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[3.2] Akute und chronische Schmerzen

Im Dokument Grundlagen der Psychologie (Seite 78-81)

Der Schmerz ist ein lebenswichtiges Signal und ein wesentlicher Bestandteil der organischen Selbstregulation. Er zwingt den Menschen dazu, sich seiner Körperwahrnehmung zuzuwenden, um herauszufinden was nicht stimmt und etwas zu unternehmen, um weitere Schädigungen abzuwenden. Bei Fortbestehen der Ursachen wird aus dem akuten ein chronischer Schmerz.

Ein akuter Schmerz beginnt mit einer intensiven Reizung von freien Nervenendigungen im Gewebe. Diese Schmerzrezeptoren (Nocizeptoren, Noxa = Schaden) befinden sich in der Haut, im Bindegewebe, in den Muskeln, Gelenken und Eingeweiden. Sie haben eine relativ hohe Erregungsschwelle und reagieren praktisch nur auf gewebsschädigende Reize (Noxen). Die elektrochemische Erregung wird vom Rezeptor zunächst zum Rückenmark geleitet. Zwei verschiedene Leitungssysteme stehen dafür zur Verfügung: ein schnelles und ein langsames.

Die schnellen, von einer Markscheide (Myelin) umgebenen Fasern heißen A-Delta-Fasern. Ihre Leitungsgeschwindigkeit beträgt 20 m/sec und sie leiten stechende, gut lokalisierbare Schmer-zen. Die langsamen, dünnen und marklosen Fasern heißen C-Fasern. Ihre Erregungsgeschwin-digkeit beträgt ca. 1 m/sec. Sie leiten dumpfe, schlecht lokalisierbare Schmerzen. Beide Faser-bahnen münden in einen umgrenzten Bereich der Hinterhörner in das Rückenmark (Substantia gelatinosa). Die präsynaptischen Enden der primären sensorischen Schmerzneuronen, welche mit den Nociceptoren verbunden sind, verwenden zur synaptischen Signalübertragung Glutamat als Neurotransmitter und eine so genannte Substanz P als Modulator. Die im Rückenmark befind-lichen Zwischenneuronen leiten die Signale in aufsteigenden Bahnen weiter zum Gehirn. Im Hirnstamm liegen Schaltstellen in der Formatio reticularis. Ab hier teilen sich die Wege. Die schnelle Schmerzbahn zieht direkt weiter zu zwei Kernen im Thalamus (Nucleus ventrobasalis und Nucleus posterior). Gemeinsam mit dem sensorischen Signalsystem erfolgt die Weiter-leitung zur Großhirnrinde. Dort kommt es dann zur bewussten Schmerzempfindung.

Langsame Schmerzbahnen ziehen von der Formatio reticularis im Hirnstamm zum zentralen Höhlengrau des Zwischenhirns und weiter zum Hypothalamus. Von hier aus erfolgen Umschal-tungen zum Thalamus und zum limbischen System.

Diese übergeordneten Regionen des langsamen Schmerzsystems (vor allem der insuläre und cinguläre Cortex) sind wesentlich beteiligt an den emotionalen und motivationalen Aspekten des Schmerzes. Sie bilden die Grundlage der Schmerzerfahrung, des Schmerzverhaltens und des Schmerzgedächtnisses.

Neben den beschriebenen aufsteigenden Bahnen enthält das Schmerzsystem auch absteigende Bahnen, die von der Großhirnrinde über den Hirnstamm bis ins Rückenmark führen. Sie leiten Signale, welche der Schmerzhemmung und der Schmerzkontrolle dienen. Diese Hemmung erfolgt bereits in der Substantia gelatinosa in den Hinterhörnern des Rückenmarkes. Von den Nervenendigungen der absteigenden Fasern werden mithilfe von Serotonin als Transmitter die Signale auf spinale Zwischenneuronen umgeschaltet, die ihrerseits Hirnopiate (Enkephaline und Endorphine) produzieren. Diese wirken über Opiat-Rezeptoren auf die primären sensorischen Schmerzneuronen. Sie blockieren die Glutamat-Rezeptoren, wodurch es zu einer Hemmung der synaptischen Signalübertragung kommt, was zu einer reduzierten Schmerzweiterleitung führt.

Die Grafik veranschaulicht die aufsteigende Schmerzleitung im Rückenmark und ihre Hemmung durch absteigende Nervenbahnen.

Auf Grund ihrer chemischen Wirkung kann man verschiedene Arten von Schmerzmitteln unter-scheiden. Die nicht narkotischen Schmerzmittel hemmen direkt den lokalen Entzündungs-prozess nach Gewebsverletzungen. Zu dieser Medikamentengruppe gehört beispielsweise die Acetylsalicylsäure (Aspirin).

Narkotische Medikamente sind die Opiate und der Opiumbestandteil Morphin. Ihre anal-getische (schmerzlindernde) Wirkung beruht auf ihrer Bindung an Opiat-Rezeptoren und einer daraus folgenden Unterdrückung neuronaler Aktivität im Zentralnervensystem. Um systemische Nebenwirkungen des Morphins (d.h. Einschränkungen des Bewusstseins) zu vermeiden, kann Morphin auch durch die harte Hirnhaut in den spinalen Liquorraum injiziert werden, um damit gezielt die Opiat-Rezeptoren in der Substantia gelatinosa des Rückenmarkes zu erreichen. Diese Technik wird als epidurale Analgesie bei Operationen angewendet.

Cannabinoide sind chemische Stoffe, die sowohl natürlich in der Hanfpflanze als auch im menschlichen Körper vorkommen. Sie können auch synthetisch erzeugt werden. Im Nerven-system und im ImmunNerven-system gibt es dafür eigene Rezeptoren (CB1, CB2), über welche sie auf den Energiestoffwechsel in den Mitochondrien der Zellen wirken. Von großer Bedeutung sind vor allem zwei Stoffklassen: THC (Anandamid) wirkt psychotrop (stimmungsaufhellend) und CBD (Cannabidiol) wirkt medizinisch (schmerzlindernd, entzündungshemmend, antibakteriell, oxidationshemmend, geschwulsthemmend, übelkeitshemmend, krampflösend, angstlösend, …).

Unter dem Begriff des pathophysiologischen Schmerzes versteht man dreierlei: projizierte, neuralgische und übertragene Schmerzen. Eine akute Reizung innerhalb einer aufsteigenden Nervenleitung führt zur bewussten Schmerzempfindung im peripheren Versorgungsgebiet des Nervens, d.h. zur Verlagerung des Schmerzes von seinem eigentlichen Entstehungsort an den Endpunkt der Nervenleitung (projizierter Schmerz).

Die fortgesetzte Reizung innerhalb einer afferenten Nervenleitung führt zum Auftreten chronischer, anfallsartiger Schmerzzustände, welche ebenfalls in das Versorgungsgebiet des Nervens projiziert werden (neuralgischer Schmerz).

Die Neuriten der Nocizeptoren von bestimmten Hautgebieten strahlen in dieselben Hinterhorn-Neuronen des Rückenmarkes wie die Neuriten der Nocizeptoren von bestimmten inneren Organen. Weil das Gehirn durch die Sinneswahrnehmung gelernt hat, dass die Reize von außen kommen, werden die Schmerzsignale aus den Eingeweiden als Schmerzen in der Peripherie (Haut) interpretiert (übertragener Schmerz). Für jedes innere Organ lassen sich typische Hautareale angeben, in welche die Eingeweideschmerzen übertragen werden (z.B. die Innen-seite des linken Armes bei Angina pectoris). Diese Hautareale heißen Headsche Zonen und sind ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel.

Chronische Schmerzen

Im Gegensatz zum akuten Schmerz ist die Warn- und Schutzfunktion bei den chronischen Schmerzen weniger offensichtlich. Beim chronischen Schmerz besteht häufig keine eindeutige Beziehung mehr zwischen dem Ausmaß der spezifischen Organschädigung und der erlebten Schmerzintensität. Chronische Schmerzen verselbständigen sich und werden als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet. Dadurch entstehen zusätzliche psychosoziale Probleme für den Patienten. Der chronische Schmerz und seine Abwehr rückt immer mehr in den Mittelpunkt des Lebens und Erlebens (Schmerzsensibilisierung, Schmerzzentrierung) und andere Bereiche werden an den Rand geschoben. Der Patient zieht sich zurück und verringert seine sozialen Kontakte (Isolation).

Der Teufelskreis chronischer Schmerzen besteht darin, dass sie andauernd über Reflexbögen zu Muskelanspannungen und damit zu Haltungsänderungen führen. Daraus ergeben sich bleibende Verspannungen und Gelenksfehlstellungen. Auch vegetative Komponenten (Stress) spielen eine wichtige Rolle.

Diese physiologische Körpersituation wird bewusst als eine unangenehme, negativ bewertete Emotion erlebt. Tiefe Befindlichkeitsstörungen und Depressionen können sich entwickeln. Die Menschen fühlen sich einsam, niedergeschlagen, hilflos, ängstlich, verzweifelt und hoffnungslos.

Die negative emotionale Stimmungslage bewirkt reaktiv eine weitere Erhöhung der muskulären Verspannung und damit eine Verstärkung der Schmerzen. Der Teufelskreis der chronischen Schmerzzustände hat sich geschlossen.

Parallel zur verspannten und blockierten körperlichen Situation entsteht eine starre kognitiv-emotionale Haltung, die sich einer flexiblen Öffnung zum normalen Leben hin immer mehr ver-schließt und im Kreislauf des Schmerzes fixiert bleibt. Viele Untersuchungen zeigten, dass bei chronischen Polyarthritis-Patienten ablenkende Aktivitäten und Beschäftigungen die Schmerz-wahrnehmung verminderten („Ablenkung schließt das Tor des Schmerzes“). Aus diesen psychosozialen Aspekten heraus ergibt sich auch die Botschaft des chronischen Schmerzes:

„Tu etwas, ändere dein Leben“.

Neben dem medikamentösen Eingriff in den Schmerzkreis (Muskelrelaxantia, Analgetika und Psychopharmaka) hat sich in den letzten Jahren die kognitiv-psychologische Schmerztherapie entwickelt. Mithilfe von Entspannungsübungen, vertiefter Körperwahrnehmung und bildhaften Vorstellungen (Imaginationen) soll die Botschaft des chronischen Schmerzes verstanden und ein innerer Dialog mit ihm geführt werden. Damit ist die Basis für eine Neuorientierung des Lebens gelegt und eine andere innere Einstellung zum Schmerz gewonnen.

Das Schmerzverhalten als ganzheitliches System (d.h. das reaktive Verhalten auf Schmerzreize) ist nicht nur angeboren, sondern wird in der Kindheit erlernt. Wenn ein Kind nur über drama-tische, übertriebene Schmerzäußerungen die Zuwendung der Eltern gewinnen kann, dann wird es lernen, Schmerzen stark zu äußern und auch stark zu erleben (sekundärer Krankheitsgewinn).

Aus der objektiven Nicht-Messbarkeit des individuellen Schmerzerlebnisses ergibt sich die Tat-sache, dass der Arzt gar nichts, der Patient aber alles über seinen Schmerz weiß. Dadurch kann die fachliche Autorität des Arztes in Frage gestellt werden, was mit dem herkömmlichen Selbst-verständnis der meisten Ärzte nur schwer verträglich ist. Daraus wiederum ergibt sich ein Konfliktpotential für das Arzt-Patient-Verhältnis. Am Ende vieler, aber ergebnisloser Behand-lungen stehen verfestigte, fast feindselige Haltungen auf beiden Seiten („Dieser Arzt kann mir nicht mehr helfen, er kassiert nur mehr mein Geld.“ - „Diesem Patienten kann ich nicht mehr helfen, er ist ein Hypochonder und Querulant.“).

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