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[4.10] Gedächtnis und Gehirnstrukturen

Im Dokument Grundlagen der Psychologie (Seite 89-92)

[4.10.1] Gedächtnis und Kleinhirn

Das assoziative Lernen wie es in der Kopplung von natürlichem und neutralem Reiz (US-CS) bei der Konditionierung vorkommt, ist vielleicht das wichtigste Lernschema der Lebewesen. Was und wo sind die organischen Grundlagen hierfür? Zur Klärung dieser Frage hat der Bio-psychologe Richard Thompson mehrere Experimente mit Kaninchen durchgeführt. Dabei wurde der Lidschlussreflex, der natürlicher Weise durch einen Luftstoß ausgelöst wird, auf ein akustisches Signal konditioniert. Um die elektrische Aktivität bestimmter, umgrenzter Neuronen-bereiche zu messen, entwickelten Thompson und Mitarbeiter ein miniaturisiertes Steuerungs-system, mit dem Mikroelektroden ins Gehirn geschoben werden konnten. Außerdem konnten mit dem Gerät gezielt kleine, umgrenzte Neuronenbereiche zerstört und die Auswirkungen dieser Läsionen auf das Lernverhalten beobachtet werden.

Als Bildungsort der Gedächtnisspur für die konditionierte Lidschlussreaktion erwies sich ein be-stimmter Bereich in der Tiefe des Kleinhirns, der so genannte Nucleus interpositus. Für sich allein genommen steigern Ton-CS und Luftstoß-US die Menge der Aktionspotentiale dieser Nervenzellen kaum. Wenn man jedoch die beiden Stimuli koppelt und das Tier lernt, so feuern die Nervenzellen stärker und erzeugen ein neuronales Aktivitätsmuster anhand dessen sich Zeitverlauf und Intensität der konditionierten Lidschlussreaktion vorhersagen lassen.

In weiteren Experimenten zeigte Thompson, dass durch Zerstörung des vorderen Teiles des Nucleus interpositus im Kleinhirn eine bereits gebildete Erinnerungsspur vollständig gelöscht wurde und neue Konditionierungen auch nicht mehr möglich waren. Damit war der erste schlüssige Nachweis des Sitzes einer Langzeit-Gedächtnisspur im Säugerhirn gelungen.

Durch Aktivierung entsprechender Stellen in den motorischen Gebieten der Kleinhirnrinde kann jedwede diskrete Bewegung in Gang gesetzt werden (die Bewegung von Gliedmaßen, die Drehung des Kopfes, usw.). Diese Bewegungen lassen sich alle durch Training an einen beliebigen neutralen Reiz (z.B. Ton oder Licht) koppeln. Dadurch ist die Grundlage für das Erlernen elementarer motorischer Fertigkeiten festgelegt. Das Kleinhirn spielt somit eine wesentliche Rolle beim Erlernen und beim Speichern motorischer Fertigkeiten (Automatismen).

[4.10.2] Gedächtnis und Mandelkern

Nicht nur einzelne motorische Reaktionen können im klassischen Sinne konditioniert werden, sondern auch emotionale Reaktionen. Der Neurobiologe Michael Davis und sein Team unter-suchten dazu die Konditionierung der Furchtreaktion. Ein anderes Forscherteam unter der Leitung von Joseph LeDoux untersuchte ebenfalls das Erlernen von Furchtverhalten.

Natürlicherweise reagiert ein Individuum auf einen plötzlichen, lauten akustischen Reiz (US) mit Furcht (R), deren Stärke indirekt an Puls, Blutdruck und an der muskulären Erstarrung (startle) gemessen wird. Wenn man den auditiven Schreckreiz mit einem neutralen Lichtreiz (CS) koppelt, dann kann die Furchtreaktion konditioniert werden, d.h. die Furchtreaktion wird durch Lichtreize ausgelöst. Aus der Verknüpfung (US – R) ist die Verknüpfung (CS – R) geworden.

Das Ergebnis dieser Forschungen war die Aufklärung des entsprechenden Hirnschaltkreises und die Erkenntnis, dass der so genannte Mandelkern (Amygdala) an der Basis des Großhirns auf der unteren Innenseite des Schläfenlappens eine ganz wesentliche Rolle bei der Gedächtnis-speicherung spielt. Schädigungen in diesem Neuronenbereich bewirken, dass keine Furcht erworben werden kann.

Michael Davis brachte während der Furchtkonditionierung die chemische Substanz AP5 (engl.

D-2-amino-5-phosphonopentanoic-acid) in den Mandelkern. AP5 ist ein spezifischer Glutamat-Antagonist, welcher die Membranrezeptoren vom NMDA-Typ blockiert. Er verhindert also die Transmittereinwirkung an den Neuronen des Mandelkerns. Das Resultat ist, dass der Erwerb der Furcht auf optische und akustische konditionelle Reize vollständig unterbunden wird. Wichtig ist der Zeitpunkt der Ausschaltung des Mandelkerns. Erfolgt sie während oder unmittelbar nach dem Lernvorgang, so geht das Furchtgedächtnis immer verloren; doch setzt man die Läsion oder Blockierung einige Tage später, dann wird die Furchterinnerung kaum beeinflusst. Diese Er-kenntnis ist von größter Wichtigkeit, denn sie zeigt, dass die permanente Langzeitgedächtnisspur für erlernte Furcht sich nicht nur im Mandelkern, sondern auch anderswo befinden muss.

Jedenfalls zeigen die beschriebenen Versuche, dass im Mandelkern die Bildung der Gedächtnis-spur für erlernte Furcht ihren Anfang nimmt und der Mandelkern daher für die spätere Furcht-erinnerung unentbehrlich ist.

[4.10.3] Gedächtnis und Hippocampus

Der Hippocampus ist so wie der Mandelkern ein Teil des limbischen Systems an der Basis des Großhirns. Der Hippocampus hat eine überragende Stellung als jene Hirnstruktur erlangt, welche bei Säugetieren speziell für das mittelfristige Arbeitsgedächtnis und die Überführung in das Langzeitgedächtnis (Konsolidierung) zuständig ist.

Der Anstoß für das Interesse an den Gedächtnisfunktionen des Hippocampus waren die Folgen eines gehirnchirurgischen Eingriffes an dem mittlerweile berühmten Patienten H.M. (in der klinischen Literatur gibt man zum Schutze der Privatsphäre des Patienten nur die Initialen eines Pseudonyms an). Bei H.M. wurden in beiden Hirnhälften Bereiche des Schläfenlappens ein-schließlich des Hippocampus sowie Teile des Mandelkerns entfernt, um seine schweren, lebens-bedrohenden Epilepsieanfälle zu beseitigen. Die Operation milderte zwar die Stärke der Epilepsie erheblich, wirkte sich jedoch ungünstig auf die Gedächtnisleistung aus. Die Fähigkeit, neue Informationen und Erfahrungen aus dem aktuellen Arbeitsgedächtnis in das Langzeit-gedächtnis abzuspeichern, wurde durch die Entfernung des Hippocampus sehr stark gestört. Alte, jahrelang zurückliegende Erinnerungen konnte H.M. reproduzieren, seine Intelligenz war über-durchschnittlich und auch das prozedurale Lernen von motorischen Fertigkeiten funktionierte fehlerlos. Auch das eigentliche Kurzzeitgedächtnis arbeitete völlig normal, sodass er sich neue Telefonnummern lange genug merken konnte, um sie so gut wie jeder andere Mensch zu wählen.

Jedoch gelang es H.M. nicht diese Zahlen im Langzeitspeicher bleibend abzulegen. H.M. lebte in einer immerwährenden Gegenwart. Der Transfer von Informationen aus dem Arbeitsgedächt-nis in das LangzeitgedächtArbeitsgedächt-nis war unmöglich.

Aus dem Krankheitsfall von H.M. und auch aus ähnlichen Fällen folgt eindeutig, dass der Hippocampus eine wesentliche Rolle bei der Bildung von Gedächtnisspuren spielt, er jedoch nicht jener Ort allein ist, wo diese Spuren permanent abgespeichert sind. Offenbar erfolgt die Langzeitspeicherung in verschiedenen im Gehirn verteilten Regionen.

[4.10.4] Gedächtnis und Großhirnrinde

Schädigungen an den visuellen und auditiven Assoziationsfeldern der Großhirnrinde (Cortex) führen bei Menschen und Affen zu erheblichen Störungen von Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis.

Eine umschriebene Region des Stirnlappens (Sulcus principalis), die vor den motorischen Feldern liegt, dürfte für das Arbeitsgedächtnis ebenfalls von entscheidender Bedeutung sein.

Das visuelle Arbeitsgedächtnis stützt sich vor allem auf die höheren optischen Assoziations-areale im hinteren, oberen Schläfenlappen. Mithilfe des PET-Scanners (Positronen-Emissions-Tomographen) konnten deutlich erhöhte Aktivitäten dieser Felder bei entsprechenden Lernauf-gaben registriert werden. Das Arbeitsgedächtnis scheint ein Spezialgebiet der Großhirnrinde zu sein. Wo in der Großhirnrinde eine permanente Langzeitspeicherung stattfindet, ist noch Gegen-stand der Forschung.

[4.10.5] Mechanismen der Langzeitspeicherung (Konsolidierung)

Die den Bewusstseinsinhalten zu Grunde liegenden elektrochemischen Erregungsvorgänge im Gehirn bilden die Basis für das Arbeitsgedächtnis, welches flüchtig und vorübergehend ist. Gut gelernte Langzeiterinnerungen sind jedoch von Dauer. Also müssen bleibende Veränderungen irgendwelcher Art im Nervensystem stattgefunden haben.

Wie Eric Kandel und seine Mitarbeiter herausfanden, führt bei der Meeresschnecke (Aplysia) die klassische Konditionierung des Kiemenrückziehreflexes zu deutlichen und messbaren Verän-derungen an der Synapse zwischen sensorischer und motorischer Nervenzelle. Alle diese Ver-änderungen werden als synaptische Verstärkungen bezeichnet. Dabei erhöht sich die Anzahl der Synapsen auf den Dornen der Dendriten. Auch die Anzahl der Transmitterbläschen und der Rezeptormoleküle nimmt zu.

Müssen Gene aktiv werden, um die Struktur zu ändern? Geht also Gedächtnisbildung mit einer veränderten Genexpression von Proteinen in Nervenzellen einher? Proteine sind die Bausteine aller Zellen - und somit auch der Synapsen. Bestimmte Substanzen blockieren die Protein-synthese, beispielsweise das Antibiotikum Puromycin. In sorgfältigen Untersuchungen brachte Bernard Agranoff von der Universität von Michigan Goldfischen einfache Verhaltensweisen bei und spritzte ihnen dann Puromycin direkt ins Gehirn. Die Ergebnisse waren beeindruckend.

Injizierte er die Substanz innerhalb von 30 Minuten nach dem Training, so ging die Erinnerung verloren. Spritzte er Puromycin unmittelbar vor dem Training, so lernten die Tiere anfangs, doch blieb die nachfolgende Erinnerung aus. Aus solchen Experimenten folgt, dass das Kurzzeit-gedächtnis ohne Proteinsynthese auskommt, das LangzeitKurzzeit-gedächtnis hingegen nicht.

Wie funktioniert diese synaptische Plastizität als Grundlage der Langzeitspeicherung? Bei der Verarbeitung von äußeren Reizen werden zunächst Nervenzellen durch einen First Messenger - einen Neurotransmitter (z.B. Glutamat) oder einen Neuromodulator (z.B. Serotonin) - innerhalb von wenigen Millisekunden erregt. Durch einen aktivierten Second Messenger (z.B. Kalzium oder cAMP = cyklisches Adenosin Mono Phoshat) werden intrazelluläre Prozesse innerhalb von Sekunden eingeleitet, die dann Third Messenger (z.B. CREB = cAMP Response Element Binding Protein) im Zellplasma aktivieren. Die durch CREB ausgelöste Genaktivierung (Genom oder Epigenom) bezieht den Zellkern mit ein, erstreckt sich über Stunden und Tage, führt zu einer Produktion von Proteinen und setzt weitere zelluläre Effekte in Gang (z.B. Prozesse der Wachs-tumsdifferenzierung). Dadurch werden neue Synapsen gebildet. Welche Lernerfahrungen der Organismus auch immer macht, so funktioniert der molekulare Ablauf - sowohl bei der Gedächt-nisbildung, als auch im psychotherapeutischen Behandlungsprozess bei der Überschreibung und Änderung von unerwünschten Erfahrungsinhalten. Dabei gibt es viele biochemische Mitspieler.

Ein Beispiel hierfür ist der Einfluss des Wachstumsfaktors Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF) auf die Synapsenbildung: BDNF wirkt auf das CREB, das die entsprechende Protein-synthese auslöst. BDNF ist wichtig für die Synapsenbildung und für die Bildung von neuen Nervenzellen (Neurogenese) vor allem im Hippocampus und Neocortex. Ein Mangel an BDNF steht im Zusammenhang mit zahlreichen psychischen Störungen. BDNF wird hinauf- und hinab-reguliert durch Neuromodulatoren wie Serotonin, aber auch durch Glukocorticoide wie Cortisol.

Im Dokument Grundlagen der Psychologie (Seite 89-92)