dass sich bei Arendt die Persönlichkeit des Menschen durch das Denken, das Zwiegespräch mit sich selbst, entwickelt, denn erst dadurch schlägt der Mensch die Wurzeln für seine Handlungen. Der Mensch entwickelt sich erst deshalb vom menschlichen Wesen zu einer Person, so Arendt (vgl. ebd. 85f.).

Personen, die nicht in ihren Erinnerungen und Gedanken wurzeln, verlieren, laut Arendt, dieses Personenhafte jedoch und sind somit diejenigen, die Böses begehen. Sie geht davon aus, dass indem der Mensch aufhört sich zu erinnern und zu denken, er aufhört mit seinem Selbst in Beziehung zu stehen und an die Stelle des Dialoges mit sich selbst Stille tritt, was zum Selbstverlust des Menschen führen kann (vgl. ebd. 75ff.).

Kerstiens hat diese Stille als verstummen des Gewissens bezeichnet. Er schreibt, dass jemand nur dann wirklich gewissenlos handelt, wenn er nicht mehr in der Lage ist seine Menschlichkeit zu aktualisieren (vgl. Kerstiens 1987, 21). Das Böse

oder „Bösesein“ wird bei ihm nicht erwähnt, sondern er betont immer wieder das Verstummen des Gewissens und dass es wieder geweckt werden muss, was problematisch ist, wenn man Hannah Arendt folgt. Wenn, wie bei ihr, davon ausgegangen wird, dass anstelle des Zwiegesprächs mit seinem Selbst, Stille tritt, kann dies als Übereinstimmung mit Kerstiens Meinung, dass das Gewissen verstummt, gesehen werden. Es sei jedoch nicht möglich das Gewissen einfach wieder zu wecken, weil es nicht schlummert und plötzlich erwachen kann. Stille sei nicht erweckbar. Das der Mensch „Zwei-in-Einem“ ist, könne sich nicht durch einen Weckruf einstellen.

Hannah Arendt schreibt, im Weiteren, dem Willen eine besondere Bedeutung zu.

Neben der Vernunft und dem Begehren gibt es für sie den Willen als drittes Vermögen des Menschen. Dieser Wille dient, laut Arendt, als Schiedsrichter zwischen den beiden anderen Vermögen, dem Begehren und der Vernunft und aus diesem Grund ist er alleine frei (vgl. Arendt 2003, 104). Sie meint, er gibt die Impulse nach denen der Mensch handelt. Wenn der Mensch seine Wünsche kennt, diese jedoch nicht gutheißt, so Arendt, ist er dank des Willens in der Lage zu sagen: „Ich kann nicht. Was wir über den Willen als erstes lernen, ist also ein Ich-will-aber-kann-nicht“ (ebd. 111). Das „Ich-will“ ist aber die Voraussetzung für ein „Ich-kann-nicht“, meint Arendt weiter. Diese Spaltung, die im Willen durch die Schiedsrichterfunktion zwischen Vernunft und Begehren erzeugt wird, ist für sie jedoch keine friedliche, sondern kann als erbarmungsloser Kampf gesehen werden. Der Wille, als geistiges Vermögen, hat ihrer Ansicht nach absolute Macht über den Körper, da der Mensch körperlich nicht frei ist, im Gegensatz zum Willen, weil er nicht die nötige Stärke besitzt, das zu machen, was er will. Arendt schreibt, dass der Körper, wenn er vom Geist einen Befehl bekommt, sofort gehorcht, gibt der Geist jedoch Befehle an sich selbst, erfährt er Widerstand (vgl. ebd. 111ff.).

„Das Problem ergab sich, wie wir sahen, als entdeckt wurde, daß das Ich-will und das Ich-kann nicht dasselbe sind – unabhängig von äußeren Umständen. (…) Die Verwirrungen des Willens werden, im Gegenteil, nur dann offenkundig, wenn der Geist sich selbst sagt, was zu tun ist. Das wird als Gebrochenheit des Willens, der gleichzeitig will und nicht will, dargestellt. Dann erhebt sich die Frage: Kann von mir gesagt werden, ich sei frei – ungezwungen von Anderen oder von der Notwendigkeit, wenn ich das tue, was ich nicht will, oder umgekehrt: Bin ich frei, wenn es mir gelingt, das zu tun, was ich will“ (ebd. 125)?

Den Willen bezeichnet Hannah Arendt als menschliches Vermögen, das zwiegespalten ist und Befehle erteilt. Diese Spaltung des Willens, sagt sie, ereignet sich nicht zwischen Partnern, sondern zwischen „Einem“, der die Befehle gibt und „Einem“ der Gehorsam leistet. Wenn der Mensch der Tätigkeit des Denkens im Geist nachkommt, so Arendt, ist er „Zwei-in-Einem“, also aufgespalten, um im Dialog mit sich selbst zu stehen. Die Aufgabe des Willens ist es, Arendt zu Folge, den Menschen zum Handeln zu bewegen. Aus diesem Grund ist es für sie wichtig, dass der Mensch entschieden „Einer“ ist und nicht „Zwei-in-Einem“, wenn er seinem Willen folgt (vgl. Arendt 2003, 115f.).

Der Wille hat, laut Arendt, zwei Funktionen, eine als Schiedsrichter und eine als Kommandeur. Sie meint, er wird aufgerufen und soll über Ansprüche urteilen, die im Streit miteinander liegen. Dabei wird von ihr angenommen, dass der Wille in der Lage ist Recht und Unrecht zu unterscheiden. Das Urteil, das der Wille treffen soll, meint Arendt, ist ein Vermögen, das dann von Bedeutung ist, wenn der Mensch sich mit dem Besonderen beschäftigt. Das Urteil trifft, laut Arendt, Entscheidungen über die Verbindung von allgemeinen und besonderen Beispielen. Hier kommt für sie dem Gemeinsinn, nach Kant, Bedeutung zu. Für Kant ist der Gemeinsinn etwas, was uns zu Mitgliedern einer Gemeinschaft macht und der es uns ermöglicht, mit anderen Leuten über Dinge zu kommunizieren, die uns privat gegeben sind. Dabei spielt für ihn die Einbildungskraft eine besondere Rolle (vgl. ebd. 135ff.). „Der Gemeinsinn kann, aufgrund seiner Einbildungskraft, in sich alle diejenigen anwesend haben, die in Wirklichkeit abwesend sind“ (ebd.

141). Er nennt dies „erweiterte Denkungsart“. Das bedeutet, dass das Urteil eines Menschen in bestimmten Fällen nicht ausschließlich von seiner Wahrnehmung abhängig ist, sondern auch davon, was er sich vergegenwärtigt, was er wahrnimmt, so Arendt. Sie macht deutlich, dass selbst, wenn der Mensch beim Urteilen andere berücksichtigt, er noch lange nicht mit ihnen in seinem Urteil übereinstimmen muss. Da der Mensch jedoch durch diesen Gemeinsinn, nicht mehr nur durch die Berücksichtigung seines Selbst zu seinen Schlussfolgerungen gelangt, ist sein Urteil nicht mehr subjektiv, so Arendt (vgl. ebd. 141f.).

„Wenn der Gemeinsinn – jener Sinn, durch den wir zu Mitgliedern einer Gemeinschaft werden – die Mutter der Urteilskraft ist, dann kann nicht einmal ein Bild oder ein Gedicht, geschweige denn eine moralische Frage beurteilt werden, ohne im stillen die Urteile Anderer heranzuziehen und abzuwägen, auf die ich mich beziehe (…)“ (ebd. 143f.).

Das bedeutet, Arendt folgend, sobald ein Mensch über jemanden oder etwas urteilt, er aufgrund seines Gemeinsinnes, immer andere und deren Urteile bei seiner Entscheidung berücksichtigt und somit nicht mehr nur bei sich selbst ist.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis und die Beschreibung des Bösen von Hannah Arendt für Gewissenlosigkeit? Dieser Frage widmet sich der nächste Abschnitt.