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Geltungsbereich des Solidarprinzips

Im Dokument REFORMOPTIONEN IM GESUNDHEITSWESEN (Seite 189-194)

Geschätzte Finanzierungsdefizite

3. Neuordnung des Leistungskatalogs als Reformschritt 1 Ziel: Solidarität erhalten

3.2 Geltungsbereich des Solidarprinzips

Wie in jeder nach dem Umlageprinzip finanzierten Absicherungs-form ergibt sich der Geltungsbereich des Solidarprinzips auch in der GKV aus folgenden vier Faktoren:

• dem Kreis der Leistungsberechtigten

• dem Leistungsrahmen

• dem in der Leistungsgewährung verwendeten Notwendigkeits-begriff und

• dem Ausgabenvolumen

Historisch gesehen wurde das heutige Absicherungsniveau in der GKV durch eine immer weiter greifende gesetzliche Gestaltung der vier Faktoren in etwa der genannten Reihenfolge, gewisser-maßen in mehreren Durchgängen, nach oben geschraubt:

Der Kreis der Leistungsberechtigten wurde von anfänglich weni-ger als 10 % der Bevölkerung durch die sukzessive Einbindung verschiedener Berufsgruppen, der Familienmitglieder der Versi-cherungsnehmer, der Rentner, Studenten, Künstler etc. auf heute rund 90 % der Bevölkerung ausgedehnt.

Der Leistungsrahmen wurde stetig erweitert, jedoch nur selten, wie etwa im GRG 1989, auch z. T. gekürzt. Entscheidend ist hier-bei jedoch weniger die Summe einzelner Ergänzungen, sondern der grundsätzliche Wandel der Aufgabenstellung der GKV, in der medizinische Sachleistungen ursprünglich nahezu ausschließlich der beschleunigten Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit (und damit der Verkürzung der Krankengeldzahlung) dienten, hin zum nunmehr seit 1989 gesetzlich gefaßten Auftrag, ,,die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Ge-sundheitszustand zu bessern" (§ 1 SGB V), d. h. Sorge für die Gesundheit im allgemeinen zu tragen.

Im Zuge dieser Richtungsänderung hat sich zweifelsohne auch die Auslegung des medizinischen Notwendigkeitsbegriffes in der GKV gewandelt. Wurden die Beschwerden eines Patienten früher strikt im Hinblick auf deren ursächlichen Zusammenhang mit der Beschäftigung und deren konkrete Beeinträchtigung der Arbeits-fähigkeit beurteilt, so haben die Versicherten heute Anspruch auf eine Behandlung, die sich ausschließlich an dem orientiert, was die Medizin im Hinblick auf die vorliegende Erkrankung an währten oder hinreichend erforschten Therapiemöglichkeiten be-reithält. Das ansteigende Ausgabenniveau der GKV wurde über lange Zeit als Resultante akzeptiert, wenn auch begleitet von Kor-rekturen im Hinblick auf die im Zusammenhang mit dem Lei-stungsrahmen geltenden Vergütungsformen.

Soweit erscheint der Geltungsbereich des Solidarprinzips im We-ge regulierender GesetzWe-gebung durchaus zielkonform definierbar.

Die komplexe Wechselwirkung der vier Faktoren erschließt sich jedoch erst, wenn von seiten der Politik versucht wird, alle vier Dimensionen gleichzeitig zu steuern. Dies wird in Abbildung 3 schematisch dargestellt.

Abb. 3

Geltungsbereich des Solidarprinzips:

Aktionsparameter, Ergebnisparameter und Verflechtung der sozialpolitischen medizinischen und ökonomischen Perspektive

ex ante definiert:

Leistungsrahmen (inkl. Vergütungsregelung)

berechtigter Personenkreis

Cf[::·

Notwendigkeitsbegritt

abgesicherte Risiken Indikationsstellung

Ausgabenvolumen +

Ressourcenverfügbarkeit

Quelle: Eigene Darstellung

In den vier interdependenten Feldern sind die genannten Fakto-ren einerseits als Aktionsparameter der Sozialpolitik (oben im Feld), andererseits als Ergebnisparameter (in kursiver Schrift un-ten im Feld) dargestellt. Während die Aktionsparameter von der Politik zur Einflußnahme auf die Reichweite des Solidarprinzips beabsichtigt verändert werden können, stellen sich die Ausprä-gungen der Ergebnisparameter u. U. als unbeabsichtigtes Er-gebnis der Wechselwirkungen zwischen den Feldern ein. Ihre Gestaltungsabsicht kann die Politik selbst nur in Grenzen umset-zen, denn per Gesetz können nur die institutionellen Rahmenbe-dingungen für das Verhalten der Wirtschaftssubjekte im Gesund-heitssystem abgesteckt werden.

Problematisch ist dabei insbesondere die Querachse, d. h. die Wechselwirkung zwischen dem unbestimmten Rechtsbegriff des Notwendigen und der Bedeutung seiner Auslegung für den Um-fang der konkret abgesicherten Risiken. Beides korrespondiert eng mit der Definition des Leistungskataloges. Das sozialpoliti-sche Interesse daran, welche Risiken im einzelnen abgesichert werden sollten, kommt in der Formulierung des Leistungskatalogs zum Ausdruck. Abgesehen von Ausnahmen mit z. T. enorm de-taillierten Regelungen (vgl. z. B. § 30 SGB in der Fassung

d. 2 NOG) präsentiert der gesetzliche Leistungskatalog aber eher grobe Umrisse, wie z. B. ,,die Versicherten haben Anspruch auf Krankenbehandlung . .. [diese] umfaßt ärztliche Behandlung ...

Krankenhausbehandlung ... " (§ 27 SGB V), die z. B. durch die Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen oder durch Satzungsregelungen der Krankenkassen nähere Bestim-mung erfahren. Zur Konkretisierung des Leistungsanspruchs bzw.

zur Abrechnung einer Leistung zu Lasten der GKV kommt es je-doch nur nach einer Prüfung, ob die konkrete gesundheitliche Situation eines Patienten im einzelnen eine Leistung rechtfertigt, welche sich unter eine Anspruchsdefinition bzw. einen Abrech-nungstatbestand der GKV subsumieren läßt. Diese Prüfung liegt jedoch weitestgehend in den Händen der Leistungsanbieter, de-ren Handeln u. a. auch der ökonomischen Anreizwirkung des je-weiligen Vergütungssystems unterliegt1s.

Welcher Ressourcenintensität es bedarf, um einen bestimmten Personenkreis ausreichend gegen ein Krankheitsrisiko in wün-schenswertem Umfang abzusichern, ergibt sich somit im wesent-lichen aus der Summe der individuellen Handlungsweisen auf Leistungserbringerseite im Umgang mit den an sie herangetrage-nen Anfragen und Affektioherangetrage-nen. Die Ressourcenintensität der Ver-sorgung wird somit entscheidend durch die Indikationsstellungen und deren Ausführungsmodalitäten im Behandlungsprozeß be-stimmt.

Das solidarisch abzusichernde Krankheitsrisiko bezieht sich auf die finanzielle Implikation derjenigen medizinischen Versorgungs-prozesse, die bei einer gegebenen gesundheitlichen Beeinträch-tigung als unerläßlich angesehen werden. Das Risikopotential steigt folglich in Abhängigkeit vom Ressourcenverbrauch der Medizin, sei es aus Gründen ineffizienter Organisation oder auf-grund der steten Weiterentwicklung der medizinischen Hand-lungsmöglichkeiten.

Da historisch gesehen vor allem die drei Faktoren Definition des Personenkreises, Definition des Leistungsrahmens und ein (zu-nehmend erweiterter) Notwendigkeitsbegriff die Wertigkeit des Solidarprinzips bestimmt haben, mußte der vierte Faktor, nämlich

75 Fiedler E. Optimale Ressourcennutzung im Spannungsfeld von ambulan-ter und stationärer Versorgung. KBV-Kontext Heft 5, 1997: 15-26

das zur Verfügung gestellte Ressourcenvolumen, in der Regel als variables Residuum angesehen werden.

Wird nun aber vor dem Hintergrund der Erfahrung, daß die Anfor-derungen an die Ressourcenverfügbarkeit keineswegs ex ante definierbar, sondern im wesentlichen Ergebnis des Verhaltens der Leistungsanbieter sind, das Ausgabenvolumen der GKV admini-strativ begrenzt, so wird schließlich der Umfang der abgesicher-ten Risiken zum variablen Residuum. Soweit einzelwirtschaftliche Rationalität das Verhalten der Leistungsanbieter bestimmt, darf aufgrund einer Ausgabenbudgetierung keine grundsätzliche Ver-haltensänderung auf der Leistungserbringerseite erwartet wer-den, allenfalls eine Richtungsänderung prinzipiell unveränderter Verhaltensmuster: Anstatt bei gegebenem Honorar ihre Menge anzupassen, werden sie nun die Menge oder Qualität einem ge-gebenem Ressourcenvolumen anpassen.

Die Ursachen der bisherigen Ausgabensteigerungen, nämlich die Erwartungen und die aufgrund des medizinisch-technischen Fort-schritts sogar steigenden Ansprüche der Solidargemeinschaft in bezug auf die Zugänglichkeit eines prinzipiell zugesagten Lei-stungsrahmens, wirken somit unverändert weiter. Diese Span-nung wird folglich auf das Feld der Indikationsstellung verlagert.

Dort muß das Problem konkurrierender Anrechte der Mitglieder der Solidargemeinschaft auf Zuwendungen aus dem gemeinsa-men Ressourcenvolugemeinsa-men gelöst werden. Die Bewältigung dieser Frage entscheidet über die faktische Tragweite und die praktische Bedeutung des Solidarprinzips.

Dabei besteht das Problem in der Spannung, die der unbestimm-te Rechtsbegriff der (medizinischen) Notwendigkeit erzeugt. So ist z. B. der gedankliche Bezugspunkt bei Arzthaftungsfragen ein von der ökonomischen Realität abstrahierter Behandlungsverlauf nach dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Hierbei handelt es sich, wie in der Erwartung der Versicherten, um das Maxi-malprinzip des Notwendigen. Andererseits ist Notwendigkeit kei-ne naturgesetzliche Konstante, sondern ergibt sich aus eikei-nem breiten Spektrum unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten und Verhaltensweisen, dessen „allgemein anerkannter" Kern bei Streitigkeiten jeweils im einzelnen von neuem normativ bestimmt werden muß. Die situative Bedingtheit der Notwendigkeit hat im Alltag der Versorgung zur Folge, daß unter restriktiven ökonomi-schen Bedingungen der Bezugspunkt medizinischer

Notwendig-keit bei gleichbleibendem Leistungsrahmen im praktischen Han-deln der Ärzte schleichend nach unten korrigiert wird. Für den einzelnen heißt dies, daß der im Leistungsrahmen definierte An-spruch im Extremfall nur noch mit einer groben Wahrscheinlich-keit konkretisierbar ist. Das gleichermaßen krasse wie bekannte Beispiel hierfür dürfte der Zugang zur Dialysebehandlung in Großbritannien sein, der einigen Patientengruppen trotz anders-lautender Definition des Leistungsrahmens de facto nicht mehr offensteht.

Eine Politik, die gleichermaßen bemüht ist, das sozialpolitisch ak-zeptable Ausgabenvolumen administrativ vorzugeben und gleich-zeitig elementare Risiken solidarisch abgesichert zu wissen, müßte folglich den Leistungsrahmen in idealer Weise so anpas-sen, daß die verfügbaren Ressourcen optimal ausgenutzt wer-den. Dies würde jedoch Kenntnis über mindestens drei Dinge voraussetzen: Zum einen wäre eine Einigung darüber erforder-lich, was elementare Risiken sind und wie diese in pragmatischer Weise von Verzichtbarem abgegrenzt werden können. Zum ande-ren müßte das Verhalten der Leistungsanbieter als Reaktion auf die konkrete Anreizstruktur im Hinblick auf das Behandlungser-gebnis prognostizierbar sein. Eine Erfolgsbeurteilung der Korrek-tur des Leistungsrahmens kann schließlich nicht erfolgen, ohne die Risikostruktur im Versichertenklientel zu kennen. Es deutet sich an, wie grob das Instrument einer Anpassung des Leistungs-rahmens im Hinblick auf die von der Politik selbst gewählte Ziel-setzung ist. Damit stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit die Politik überhaupt die geeignete Handlungsebene zur Lösung der Frage ist.

3.3 Geltungsbereich der Solidarität - Gestaltungsoptionen

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